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Off The Grid

"They can't cancel us all"

Eines der Dinge, die mich am meisten verärgern ist, Kanyes unveränderte Ignoranz, sich mit der Schwere der Anschuldigungen auseinanderzusetzen, die gegenüber den Menschen, die er als Opfer des wütenden Twitter-Mobs ansieht, erhoben werden. Denn natürlich spricht ihn Host N.O.R.E. auf das Thema Cancel-Culture an und natürlich setzt sich Kanye mit Anlauf ins Fettnäpfchen. "I'm above it", sagt er. Vor fünf Jahren schrieb er: "Bill Cosby innocent", jetzt spricht er erneut seinen Support für DaBaby, Dave Chappelle und Marilyn Manson aus. Besonders seine Unterstützung für letzteren ist nach wie vor unverzeihlich und ekelerregend.

Er zweifelt die Glaubwürdigkeit der Anschuldigungen an, stellt sie stattdessen mit dem 'echten' Trauma von Frauen gegenüber, die Nachts in dunkle Gassen gezogen werden. "That's different than a hug but it's classified as the same thing": Nein, ist es verdammt nochmal nicht, und es wäre die Pflicht der Interviewer, da nachzuhaken. Stattdessen sitzen N.O.R.E. und DJ EFN da wie zwei Hühner auf der Stange, die Kanye genau das vorgackern, was er hören will, und ziehen beim kleinsten Anzeichen von Widerstand den Kopf ein.

The Disrespect

Als Drake zum Gesprächsthema wird, schlägt Kanye unerwartet versöhnliche Töne an. "I love Drake" und "This is a very important artist, that added something to the algorhythm", heißt es, ehe er sich mit Mike Tyson vergleicht, der sinnbildlich Drakes Ohr abgebissen habe. An anderer Stelle vergleicht er Drakes Methodik, Disstracks zu schreiben, mit der Kriegsführung Hitlers. Dieser ambivalente Wahnsinn zieht sich durch fast das gesamte Interview und hat zur Folge, dass Ye so gut wie jede namhafte Person in seinem musikalischen Umfeld auf die ein oder andere Art in die Pfanne haut, selbst Kim Kardashian, von der er behauptet, dass sie immer noch seine Frau sei, ist davor nicht sicher.

Ganze zehn Minuten lassen ihn Interviewer N.O.R.E und DJ EFN anschließend über "Donda" und den kreativen Prozess hinter seiner Musik reden, ehe sie ihn eine gefühlte Ewigkeit lang, diverse Gegenüberstellungen von Rappern bewerten lassen. Was zur Folge hat, dass Ye den mitunter wildesten Shit vom Stapel lässt, den man in den letzten Jahren diesbezüglich von ihm zu hören bekam. Soulja Boy bekommt unerwartet sein Hak ("Top 5 most influential"), Talib Kweli watscht er respektlos ab ("Go open a book, read yourself to death") und "Blueprint"-Produzent Just Blaze bezeichnet er als "Copycat" ("He gets credit for 'The Blueprint', and I did the first half of 'The Blueprint', and he just copied my half.")

Am härtesten geht Ye allerdings mit seinem früheren GOOD Music Label-Kollegen Big Sean ins Gericht. Er geht sogar so weit und bezeichnet sein Signing als den größten Fehler seines Lebens ("The worst thing I ever done, was signing Big Sean"), weil er ihn nicht in seinen Ambitionen unterstützte, Präsident zu werden. So wenig ich meist mit Seans Musik auch anfangen kann, so hat er diese Degradierung von jemanden, zu dem er unweigelich sein Leben lang aufblickte, wahrlich nicht verdient. Immerhin lässt ein Twitter-Post des Detroiter Rappers vermuten, dass Kanyes Mundwerk schneller war als sein Verstand und sich die Situation mittlerweile beruhigt zu haben scheint.

Am Ende dieses Interviews bin ich um mehr als zwei Stunden Lebenszeit ärmer und einzig um die Erkenntnis reicher, dass Kanye nach wie vor ein musikalisches Genie im Mantel eines psyschischen kranken Narzissten ist. Ich würde jetzt gerne behaupten, dass ich daraus gelernt habe und mir das nächste Interview sparen werde, weiß aber, dass ich es wohl auch komplett schauen werde, wenn es fünf Stunden lang ist. Ja, mir ist wirklich nicht mehr zu helfen.

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