"Auf den Groove kommt es an!" (Berry Gordy)
Das war der Slogan von Berry Gordy, Songwriter, Produzent und Gründer von Motown Records - dem Label, das den "Sound of Young America" einer breiten Öffentlichkeit nahe bringt. Eine Plattform für schwarze Musiker, sich (endlich) entsprechendes Gehör und den damit verbundenen Erfolg zu verschaffen. Und ein Goldesel für den Firmengründer und ehemaligen Stuckateur, Autopolsterer und Fliegengewichtsboxer Berry Gordy.
12. Januar 1959: Der ehemalige Fließbandarbeiter Berry Gordy kratzt sich mühsam 800 Dollar zusammen und verwirklicht sich einen Traum: Eine Firma zu gründen, die nur seine Lieblingskünstler unter Vertrag nimmt und deren Songs zu Hits trimmt. In einem alten Holzhaus gründet er zunächst seine Plattenfirma Tamla Records. Motown (in Anlehnung an die Autobauerstadt Detroit, die 'Motor Town') hebt er als Schwesterlabel 1960 aus der Taufe.
An Selbstbewusstsein mangelt es dem Visionär nicht und auch ein Name für sein Studio ist schnell gefunden: Hitsville USA. Dass der schwarze Schulabbrecher Gordy mit dieser Entscheidung die Popkultur revolutioniert und dem bis heute unzerstörbaren American Dream-Mythos zu neuer Nahrung verhilft, hätte er sich damals freilich kaum träumen lassen. Sein Erfolgskonzept ist so einfach wie genial: Aktuellen, schwarzen Rhythm'n'Blues mit weißem Pop und jugendfreundlichen Texten vermengen.
Doch wie so oft kommt es auch bei Berry Gordy auf das richtige Timing an: Anfang der 60er Jahre herrscht bei den jungen Leuten in Amerika politische und gesellschaftliche Aufbruchsstimmung, die nur in die entsprechenden Bahnen kanalisiert werden muss. Gordy findet im leichtfüßigen, Handclap-versetzten Soul-Pop seines Labels exakt jene Mixtur, nach der sich die jungen Menschen sehnen. Schnell bekommt das Label den Slogan "The Sound of Young America" verpasst und wird zum Inbegriff für hippe, junge und vor allem schwarze Musik, die auch von weißen Jugendlichen, als Ausdruck ihres gesellschaftlichen Veränderungswillens, gehört wird.
Stevie Wonder, Marvin Gaye, Diana Ross & the Supremes, The Temptations, Smokey Robinson, The Commodores, Lionel Richie, Michael Jackson und die Jackson 5. Diese Namen prägen das musikalische Lebensgefühl einer ganzen Generation. Ihre Stimme, der Motown-Sound (synonym: Detroit Sound), inspiriert unterdessen den Pop, Rock und Soul bis zum heutigen Tag.
Bereits 1961 platziert die Firma erste Hits in den Rhythm & Blues und den weißen US-Charts. 1966, in der Blütezeit von Motown, kommen 36 von 100 amerikanischen Hitsingles aus den Studios am Detroiter Grand Boulevard. Während dieser Zeit arbeiten mehrere konkurrierende Songschreiber-Teams für Berry Gordy.
In den 70er Jahren verliert das Label mit der Hit-Lizenz jedoch sein Gespür für den Zeitgeist. Man produziert zunehmends am Geschmack der Massen vorbei, während die Vertragskünstlerinnen und -künstler bereits zu anderen Plattenfirmen überwechseln. Gladys Knight, Marvin Gaye, The Jackson Five und Diana Ross trennen sich von Berry Gordy. Der "Sound Of Young America" wird fortan in anderen Studios produziert.
Im Juni 1988 verkauft Gordy sein Label nach jahrelangen Verweigerungen an den Mediengiganten MCA. Fünf Jahre später geht das Label in den Besitz der Polygram-Gruppe über. Ganz verschwunden ist die extrem soulhaltige Mischung aus Detroit jedoch nie wirklich. In den 90er Jahren entdeckt die Musikgemeinde des inzwischen etwas unterkühlten elektronischen Pop die Wärme der alten Aufnahmen wieder.
Der R'n'B stürmt nun die Hitparaden. Der Soul adaptiert dabei die Entwicklungen der elektronischen Popmusik. Sounds, Samples und hochtechnische Produktionsweisen sind wichtige Bestandteile. Stilistisch sind vor allem in den Drumarrangements die Einflüsse von Jungle und Drum'n'Bass erkennbar. Die Ehe dieser technischen, computergestützten Popmusik mit der Wärme des Soul hat damals wie heute das Zeug, die Charts zu stürmen.
Die Idole der 90er und 2000er, die sich musikalisch auf Motown-Aufnahmen beziehen, sind aus zeitgemäßen Popcharts nicht mehr weg zu denken. Destiny's Child, Aaliyah, Alicia Keys, Usher, Mary J. Blige, All Saints, En Vogue, Pussycat Dolls, Beyoncé, Brandy, Ashanti, Seal, Akon, John Legend, Erykah Badu, India Arie und viele andere bestimmen das popmusikalische Geschehen bedeutend mit.
Um noch einmal zu den Anfängen zurück zu kehren: Der Musikkritiker Jon Landau definiert in den 60er Jahren die Parameter, die den Motown-Sound charakterisieren. Es handelt sich demnach um
1. einfach strukturierte Songs mit origineller Melodik und Harmonik
2. eine Vierviertel-Schlagzeugfigur
3. Gospelstimmen im Background
4. kultivierter Einsatz von Bläsern und Streichern
5. Sänger, die auf der Grenze zwischen Pop- und Gospelmusik artikulieren
6. eine Gruppe von Studiomusikern, die zu den besten in den USA gehören
7. elektronische Misch- und Studiotechnik, die den Klang "komprimiert" (d.h. dynamische Spitzen kappt und Täler anhebt).
Doch nicht allein die Liebe zur Musik umweht Gordys Arbeitspraxis. Gefällt ihm ein Song nicht, wird schon mal der Produzent gefeuert; verpasst eine Nummer die Chartspitze, steht der Interpret auf der Straße. Andre Williams, Produzenten-Veteran ("Mustang Sally") und früherer Gordy-Angestellter, erinnert sich noch 50 Jahre später ziemlich genau: "Berry war ein so humorloser wie fantastischer Produzent. Er wusste genau was nötig war, damit die Masse abgeht. Es fällt mir schwer das zu sagen, aber ich habe ihn nie gemocht. Und naja, er hat mich ja auch achtmal gefeuert."