laut.de-Kritik

Traurig, schön, sonnendurchflutet: Alles für Terry Hall.

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Das Cover täuscht: Wie sie da wieder so gutgelaunt dastehen, zwischen Goldbarren und Klorollen, Espressotässchen und Banane schwenkend, im Anzug und mit Sex Pistols-Hoody, nutty und funny bis ins gesegnete Rentenalter. Aber der Spaß hatte sogar bei Madness fast ein Ende. Eine Leitlinie der Londoner Kultband war es stets, das Positive im Leben zu akzentuieren, doch diesbezüglich erwies sich die Pandemie als echte Herausforderung für alle Beteiligten.

Ein Schock für Vordenker und Sänger Suggs, der die Mad-Life-Crisis seiner Gruppe längst überwunden sah, ging doch in den Nullerjahren zunächst Bassist Mark Bedford von Bord, um genau dann zurück zu kehren, als Chas Smash, der tanzende Trompeter, die Biege machte. "You can checkout any time you like, but you can never leave", zitierte er das Kommen und Gehen von Kollegen betreffend gerne achselzuckend die Eagles. Drei Jahre nach dem letzten Album "Can't Touch Us Now" erschien 2019 die beißende Boris Johnson-Watschen "The Bullingdon Boys", danach ging jeder in den Lockdown. "Als wir uns wiedertrafen, wurde es interessant, jeder hatte eine andere Meinung zum Thema, ein Querschnitt der Gesellschaft sozusagen", erzählt Suggs. "Es gab nur schwarz oder weiß, aber weil wir einander schon seit der Schule kennen, hangelten wir uns da raus und fanden einen gemeinsamen Nenner, ohne dem anderen zu sagen: 'Ich habe recht, und du liegst falsch'. Die heutige Gesellschaft tut sich schwer damit, zwei Sichtweisen zu akzeptieren."

Wenn die Welt immer mehr durchdreht, erscheint ein Bandname wie Madness plötzlich seltsam unpassend, was auch Keyboarder Mike Barson aufgefallen ist. Vor allem wenn die Aufnahmen zu "Theatre Of The Absurd Presents C'est La Vie" ausgerechnet dank der Vernunft zustande kamen. Die fortschreitende Polarisierung der Gesellschaft und die von unvorhersehbaren Ereignissen geprägte Gegenwart hievten die Camden-Grandads für ihr insgesamt 13. Studioalbum auf die Theaterbühne. Schaut man das Cover genauer an, sind die dunklen Wolken, die sich über den Darstellern zusammenbrauen, nicht zu übersehen. "Oh it's the cruelest comedy, the actors stumble on with masks but no real plot", setzt Suggs in "Theatre Of The Absurd" den Ton für eine neue Bestandsaufnahme des absurden Kabaretts, das unser Leben ist.

Melancholisch, mit legendärem Barson-Piano und Bläsern angereichert, fühlt man sich sofort wieder umschlungen von den Melodiekönigen. Um den Theaterkontext zu betonen, spricht Martin Freeman kurze Passagen zwischen den Songs. In "If I Go Mad" geben sich Drummer Woody Woodgate und Barson an der Orgel die Klinke in die Hand, bevor das hüftlahme "Baby Burglar" den guten Start verdirbt, da es deutlich zu selbstzufrieden und selbstzitierend ausfällt.

Das grundrelaxte "C'est La Vie", dessen Text Madness vor Veröffentlichung von Helen Mirren lesen ließen, holt auch dank wunderbarem Lee-Thompson-Saxofon die Kohlen gleich wieder aus dem Feuer. Mirrens stimmliche Dramatik passt zu den Zeilen, die ein anderes unschönes Dauer-Thema im Madness-Alltag beschreiben. "Theatre Of The Absurd Presents C'est La Vie" ist Terry Hall gewidmet, dem 2022 gestorbenen Sänger der Specials, mit denen gemeinsam Madness 1979 das Two-Tone-Fieber über Großbritannien entfachten. Hall sei kurz vor Corona bei ihm in die Gegend gezogen, so Suggs, und man habe sich ab und zu im Café getroffen: "Es ist unglaublich traurig, dass so viele Leute nicht mehr da sind. Es ist komisch, ich schaue auf mein Handy und fasse es nicht, dass sie gestorben sind. Ich kann ihre Nummern nicht löschen, weil ich sonst denke, ich lösche ihre Seele."

Den okayen, aber letztlich nur halb spannenden letzten Alben begegnet "Theatre Of The Absurd Presents C'est La Vie" mit stilistischer Vielfalt und alter Songwriting-Brillanz, die zuletzt "The Liberty Of Norton Folgate" aufwies (das ich unfassbarerweise mit 3/5 vom Hof schickte). Eine Ladung Turbo-Ska erwarten von Madness heute nur noch die Ewiggestrigen, alle Unvoreingenommenen knien nieder vor Groove-Heldentaten wie "What On Earth Is It (You Take Me For?)" (mit Thompson am Mikro), das auf dem Level von "Dust Devil" spielt.

"Round We Go" ist klassisch sonnendurchfluteter Madness-Pop, das mit düsterem Lick ausgestattete "Lockdown And Frack Off" ein riesengroßes Album-Highlight, bevor das traurige "Beginners 101" mit geballtem "It Must Be Love"-Verve die Tränendrüsen attackiert. Mit tollen Backgroundchören sowie rockigem Unterton erweitert "Is There Anybody Out There?" das bekannte Sounduniversum und bereitet so in gewisser Weise auf den Synth-Pop-Song "The Law According To Dr. Kippah" vor. Den gebührenden Schluss besorgt das majestätische "In My Street", das es mit den größten Songs der Band aufnehmen kann und deren Liebe zu London und dem Leben im Allgemeinen in einem knappen Vers abbildet: "We moved here so long ago / I can't remember why / It must be 40 odd years now / But don't time fly / When you're having fun".

Sollte diese Platte den Abschied von Madness zelebrieren, dann endet ihre Karriere nicht weniger fulminant als sie begann. Aber wer spricht schon gerne vom Ende - Martin Freeman jedenfalls nicht: "Ladies and gentlemen, this is the end ... of the beginning".

Trackliste

  1. 1. Theatre Of The Absurd
  2. 2. If I Go Mad
  3. 3. Baby Burglar
  4. 4. C'est La Vie
  5. 5. What On Earth Is It (You Take Me For?)
  6. 6. Hour Of Need
  7. 7. Round We Go
  8. 8. Lockdown And Frack Off
  9. 9. Beginners 101
  10. 10. Is There Anybody Out There?
  11. 11. The Law According To Dr. Kippah
  12. 12. Run For Your Life
  13. 13. Set Me Free (Let Me Be)
  14. 14. In My Street

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