Enjoy the lightning: Die Synthie-Pop-Stars trotzen Starkregen und Wolkenbruch und geben ein beeindruckendes Konzert.

München (mis) - Man muss sich gar nicht dem Olympiagelände nähern, um zu erahnen, in welcher Größenordnung sich Depeche Mode-Konzerte heutzutage abspielen. Schon am Autobahnkreuz Memmingen, über 100 Kilometer vor den Toren Münchens, überholt mich ein Kleinwagen mit großflächig platzierter "Violator"-Rose am Heck. Fans aus Basel, denen das einzige Schweizer Konzert vor zwei Wochen in Bern offenbar nicht genug war. An der Parkuhr in Schwabing wird man von anderen Konzertbesucherinnen nach Kleingeld angesprochen, später im Biergarten bedient mich eine Servicekraft mit "Memento Mori"-Halstattoo. Auch wenn dies ausnahmsweise wohl keine Anspielung auf den hohen Besuch ist, scheint doch die halbe Stadt auf den Beinen zu sein, um nach sechs Jahren die um Gründungsmitglied Andy Fletcher dezimierten Pop-Legenden noch einmal live zu erleben. Das Olympiastadion ist entsprechend früh bereits gut gefüllt.

Überhaupt umweht diese Tournee eine besondere Abschiedsstimmung - nicht nur weil Fletcher während seines Lieblingssongs "World In My Eyes" großflächig auf den Videoscreens erscheint. Die medial bis ins kleinste Detail ausgeleuchtete Arbeitsatmosphäre am ersten DM-Album in Zweierbesetzung setzte eine neue Harmonie zwischen den beiden Protagonisten Dave Gahan und Martin Gore frei, die sie nun in einem annähernd 80 Konzerte währenden Marathon zelebrieren. Schwer vorstellbar, dass sich die beiden 61-Jährigen in fünf Jahren noch einmal solch einem Kraftakt aussetzen. Daher sind auch 70.000 Zuschauer gekommen, und damit 20.000 mehr als noch 2017. Auch im Pressebereich wird standesgemäß aufgefahren: Das "Memento Mori"-Albumcover im Großformat sowie ein Karton-Gahan begrüßen Journalist*innen, Sponsoren sowie die Münchner Prominenz.

Der echte betritt um kurz vor 21 Uhr die Bühne. Das atmosphärische Wabern namens "My Cosmos Is Mine" sorgt in einer Halle sicherlich für einen knisternden Konzertbeginn, in einem taghellen Stadion verpufft dieser Effekt leider ziemlich. Die Vorfreude des Publikums entlädt sich dennoch und erwartungsgemäß sind die ersten 100 Reihen bei den Evergreens "Walking In My Shoes" und "It's No Good" auf Betriebstemperatur. Wenn sich ein gutes Stadionkonzert dadurch auszeichnet, dass die Setlist nicht nur reich an Höhepunkten ist, sondern diese auch einer stringenten Dramaturgie unterordnet, konnte man sich schon bei den letzten beiden Depeche-Mode-Tourneen zahlreiche Fragen stellen. Auch diesmal erstickt das sublime "Sister Of Night" die gerade entstandene Feierstimmung sofort im Keim. Gahan tänzelt verhalten hinter seinem Mikroständer umher und zwingt die 70.000 Anwesenden allein mit seiner Präsenz zum Zuhören. Auch seine zurückhaltender angelegte Bühnenpersona, die den einst umtriebigen Derwisch als stolzierenden Grandseigneur wirken lassen, fügt sich den Songs wunderbar an. Spätestens als er das aktuelle Balladen-Highlight "Speak To Me" anstimmt, scheint das ganze Stadion die Luft anzuhalten - eine Gabe, die in Stadionkontexten tendenziell weniger ausgeprägt ist.

Selbst Chefkomponist Gore gelingt dies nicht immer: Dem gefeierten 1986er Oldie "A Question Of Lust" folgt sein mit spirituellem Ernst dargebotenes "Soul With Me", für viele eine rare Fluchtgelegenheit für die an gelungenen Konzertabenden nicht minder wichtigen Eckpunkte Getränkenachschub und Toilettengang. So ist man mehr als froh, dass Gahan persönlich unmittelbar danach seinen alten Lehrmeister beklatscht: "The beautiful and angelic voice of Martin L. Gore". Engel, Himmel, Geister: Wichtige Grundpfeiler im lyrischen DM-Universum. Am gestrigen Abend mischt sich auch die Realität ein: Zu "Ghosts Again" zieht das ursprünglich erst für die Nacht prognostizierte Unwetter auf. Über dem Olympiapark geht ein kräftiger Platzregen hernieder, glücklicherweise ohne den in benachbarten Stadtteilen auftretenden Hagel, dafür mit einer knapp zwanzig Minuten langen Reihe an Blitzlicht-Effekten, die dem Abend eine noch intensivere Note verleihen (wenn ich das als Teil des trockenen Tribünenpublikums so formulieren darf).

Auch die Band genießt den Moment und spielt sich zu "I Feel You" beinahe in einen Rausch, "Wrong" und "Stripped" zählen zu den weiteren Favoriten der zweiten Hälfte, während nach wie vor rätselhaft bleibt, warum ausgerechnet "A Pain That I'm Used To" und "John The Revelator" ins Setlist-Finish gepackt wurden. Ihr oft belächelter erster Hit "Just Can't Get Enough" ist allerdings mit Recht im Programm, wie die fulminante Liveversion im Zugabenteil belegt, wo sich Gahan mit derselben Inbrunst in den Pop-Heuler hineinwirft wie 40 Jahre zuvor, während Gore sichtlich konzentriert die immergleichen vier Tasten seines Synthies drückt. "Eeeeee-oooooh": Gegen Ende lässt sich Gahan vom lauten Echo des Chorgesangs aus dem Publikum sogar so weit anstacheln, dass er mehrmals seinen inneren Freddie Mercury mit dessen legendärem Call-and-response-Act channelt.

Zuvor präsentierte das Duo mit "Waiting For The Night" ein weiteres Highlight: Auf dem ins Publikum führenden Steg singen Gahan und Gore gemeinsam zu minimalem Arrangement die zarte Ballade ihres 1990er Hitalbums "Violator" und unterstreichen damit vor allem ihre gemeinsame Beziehung, die sie angesichts von Fletchers Tod neu justieren mussten. Es sind diese Gänsehautmomente, für die zahlreiche Fans die musikalischen Köpfe Gahan und Gore lieben, während Fletcher für seine Fannähe und Mediatorenkünste des schwierigen Band-Kollektivs geschätzt wurde. Sein Platz auf der Bühne wurde nicht neu besetzt und doch war er allgegenwärtig.

Setlist:

Intro
My Cosmos Is Mine
Wagging Tongue
Walking In My Shoes
It's No Good
Sister Of Night
In Your Room
Everything Counts
Precious
Speak To Me
A Question Of Lust
Soul With Me
Ghosts Again
I Feel You
A Pain That I'm Used To
World In My Eyes
Wrong
Stripped
John The Revelator
Enjoy The Silence

Zugaben:

Waiting For The Night
Just Can't Get Enough
Never Let Me Down Again
Personal Jesus

Weitere Tourdaten der "Memento Mori"-Tour:

29.06.2023 Frankfurt, Deutsche Bank Park
01.07.2023 Frankfurt, Deutsche Bank Park
07.07.2023 Berlin, Olympiastadion
09.07.2023 Berlin, Olympiastadion
21.07.2023 Klagenfurt, Wörthersee Stadion

Fotos

Depeche Mode

Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm)

Weiterlesen

Noch keine Kommentare