Ein Leben als Punk-Fan im Jahrzehnt der "Bowie-Young-Americans-Opfer": Wie ein Arbeiterjunge aus Glasgow dank Primal Scream die 80er übersteht.

Glasgow (mis) - Wenn man die erste Seite von "Tenement Kid" (Heyne Hardcore, 528 Seiten, Hardcover, 24 Euro) aufschlägt und einem Lobeshymnen von Warren Ellis und Mark Lanegan entgegen treten, hat man sein Geld gut investiert. Beide Musiker stehen für eine kompromisslose No-Bullshit-Agenda und übertragen Bobby Gillespie somit etwas von ihrem Outsider-Karma, dessen Band Primal Scream trotz Hits in den frühen 90er Jahren immer in erster Linie ein UK-Phänomen geblieben ist. Der im Frühjahr verstorbene Lanegan, der "Tenement Kid" mutmaßlich während seines Krankenhausaufenthalts las, bringt es auf den Punkt: "So einflussreich und inspirierend Bobby Gillespies Musik auch ist, wir wissen jetzt, dass sein Genie auch darin besteht, diese Geschichte zu erzählen und die Geister wiederzubeleben, die die Musik zum Leben erweckt haben."

Diese Geschichte ist vor allem der märchenhafte Aufstieg eines schüchternen Jungen aus der schottischen Arbeiterklasse, der sich zunächst nichts sehnlicher wünscht, als Fußballprofi zu werden, bevor ihn der Rock'n'Roll in Gestalt der 7"-Single "God Save The Queen" der Sex Pistols heimsucht, die er 1977 in John Peels Sendung hört. Ab diesem Moment ist Gillespie nicht mehr derselbe und taucht ein in die Welt der Plattenläden, Fanzines und Rock-Konzerte, die seinen Außenseiterstatus im sozialen Umfeld nur noch steigern. Wie alle guten Geschichten geht seine Story über den persönlichen Lebensweg hinaus und illustriert die gesellschaftlichspolitischen Umstände längst vergangener Zeiten. In seinem Fall der Einfluss des sozialistischen Vaters, dessen Aufstieg vom einfachen Fabrikarbeiter zum westschottischen Gewerkschaftsfunktionär ihm früh darlegt, dass es sich lohnt, für eine Idee zu kämpfen.

Erste Erfolge mit The Jesus & Mary Chain

Die Idee ist bald klar umrissen: Irgendwie ins Musikgeschäft kommen. Dies gelingt ihm schon früh als Roadie von Altered Images, was zu einer ehrfurchtsgebietenden Begegnung mit Siouxsie Sioux führt. Später kommt er als Bassist zur Band The Wake, die sein geliebtes Label Factory Records aus Manchester verpflichtete, und mit der er seine Helden von New Order kennen lernt. Hooky und Co. sind ihm sofort sympathisch, nachdem sie ihre Verstärker selbstlos an die Support-Band verleihen. Zudem erkennt er einen Unterschied zwischen der Band und ihrem Image in der britischen Musikpresse: "Die Leute hatten dieses Bild von New Order als leidgeplagte Existenzialisten, die in Regenmänteln aus den Vierzigern herumliefen und aus deren Taschen Albert-Camus-Romane heruaspurzelten. Barney hatte ein Pornoheft in der Tasche und es war ihm scheißegal. Dafür liebte ich ihn." Die Tournee zum 1983er Album "Power, Corruption And Lies" preist Gillespie als eine seiner besten Live-Erfahrungen. Von New Orders Manager Rob Gretton holt er sich nach einer schüchternen United-Frage zum Small-Talk-Einstieg jedoch einen Rüffel ab: "Verpiss dich! Niemand aus Manchester ist United-Fan. Ich bin City."

Als Supporter und Fan von The Jesus And Mary Chain kommt er unverhofft zu einem Slot als Drummer, nach der Gründung von Primal Scream wird sein Terminkalender dichter, doch Gillespie hätte wohl noch weitergemacht, hätten ihn die Reid-Brüder nicht gezwungen, sich zu entscheiden. Für Gillespie eine bittere Enttäuschung, aber für ihn ist klar, dass er sich selbst als Songwriter verwirklichen will. Mit seiner Vorliebe für Punk-, Psychedelic- und Indie-Rock ist er natürlich grundsätzlich im falschen Jahrzehnt gelandet. Diese Musik gilt - auch in der Musikpresse - als peinlich und das Glasgow der 80er bestand aus "selbst ernennten hippen Leuten, allesamt Bowie-Young-Americans-Opfer, die in furchtbaren Klamotten und mit schlaffen Haarspray-Tollen White-Boy-Funk spielten."

Die Auftritte mit Jesus And Mary Chain beschreibt er als Happenings der Ausgestoßenen, die im Stile von Fußball-Hooligans hauptsächlich zu den Konzerten kommen, um ihre Gewaltfantasien an der Band auszulassen. Rock'n'Roll als Lebenseinstellung und die Idee von Musik als Rebellion - daran klammert sich der junge Bobby mit eiserner Überzeugung fest, obwohl sie jahrelang alles andere als existenzsichernd ist. Seine Zeit mit Primal Scream dient natürlich auch für zahlreiche spannende Anekdoten. Als Mayo Thompson, Produzent des Scream-Debüts "Sonic Flower Groove" später in einem Magazin erzählte, er habe während der Aufnahmen hauptsächlich geschlafen, ledert Gillespie nicht (nur) wütend zurück, sondern blickt auf das große Ganze: "Als ich jünger war, dachte ich, die Leute arbeiten mit dir, weil sie dich und deine Musik gut finden. Ich war naiv. Mayo musste seinen Lebensunterhalt verdienen. Er war geduldig mit uns, aber wir hatten auch das Gefühl, er würde nur einen x-beliebigen Job erledigen. Er war kein Phil Spector, aber ich auch nicht Ronnie Ronette."

Dem "erbärmlichen Zustand" der britischen Indie-Szene entkommt die Band bekanntlich 1990/91 mit dem Hit "Loaded" und dem Album-Meilenstein "Screamadelica". Gillespie erkennt die von ihm so verehrte 60er-Psychedelik nun nicht mehr im Rock, sondern im Dance, genauer gesagt in der aufkommenden Acid-House-Bewegung. Eine Musik mit klarer Revolutionsvorgabe wie einst Punkrock, eine anarchistische Chance mit der Aufforderung: Sei kein Zuschauer, sei ein Schöpfer. Frei nach Malcolm McLaren: "You had to believe in the ruins." Gillespie ist sehr gut darin, seine Überzeugungen zu artikulieren und so stört es den Lesefluss kaum, dass seine monologhaften Ausführungen über Musik als Glaubenssystem, Lebensinhalt oder gar Religion mitunter etwas ausschweifend geraten.

Der 2020 gestorbene, visionäre DJ Andrew Weatherall spielt in seinem Leben und somit auch im Buch eine wichtige Rolle, genauso wie Creation-Records-Boss Alan McGee, mit dem er schon als Schuljunge ein Thin Lizzy-Konzert in Glasgow besucht und der seinerseits mit "Randale, Raves und Ruhm" ein empfehlenswertes Buch vorgelegt hat. Die übleren Drogenabstürze finden sich in McGees Buch, auch weil Gillespies Arbeitsethos ihn letztlich wahrscheinlich öfter vor Schlimmerem bewahrt hat. Dennoch ist er vor allem zu Ecstasy-Hochzeiten alles andere als ein Kostverächter und erinnert sich an einen Tag 1991, als er McGee allen Ernstes vorschlägt, Geld für den Kauf der Grundstoffe für die MDMA-Synthese vorzustrecken. Einfacher Grund: Gitarrist Andrew Innes habe ein abgeschlossenes Chemiestudium und so könne man Ecstasy herstellen und die Tabletten bei Konzerten gratis unter den Fans verteilen. McGee lehnt ab.

"Tenement Kid" ist ein Buch für Musik-Liebhaberinnen, Vinyl-Nerds und (Indie-) Rock-Historiker. Ganz einfach weil Gillespie selbst der Allergrößte ist. Es endet 1991 mit der Veröffentlichung des Albums "Screamadelica", das am selben Tag erscheint wie Nirvanas "Nevermind".

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Bobby Gillespie: Tenement Kid*

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