laut.de-Kritik

Ein 15 Jahre lang unterdrückter Aufschrei.

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Zwei Stunden sperrte er 1964 den jungen Mick Jagger und seinen Kumpel Keith Richards in einen Raum mit dem Auftrag einen Song zu schreiben. Einen Song "mit einer dicken Mauer drumherum, hohen Fenstern und ohne Sex". Heraus kam "As Time Goes By", dummerweise der Titel des bekannten Radiohits aus "Casablanca", also änderte Andrew Loog Oldham ihn um in "As Tears Go By". Den gab der Stones-Manager dann der 18-jährigen Party-Bekanntschaft Marianne Faithfull: damit beginnt für die eben noch einer alleinerziehenden Mutter gehorchenden Schülerin ein langer künstlerischer Leidensweg, der erst nach 15 Jahren mit der Veröffentlichung dieses Albums endet.

Die melancholische Ballade katapultiert Marianne über Nacht in die Charts. Die Öffentlichkeit labt sich an der zerbrechlichen Schönheit, einer langhaarigen Blonden mit Engelsstimme und aristokratisch strengem Ausdruck. Fortan gilt sie als britische Version von Francoise Hardy, eine Folk-Chanteuse mit großer Zukunft, und Loog Oldham, ein "verrückter Kerl mit Lidschatten" (Faithfull), legt sich mächtig für sie ins Zeug. Für Marianne ist er Fluch und Segen in einer Person, bevor ihm Mick Jagger 1967 diesen Job abnimmt. Faithfull hatte nun zwar Sex, fand sich aber emotional auf geisterhaften Wegen stets wieder im alten Oldham'schen Satz: Als einsame Person umringt von dicken Mauern und zu hohen Fenstern.

Weder ihr früher Balladen-Erfolg macht sie glücklich, noch die Geburt ihres Sohnes, weder ihre Heirat mit einem Kunststudenten, noch die spätere Liaison mit dem damals größten Mädchenschwarm der Welt und schon gar nicht dessen Reichtum. Die Tochter einer Österreicherin mit jüdischen Vorfahren (einer von Sacher-Masoch) und eines Walisers braucht Jahrzehnte, um die aus ihrer Kindheit stammenden Komplexe, die Trennung ihrer Eltern und deren Auswirkungen auf eigene Verhaltensweisen zu analysieren, wie sie 1994 in ihren Memoiren ausführt.

Vielen Zeitzeugen gleicht die Geschichte der Sängerin Anfang der 70er einer Flucht aus einer weichgezeichneten Parallelwelt, als kaum verständliche Abkehr von moetgetränkter High Society-Bohème. Doch wie immer gibt es unterschiedliche Perspektiven: Dass Faithfull selbst an der Seite eines der größten Rebellen der damaligen Jugendkultur und Bekämpfer gesellschaftlicher Konventionen auf patriarchalische Machtstrukturen stieß, davon wollte die Öffentlichkeit nichts wissen. Genau so wenig von weiblichen Bedürfnissen hinsichtlich einer ausgewogenen Balance zwischen Beruf und Familie. Als Freundin von Mick Jagger hatte das Leben rosarot zu sein. Selbsthass? Anorexie? Selbst schuld.

"Bei Siegen hat man ihn verdient, bei Niederlagen braucht man ihn": Churchills Satz über Champagner wendet Faithfull bald auf Heroin an und lebt nach der Trennung von Jagger zeitweise tatsächlich auf der Straße. Endlich angekommen in der völligen Anonymität, ohne Telefon und Heimatadresse. Ein Lifestyle, den sie seit Burroughs' "Naked Lunch" heimlich bewundert. Um ihre Autorenschaft des Stones-Songs "Sister Morphine" betrogen, des Sorgerechts für ihren siebenjährigen Sohn enthoben: Die Abwärtsspirale kennt kein Halten.

"Broken English" ist 1979 Rettung und vor allem Rache. Ein 15 Jahre lang unterdrückter Aufschrei. Es ist kein Zufall, dass sie hierfür den Rückenwind der Punk-Bewegung nutzt. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ist sie so lange abgetaucht, dass sogar die Presse auf den jahrelang verwendeten Terminus der "drogensüchtigen Jagger-Ex" verzichtet, Faithfull ist out. So kann sie mit ihrem neuen Ehemann Ben Brierly, Gitarrist der Vibrators, in aller Ruhe an neuen Songs feilen.

Als es dann so weit ist, erkennt niemand mehr das einstige Swinging-Sixties-Starlet. Alkohol, Zigaretten und Drogen wirkten sich auf ihre süße Stimme in einer Weise aus, die den größten Charme von "Broken English" ausmacht. Faithfull krächzt sich förmlich zurück ins Musikgeschehen, nennt Ulrike Meinhof als Vorbild und präsentiert einen Sound, der die Attitüde des Punkrock mit der Melodie des New Wave ("What's The Hurry") vermengt und dezent Disco-Elemente ("Broken English") einarbeitet. Auch wenn viele Songs nicht aus ihrer Feder stammen, beeindruckt die schiere Kraft, mit der die kurzzeitig Rekonvaleszente hier endlich ihre eigenen Geschichten erzählt, von Verlust, Liebe, Hass und gebrochenen Biografien.

Während einige junge Frauen wie die Slits ("Cut") von Frauenrechten singen, feiert die 32-Jährige ihren Weg vom Koma zur Katharsis und geht gleich über in die Praxis. Sie engagiert den kaum bekannten Avantgarde-Regisseur Derek Jarman (der später auch für Pet Shop Boys und The Smiths drehte) für drei Videos und holt sich auch textlich ihre Selbstbestimmung zurück. Im Album-Highlight "Why'd Ya Do It" stellt sie den untreuen Partner mit rüder Wortwahl an den Pranger: "Everytime I see your dick I see her cunt in my bed" oder "Why'd ya do it, she said, why'd you let her suck your cock?" Ins Radio kommt man damit nicht, aber immerhin fallen die Worte auf der Platte eines Majorlabels (Chris Blackwells Island Records).

Dafür verhilft ihr der Titeltrack "Broken English" mit dem federnden Bass und Steve Winwoods Synthies (der einzige 'Stargast' des Albums, den Faithfull akzeptierte) auch zur kommerziellen Wiederauferstehung. Ihre größte Leistung besteht nicht nur darin, dass sie Blackwells Kollabo-Vorschläge (Keith Richards, Sly & Robbie) in den Wind schießt, sondern auch, dass sie die Arrangements minimal gestaltet. Das Entstehungsjahr hört man der Platte heute zwar an, doch die Songs bleiben stark (ähnlich wie bei Grace Jones' "Nightclubbing" zwei Jahre später).

Dem dunklen "Guilt" drückt Winwood einen eisigen Stempel auf, "Brain Drain" ist wundgescheuerter Blues und "Witches Song" Faithfulls Hommage an die emanzipierten Frauen ihres Lebens. Bei "The Ballad Of Lucy Jordan" sind die flackernden Keyboardsounds dann leider zu viel des Guten, aber mit der schneidenden Version des John Lennon-Covers "Working Class Hero", an sich schon eine mutige Wahl, empfiehlt sich die Britin für ihren späteren Weg als Interpretin von Brecht/Weill-Songs.

"Broken English" steht heute in den Geschichtsbüchern als ein Album, das gemeinsam mit Patti Smiths "Horses" von 1975 überhaupt erst eine Vorstellung davon erzeugte, wie weiblicher Alternative-Rock zukünftig klingen könnte. Doch statt sich an diesem Triumph endgültig aus dem Sumpf zu ziehen, verfiel Marianne Faithfull erneut Kokain und Heroin und veröffentlichte erst 1987 mit "Strange Weather" wieder ein gutes Album. Seit den Nullerjahren schreitet die Grand Dame auf goldenen Pfaden und liefert meist mit Unterstützung devoter Fans ihrer Profession durchweg fantastische Platten, von denen "Before The Poison" mit PJ Harvey (2004) und "Negative Capability" (2018) mit Nick Cave als Perlen herausragen.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Broken English
  2. 2. Witches Song
  3. 3. Brain Drain
  4. 4. Guilt
  5. 5. The Ballad Of Lucy Jordan
  6. 6. What's The Hurry
  7. 7. Working Class Hero
  8. 8. Why'd Ya Do It

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