laut.de-Kritik

Per Anhalter durch die Melancholie: "Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Fusselbart!"

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Der Zirkus ist in der Stadt. Sein zerpflücktes Zelt, dunkelbunt und schmutzig gestreift, ziert den alten Dorfplatz. Horst Pferdinand, das angegraute Zirkuspferd mit Feder in der Mähne, sucht auf seiner provisorischen Koppel nach den letzten Büscheln Gras.

Im Kassenhäuschen sitzt ein brummiger und bärbeißiger Mann, vor dem manch kleines Kind Angst hat. Sven Regener verteilt die Eintrittskarten zur Sondervorstellung "Weißes Papier", in spröder Sprache gezeichnete Bilder. In der Manege lässt seine Band, Element Of Crime, bereits eine ausgeschüttelte Katze, einen sittenstrengen Milchmann und einen Subaru-Besitzer zu einem Potpourri aus Schunkel-Rock, Chanson, altem Schlager und Shanty durch die Manege tanzen.

So ziemlich das einzige, was im August 1991 als noch uncooler als ein Zirkus galt, waren Lieder in deutscher Sprache. Zwar trägt die Hamburger Schule mit der Single "Ghettowelt" von Blumfeld ihre ersten Knospen, aber allgemein verstecken sich deutsche Gruppen wie Camouflage, die Rainbirds oder Alphaville vor der eigenen Sprache in schlechtem Schulenglisch. Deutsch sind Grönemeyer (mit dem EOC 1992 touren), Westernhagen und Kunzes Brille. Künstler, die im Verlauf des Jahrzehnts so verzweifeln, dass sie laut nach einer Radioquote für deutsche Musik schreien.

Das einzige Alternativprogramm bleiben Die Toten Hosen. Tocotronic, Die Sterne, Tomte und Kettcar liegen noch in weiter Ferne. Selbst Selig und Die Ärzte sind noch nicht (wieder) auf der Bildfläche. Zu dieser Zeit treffen Element Of Crime die folgenschwerste Entscheidung ihrer Karriere. Die englische Sprache der ersten vier Alben tauschen sie mit "Damals hinterm Mond" gegen ihre Muttersprache aus.

Im Januar 1993 folgt "Weißes Papier". Element Of Crime perfektionieren ihr neu gefundenes Konzept zur Blaupause für die weitere Karriere. Das Titelstück stellt ein Hoch auf das Verlassenwerden dar. Ein Fest für den genussvollen Melancholiker in uns. Ein Rausch des Selbstmitleids, hintergründig humorvoll und niemals hoffnungslos. "Nicht mal das Meer darf ich wiedersehen / Wo der Wind deine Haare vermisst / Wo jede Welle ein Seufzer / Und jedes Sandkorn ein Blick von dir ist." Egal wie das Leben von hier aus auch weiter gehen mag, "wir werden nie mehr so rein und so dumm sein wie weißes Papier."

Diese Erkenntnis trägt eine nur sachte unterstützende Band und ein summendes Akkordeon, das in der trostlosen Atmosphäre aufgeht. Doch erst ein kurzes Trompetensolo lässt dem Schmerz freien Raum und wir bleiben zurück wie ein im Regen vergessener Köter. In "Draußen Hinterm Fenster" spielen sich die Musiker noch ein, bis sie die Gitarre von Jakob Ilja unterbricht. Regener sitzt derweil wie Jeff in Hitchcocks "Das Fenster zum Hof" unbeteiligt in seinem Zimmerchen und betrachtet die Alltagsabenteur auf den dreckigen Straßen Berlins.

"In euren Wohnvierteln diskutieren sie vielleicht, aber in meiner Nachbarschaft nörgeln sie." Im Refrain zerfällt der Song in zwei Hälften, poltert durch einen Dreivierteltakt. Ein kurzer Bruch in Struktur und Text, bis Regener resigniert feststellen muss: "Wir sitzen hier fest, was auch immer geschieht - verwirrt, träge und verliebt."

Borstig und barsch schlingern sich Element Of Crime durch "Und Du Wartest". Eine Bierbank voller Griesgrame, Murrköpfe und Trauerklöße bietet eine bittere Version eines Blauen Bock-Schunklers. "Ein alter Mann steht unten am See / Und bewirft die Enten mit Brot vom vorigen Jahr." Regeners Trompete klagt, während er selbst auf ein Zeichen von 'ihr' wartet. Doch alles Verharren lohnt sich nicht.

"Ich warte am Bahndamm zwischen den Gleisen / Bis entweder ein Zug kommt oder ein Zeichen von Dir / Ob das Erpressung ist / Ist mir doch egal / Du wirst geliebt / Du hast die Wahl." Ein zartgliedriges und zugleich fieberhaftes Gitarren-Intro eröffnet "Du Hast Die Wahl", bis das Schifferklavier von Ecki Busch nebelhaft durch den Refrain tanzt. Am Ende bekommt der Filou doch noch, wonach ihm gedürstet: "Ich lock dich in den Garten / Und bewerf dich mit Blumen / Solang bis du umfällst / Und kapitulierst."

"Mehr Als Sie Erlaubt" taumelt durch die dunklen Gassen der Nacht. Verworrene Bläser und Gitarren begleiten eine Hassliebe, ätzend wie Alienblut. "Fett wär ich bekäm ich ein Stück Torte / Für jede Illusion die sie mir raubt." Was möchte einem der Protagonist leid tun. Doch "letzten Endes bin auch ich ein ganz Gemeiner / Letztendich passt auf jeden Eimer ein Gesicht."

Halb Chanson, halb Shanty zeigt sich "Schwere See" so ungestüm wie das Meer. Geigen flüstern, ziehen hinaus in die Ferne. Den ruhigen Strophen folgt ein sintflutartiger Refrain. Doch sie gehören zusammen wie der Wind und das Meer. Ein Lotsenboot in schwerer See. "Ich will dein fester Boden sein / Obwohl ich selber schwanke."

Das klischeebeladene "Sommerschlussverkauf der Eitelkeit" ordnete später selbst Regener als weniger gelungen ein: "Das haben wir auf der Tournee zwei-, dreimal gespielt und dann haben wir das sofort sein lassen, denn das Ding hat es einfach nicht. Das kennt jeder, braucht keiner, man weiß, worum es geht, danke schön. Andere sehen das anders, aber da kann ich nur von mir ausgehen."

Mit dem von französischem Flair durchzogenen "Alten Resten Eine Chance" endet "Weißes Papier". Die Party ist zu Ende, der Biervorrat schon lange. Ein Blick zurück auf das entstandene Chaos, leicht und beschwingt. "Was für Schweine lädst du dir bloß ein? / Ein Salat darf nie mit Nudeln sein / den sowas rächt sich bitterlich." Erschöpft ziehen sich Element Of Crime nach ihrer Großtat in ihren mit Nuttenherzchen verzierten Anhänger zurück. Auch Horst Pferdinand darf endlich schlafen gehen.

Bis heute verfügen die Longplayer von Element Of Crime über ein unverschämt hohes Niveau, doch auf "Weißes Papier" brachten sie Musik und Texte nahezu perfekt in Einklang. Ein kaltschnäuziger Leitfaden zur Schwermut, durchsetzt von bissigem Humor. Per Anhalter durch die Melancholie. "Kommt Zeit / Kommt Rat / Kommt Fusselbart."

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Mehr Als Sie Erlaubt
  2. 2. Draußen Hinterm Fenster
  3. 3. Weißes Papier
  4. 4. Schwere See
  5. 5. Und Du Wartest
  6. 6. Du Hast Die Wahl
  7. 7. Sperr Mich Ein
  8. 8. Immer Unter Strom
  9. 9. Das Alles Kommt Mit
  10. 10. Sommerschlußverkauf Der Eitelkeit
  11. 11. Alten Resten Eine Chance

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19 Kommentare

  • Vor 11 Jahren

    Schöne Review. :)
    Mir persönlich ist das Ablum ja nach starkem Einstieg in der Mitte zu lahm und ich finde andere Alben von ihnen stärker, aber ich bin auch erst spätberufener EOCler und kann da vielleicht nicht wirklich mitreden.

  • Vor 11 Jahren

    Neee, damit kann ich so gar nichts anfangen. Für mich waren sie immer die Möchtegern-Fehlfarben, beziehungsweise Können-nicht-so-gut-wie-Fehlfarben. Das nächste mal macht bitte einen Meilenstein, der auch wirklich eine größere Relevanz aufweisen kann!

  • Vor 11 Jahren

    Nice, Herr Kollege! Würdiger Meilenstein-Text. Wobei mein persönlicher Meilenstein natürlich "Try To Be Mensch" ist. Aber der hier geht als Wendepunkt der Band voll OK.

  • Vor 11 Jahren

    @DaFunk: Ich bin eifriger Verfechter der klassischen Satirekunst. Mit Brachialhumor hab ich wenig zu schaffen. Loriot ist aber gerade deswegen so wirkungslos, weil er niemandem weh tun möchte. Man kann "Hohoho" machen und mal schmunzeln, klüger oder bereicherter ist man nach seinen Sketchen allerdings nicht. Ein guter Satiriker darf zwar nett sein, sollte aber an den richtigen Stellen mit Nadelstichen pieksen ;)

  • Vor 11 Jahren

    @Ragism: Loriot ist für mich eigentlich kein Satiriker, sondern Humorist. Er dokumentiert und überzeichnet ganz alltägliche, aber eigentlich wahnsinnig komische Situationen, Kommunikationen usw., ohne dabei besonders anklagend zu sein. Als Satiriker taugt er wenig, da haste recht ;)

  • Vor 11 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 10 Jahren durch den Autor entfernt.