laut.de-Kritik

Diese Wundertüte inspirierte Thom Yorke und John Frusciante.

Review von

Könnte ich einen Musiker zurück ins Leben holen, wäre es Jeff Buckley. Solch eine interessante Persönlichkeit mit einer unglaublichen Stimme hat man selten vor sich auf der Bühne. Sicherlich war er sich seiner Wirkung - insbesondere auf seine weiblichen Fans - bewusst. Das schmälert jedoch nicht sein Talent. Jeff Buckley zeigt, dass nicht alles perfekt sein, nicht perfekt klingen muss, um perfekt zu sein. Dennoch verfügt er über eine gewaltige Kontrolle über seine Stimme, mit der er vier Oktaven abdeckt und die Aufmerksamkeit seines Publikums einfordert.

So auch im Juli und August 1993 im kleinen Café Sin-é auf der Lower East Side in New York. In dem späteren Club, der 2007 der Gentrifizierung zum Opfer fiel, war Buckley ein oft wiederkehrender Gast. Die Aufnahmen auf dieser Platte entstanden gerade am Anfang seiner Karriere; "Grace" lag noch etwa ein Jahr in der Zukunft, seine erste EP veröffentlichte er im November. Wie viele der Anwesenden sich wohl bewusst waren, was sie gerade beiwohnen? Urteilt man anhand des Albumcovers, merkten es die wenigsten. Es scheint, als achte niemand auf den schlaksigen jungen Mann im weißen Oversized-Shirt. Ein Mann widmet sich lieber seiner Zeitung, drei weitere Personen sind in ein Gespräch vertieft.

Demgegenüber stehen der Applaus und die begeisterten "Whooo"-Rufe, die zwischen den Songs ertönen. Während der Lieder herrscht weitestgehend Stille; gebanntes Schweigen und Zuhören ist angesagt. Mehr wäre auch gar nicht möglich: Egal, wie sanft Buckley singt, immer füllt er mit seinem Gesang und seiner Präsenz den Raum aus. Nur zu gerne hätte man zusätzlich eine Videoaufnahme der Auftritte, um wie einer der Cafébesucher daran teilzuhaben.

Doch auch so fühlt man sich ihm nahe, so als säße man nur wenige Meter von ihm entfernt auf einem Barhocker. Die Unterhaltungen der Menschen und das Gläserklirren werden wie von einem Pegel heruntergedreht leiser, sobald der 26-jährige Buckley mit Klatschen und Stampfen den Rhythmus von Nina Simones "Be My Husband" (von ihm umgetextet zu "Be Your Husband") vorgibt. Von seiner in manchen Interviews offenbarten Schüchternheit ist nichts zu hören. In seiner Stimme liegt Selbstbewusstsein, ein "ja, ich kann das!". Er legt sich in jede Verzierung Simones und erntet dafür schließlich einigen Applaus. Wenig verwunderlich: Misslungene Cover sucht man auf diesem Album vergebens.

Als er dann seinen Telecaster zückt und die ersten Akkorde von "Lover, You Should've Come Over" anschlägt, breitet sich ein wohlig-warmes Gefühl im ganzen Körper aus. Das Instrument, das seit 2021 im Hause Bellamy wohnt, klingt hell und warm. Den klare Klang verdankt das 1983er Modell seinem Neck-Pickup und der Art, wie die Saiten aufgezogen wurden. Die Gitarre selbst verdankt Buckley seiner guten Freundin Janine Nichols, die ihm den Telecaster schenkte, nachdem man bei ihm eingebrochen und Wertsachen entwendet hatte. Glück im Unglück also, denn so erhielt er seinen treuen Weggefährten. Das führt mich zu einer der Erkenntnisse, die dieses Livealbum liefert: Mehr als Buckley und seinen Telecaster braucht es nicht. Diese Zweisamkeit gibt dem Ganzen eine persönliche, intime Atmosphäre, die die Emotionen so nah wie möglich an den Hörer heranträgt.

Nicht nur das zeigt die Performance auf, sondern auch, wie sich die Texte innerhalb des nächsten Jahres noch entwickelt haben. An der Stelle von "Broken down and hungry for your love / With no way to feed it / Where are you tonight? / Child, ya know how much I need it" steht zum Zeitpunkt der Show noch die etwas ungelenke Strophe "Every inch of me is full of pain / Oh you should've come over / My broken bones can smell the rain / And are aching to recover / And the rain / I wanna come down fast like kisses on your skin" in "Lover, You Should've Come Over".

Dagegen sind "Mojo Pin", "Grace", "Eternal Life" und "Unforgiven (Last Goodbye)" bereits in ihrer finalen Version zu hören. Bei letzterem Song streicht Buckley lediglich das "Unforgiven" aus dem Titel. Spätestens bei "Mojo Pin" stelle ich mir mit jeder Note mehr und mehr die Frage, wieso ich seine Musik in letzter Zeit so aus den Augen verloren habe. Und doch fühle ich mich gleich wieder wie daheim angekommen. Es ist wie mit einem langjährigen Freund, den man nur alle halbe Jahre mal zu Gesicht bekommt, mit dem man aber genau an dem Punkt weitermacht, an dem man das letzte Mal aufgehört hat.

Tauschen wir diesen Gedanken nun aber gegen Buckleys Vorwort zu "Grace" ein. "It's about not feeling so bad about your own mortality when you have true love", erklärt er, was die Romantiker*innen unter uns seufzen lässt. Das dürfte sowieso die primäre Zielgruppe des Singer/Songwriters sein. Hoffnungslose Romantiker*innen und von Schmerz Geplagte, die in seiner Musik ihresgleichen finden.

Buckley bietet jedoch nicht nur Identifikationspunkte für sein Publikum, sondern auch Inspiration für andere Musiker*innen. Bekanntlich half ein Besuch einer seiner Shows Thom Yorke, "Fake Plastic Trees" zu schreiben. In drei Takes nahm er die akustische Version auf, bevor er in Tränen ausbrach. Nicht nur ihm, sondern offenbar auch John Frusciante, half Buckley indirekt beim Schreiben eines Hits. Eine Aussage des Chili Peppers-Gitarristen liefert das Internet nicht, aber das Riff von "Can't Stop" klingt dem von "Eternal Life" zu ähnlich, als dass es sich hierbei um einen Zufall handeln könnte. Die Musikwelt hat Buckley also mehr als seine eigene Musik zu verdanken.

Natürlich hat aber auch er Inspirationen, denen er reichlich Tribut zollt. Aus der Songauswahl geht seine Liebe für Nina Simone, Bob Dylan und Van Morrison hervor, von denen er jeweils mehrere Lieder covert. Was allerdings besonders hervorsticht und seinen Eigenwillen hervorhebt, ist seine Version von "Yeh Jo Halka Saroor Hae". Ein indischer Titel von Nusrat Fateh Ali Khan - diese Langrille ist wahrlich für einige Überraschungen gut. "Er ist mein Elvis, ich höre seine Musik jeden Tag", erzählt er dem Publikum, nachdem ein Zuschauer um ein Cover bittet. Den Mut, einen Song in einer Sprache, die man nur teilweise beherrscht, zu singen, muss man erstmal haben. Und so ist Buckleys Interpretation zwar nicht hundertprozentig authentisch, aber allemal beeindruckend. Das sehen auch die Zuhörer*innen so, die ihm mit kräftigem Applaus Zuspruch geben.

Nicht nur, aber auch das Imperfekte macht diese Aufnahme perfekt. Oft wirken Shows einstudiert und abgespult. Es sind aber gerade die paar falschen Noten am Ende von "If You Knew" oder der zweite Anlauf bei "Calling You", die die LP so persönlich, so nahbar, so schön machen. Dazu tragen in gleichem Maße die zwischen die Songs gestreute Monologe bei. Wer Interviews zu steif findet, aber trotzdem mehr über die Art Buckleys lernen möchte, sollte dieser Wundertüte eines Albums zweieinhalb Stunden seiner Zeit schenken.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Be Your Husband
  2. 2. Lover, You Should've Come Over
  3. 3. Mojo Pin
  4. 4. Monologue - Duane Eddy, Songs For Lovers
  5. 5. Grace
  6. 6. Monologue - Reverb, The Doors
  7. 7. Strange Fruit
  8. 8. Night Flight
  9. 9. If You Knew
  10. 10. Monologue - Fabulous Time For A Guinness
  11. 11. Unforgiven (Last Goodbye)
  12. 12. The Twelfth Of Never
  13. 13. Monologue - Cafe Days
  14. 14. Monologue - Eternal Life
  15. 15. Eternal Life
  16. 16. Just Like A Woman
  17. 17. Monologue - False Start, Apology, Miles Davis
  18. 18. Calling You
  19. 19. Monologue - Nusrat, He's My Elvis
  20. 20. Yeh Jo Holka Saroor Hae
  21. 21. Monologue - I'm A Ridiculous Person
  22. 22. If You See Her, Say Hello
  23. 23. Monologue - Matt Dillon, Hollies, Classic Rock Radio
  24. 24. Dink's Song
  25. 25. Monologue - Musical Chairs
  26. 26. Drown In My Own Tears
  27. 27. Monologue - The Suckiest Water
  28. 28. The Way Young Lovers Do
  29. 29. Monologue - Walk Through Walls
  30. 30. Je N'en Connais Pas La Fin
  31. 31. I Shall Be Released
  32. 32. Sweet Thing
  33. 33. Monologue - Good Night Bill
  34. 34. Hallelujah

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2 Kommentare

  • Vor 3 Monaten

    Hat sein Vater eigentlich einen Meilenstein? Lorca-Goodbye and Hello-Greetings from LA?

  • Vor 3 Monaten

    "Könnte ich einen Musiker zurück ins Leben holen, wäre es Jeff Buckley."

    Da kann ich nur zustimmen! Mir wird schwindlig, wenn ich nur darüber nachdenke, was der noch alles an Meisterwerken hätte veröffentlichen können, der war erst gerade am Anfang seiner Möglichkeiten, es ist tragisch :(

    Seine Engelstimme ist natürlich korrekterweise immer das Thema Nummer 1 aber gerade auch das Songwriting mit seinen besonderen Voicings und den unbeschreiblichen Akkordprogressionen machen mich einfach nur sprachlos.