laut.de-Kritik

Ganz großer Bahnhof für die beste Rapperin der Welt.

Review von

HOLY FUCKIN' SHIT. Das in etwa schoss einem angesichts des ersten Vorbotens dieses Albums durch den Kopf - in Großbuchstaben. Was zur Hölle hat Little Simz da hingelegt? Die Erwartungen, die nach ihrem gefeierten Vorgängeralbum irgendwo weit oben in den Wolken rangierten, hat sie jedenfalls mit dem ersten Track dieses neuen Projekts bereits überflügelt - und das, obwohl "Introvert" ungefähr alles komplett anders macht als "Grey Area".

Statt der spröden Kargheit, die damals dominierte, herrscht hier - im Sound wie in der bildgewaltigen Video-Inszenierung - pure Opulenz. Wieder steht Produzent Inflo am Ruder. Der allerdings wirft den Minimalismus von einst über Bord und zieht statt dessen alle Register: Fanfaren, Rührtrommeln, Streicher und Chöre marschieren auf, für den ganz großen Bahnhof, und niemand - wirklich niemand - hätte den mehr verdient als Little Simz.

Wie unangestrengt, dabei jederzeit zu einhundert Prozent on point sie durch dieses monumentale Szenario flowt, wirkt derart intensiv und zwingend, es scheint unmöglich, sich davon nicht mitreißen zu lassen. Ihr "I'm a black woman, and I'm a proud one" klingt wie ein Schlachtruf. "... and so it begins", bringt Schauspielerin Emma Corrin (der einen oder dem anderen eventuell als Lady Di aus "The Crown" vertraut) gegen Ende des Tracks mit einer gesprochenen Passage in Erinnerung, dass das erst der Anfang war.

"Sometimes I Might Be Introvert" löst das große Versprechen, das seine Eröffnungsnummer gibt, voll umfänglich ein. Besonders die unmittelbar folgenden Stücke "Woman" (mit Hook von Cleo Sol) oder "Two Worlds Apart" (mit Smokey Robinson-Sample) baden in genau der gleichen souligen Üppigkeit. Gedankenlose Schwelgerei in Nostalgie hat dennoch keine Chance. Viel zu scharfzüngig schneiden Little Simz' Zeilen wieder und wieder durch die melodieselige heile Welt und sprechen gleichermaßen gesellschaftliche Missstände wie ganz private Probleme an, manchmal sogar beides auf einmal.

Wenn Little Simz eine Hymne an die Weiblichkeit, insbesondere ein Loblied auf Women of Color anstimmt, dann klingt eben gar nicht so furchtbar dezent mit, wie verdammt nötig derlei Empowerment auch im Jahr 2021 noch ist. Noch immer brauchen Frauen Unterstützung, Rückendeckung und die Aufforderung "Fear No Man", weil die verrückte Vorstellung, Frauen könnten Männern ebenbürtig sein, eben noch immer nicht in jede Rübe Einzug gehalten hat, leider noch nicht einmal in die jedes Mädchens und jeder Frau. "I get what I want when I want it" dient also zugleich als Selbstbestätigung wie als Motivation.

Musikalisch haut auch "Fear No Man" raus, was nur geht und stürzt seine Hörer*innen in ein flirrend buntes Ton- und Stimmengewimmel mit Percussion-Overload, afrikanischen Call-and-Response-Gesängen, Zwischenrufen und einem quer durchs Bild tänzelnden Bass. Man fühlt sich wie auf einem Straßenfest.

Dem gegenüber stehen deutlich reduziertere Tracks, die an die minimalistische Ästhetik von "Grey Area" anschließen: "Speed" etwa, das viel Raum für Hall und den Rap lässt, das trotz seines Musically-mäßig gejodelten Ausklangs schwer Grime-lastige "Rollin Stone", oder "Point And Kill", das sich auf funky Bass und drüber hinweg klickerklackernde Percussion beschränkt. Ohnehin birgt "Sometimes I Might Be Introvert" eine ganze Menge Funk. Die unerwartetste Kulisse für quakenden Wah-Wah-Sound bilden wahrscheinlich die discoid blinkenden Synthies von "Protect My Energy". Überraschungen hält dieses Album viele parat. Wer zum Teufel rechnet im ruhigen Pianobar-Ambiente von "How Do We Get Here" schon wirklich mit einem ekstatisch jubilierendem Chor?

Der Weg hierher führte durch "The Garden", eins der zahlreich eingeflochtenen Interludes. Ich schätze, wir hören auch hier Emma Corrin, wie sie Lebensweisheiten im Dutzend teilt, merkwürdigerweise ohne dabei wie ein menschlicher Glückskeks zu wirken. Ehe der Wechsel der Instrumentierung nach der Hälfte der Laufzeit den Eindruck erweckt, als sei über beschriebenem Garten nach einem sonnigen, von Harfensaiten wie bunte Schmetterlinge durchflirrten Tag der Mond aufgegangen, lernen wir hier unter anderem die zentrale Lektion dieses Albums: "Be your best friend, not your worst enemy."

Neben den großen Zusammenhängen beschäftigt sich Little Simz diesmal ausgiebig mit sich selbst und ihren privatesten Befindlichkeiten. Sie analysiert familiäre Zusammenhänge, etwa das Verhältnis zu ihrer Schwester ("Miss Understood") oder, noch offensichtlicher, die schwierige Beziehung zu ihrem abwesenden Vater: "I Love You, I Hate You" bringt die Zerrissenheit schon im Titel auf den Punkt. Eine Art inneren Frieden - oder doch wenigstens Ruhe vor unentwegt lodernden Zorn - findet die hin- und hergerissene Tochter am Ende in der Vergebung: "I'm not forgivin' for you, man, I'm forgivin' for me."

Little Simz betrachtet die Welt, ja, aber sie sucht zugleich nach ihrem Platz darin. Sie thematisiert, was um sie herum passiert ("I see sinners in the church"), lässt aber auch an den Prozessen teilhaben, die in ihrem Inneren stattfinden. Überrollt vom eigenen Erfolg stellt sie am Ende die Frage: "How Did You Get Here"? Die Antwort taugt auch wieder, um sie jedem kleinen Mädchen als motivierendes Wandtattoo übers Bett zu kleben, genau wie jedem kleinen Jungen und allen anderen, die im beschränkten Binär-System keine passende Schublade finden: "The key is to have faith in your dreams and never stop chasin' - and you'll make it. Trust."

An diesen Punkt der Erkenntnis muss man aber erst einmal gelangen. "It has been a long road", lässt Little Simz auch daran keinen Zweifel. Das hinterhergeschickte kurze Auflachen kann sie sich aber locker leisten, nach einem Album, das Introspektive und Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse, Rap, Spoken Word und Gesang, Hip Hop, Grime, Soul, Funk und Disco völlig mühelos unter einen Hut bringt.

Wie kann eine Platte wie "Sometimes I Might Be Introvert" überhaupt möglich sein? Wenn auch viele Fragen offen bleiben - darauf hat Little Simz eine Antwort: "They told us: no. We said: yes ... and we keep pushin' on." Das wiederum dürfen wir getrost als Verheißung verstehen. Gut möglich, dass wir soeben der technisch, inhaltlich, lyrisch und musikalisch versiertesten Rapperin zugehört haben, die derzeit auf diesem Planeten wandelt. Sagte ich es schon? HOLY FUCKIN' SHIT.

Trackliste

  1. 1. Introvert
  2. 2. Woman feat. Cleo Sol
  3. 3. Two Worlds Apart
  4. 4. I Love You, I Hate You
  5. 5. Little Q, Pt. 1 (Interlude)
  6. 6. Little Q, Pt. 2
  7. 7. Gems (Interlude)
  8. 8. Speed
  9. 9. Standing Ovation
  10. 10. I See You
  11. 11. The Rapper That Came To Tea (Interlude)
  12. 12. Rollin Stone
  13. 13. Protect My Energy
  14. 14. Never Make Promises (Interlude)
  15. 15. Point And Kill feat. Obongjayar
  16. 16. Fear No Man
  17. 17. The Garden (Interlude)
  18. 18. How Did You Get Here
  19. 19. Miss Understood

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20 Kommentare mit 19 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    Ein weiteres Album aus der Reihe Briten sollten nicht rappen.

  • Vor 2 Jahren

    Das waren sehr gut investierte 24€ in die Doppel-LP.

  • Vor 2 Jahren

    Schönes, sehr rundes, Album. Finde es bei allem Pomp irgendwie ziemlich klassisch gehalten, mich hat es deshalb eher an die Miseducation of Lauryn Hill als an Kanye West erinnert, inhaltlich und vom Konzept-dingens her. Die zahlreichen (stimmigen) skits, die einem trotzdem irgendwann ein bisschen auf die Nerven gehen, nicht zu vergessen :D Aber ich will auch nicht ausschließen, dass bei dem Vergleich ein bisschen der (mittel)alte, weiße Mann aus mir spricht.

    Kein schwacher Track drauf, wegen fehlender Kinnlade-runter-Momente à la Venom tendiere ich diesmal trotzdem eher zu 4 als 5.

    • Vor 2 Jahren

      Bin dich gerade innerlich ziemlich heftig am feiern, dass Du die "Kinnlade zu Boden"-Ratio nicht bloß als inneres Kriterium im Bewertungskatalog pflegst, sondern sie hier auch deutlich angesprochen hast.

      Hat auch bei mir immenses Gewicht, ob ich die 4 oder dann doch auch mal die 5 zücke. Ewig nicht gelesen oder gehört. Geschweige denn erlebt, denn bei Little Simz kann ich zwar Herangehensweise, Ausführung und Endprodukt schon in ein Verhältnis zum alltäglichen internationalen Stangenwaren-Schund setzen...

      ...aber da bewegt mich leider so gar nix in der Musik. :(