laut.de-Kritik
Streckenweise abstoßend, durchaus fordernd, aber immer fesselnd.
Review von Moritz FehrleDen Ruf als "enfant terrible" hatte sich Serge Gainsbourg redlich erarbeitet. In der Öffentlichkeit pflegte er liebevoll das Image des arroganten Bohemien, der für alle Augen sichtbar seine Liebe zu Alkohol, Zigaretten und (verheirateten) Frauen zelebrierte.
Und auch in seiner Musik kokettierte mit dem Tabubruch. Bereits 1966 hatte Gainsbourg für die damals achtzehnjährige France Gall einen Hit geschrieben, der zwar im Kostüm eines Kinderlieds daherkam, hinter dem sich jedoch nicht sonderlich subtile Anspielungen auf Oralsex verbargen. Zur Melodie von Dvoraks 9. Symphonie besang er zwei Jahre später seine Liebe zu Brigitte Bardot, mit der ihn zwar eine Affäre verband, die zu diesem Zeitpunkt allerdings mit Gunter Sachs verheiratet war. Spätestens als Gainsbourg sich Ende der Sechziger im Duett mit Jane Birkin in die Radiorotation stöhnte, standen Sittenwächter und Moralisten von Paris bis hin zum Vatikan auf den Barrikaden.
All diese Provokationen sollten letztlich lediglich die Einleitung für das bieten, was sich "la vielle canaille" für das Jahr 1971 überlegt hatte. Denn während Papst Paul VI. Gainsbourgs Hit "Je T'aime" öffentlich als unmoralischen Schweinkram brandmarkte, arbeitete der Meister im stillen Kämmerlein an seinem so bahnbrechenden wie ambitionierten Meisterwerk "Histoire De Melody Nelson". Es wurde ein Album, das Genregrenzen sprengte und auch fast fünfzig Jahre später nichts von seiner skandalumwitterten Aura verloren hat.
Das fängt schon beim Cover an. Verängstigt schaut eine kindlich anmutende Jane Birkin dem Betrachter darauf entgegen und hält sich schützend eine Puppe vor den nackten Oberkörper. Die halb geöffnete Jeans deutet auf eine mögliche Schwangerschaft hin. Die blau gehaltene Fotografie hat sich über die Jahre selbst zu einer Ikone der Popmusik entwickelt und ist bereits ein erster klarer Hinweis, auf das, was den Hörer auf dem Album erwartet.
Sein erklärtes Lieblingsbuch, Vladimir Nabokovs "Lolita", verwebt Gainsbourg hierin zu einer Geschichte über die pädophile Beziehung eines Autofahrers zu einer fünfzehnjährigen Radfahrerin, die ein so abruptes wie dramatisches Ende findet. Dem Ganzen verpasst er einen autobiographisch anmutenden Anstrich, der dadurch verstärkt wurde, dass zum Album auch ein Musikvideo mit Gainsbourg und Birkin in den Hauptrollen erschien.
Das vom Bass vorgetragene Hauptthema ist das erste, was wir auf dem Album hören. Nacheinander steigen Schlagzeug und Gitarre ein und Gainsbourg gibt für das französische Publikum genau den Kotzbrocken, den viele in ihm sehen wollten. Seinen Protagonisten lässt er im Rolls Royce Silver Ghost aus dem Jahr 1910 durch die nächtlichen Straßen rollen. Das Baujahr der Limousine verweist dabei auf das Geburtsjahr des Literaturwissenschaftlers Humbert Humbert aus Nabokovs Roman.
Lange referiert er über das Auto und seine silberne Kühlerfigur, während sich musikalisch ein immer vielschichtiger und dramatischerer Sound zusammenbraut. Ein lautes "Merde" reißt ihn aus seinen Träumen. Der Wagen ist kollidiert, ein Rad dreht sich vor der Windschutzscheibe. Der Besitzer blickt aus seinem Rolls Royce herab auf eine minderjährige Radfahrerin, der der Sturz das Kleid bis zu ihrer weißen Unterwäsche hochgestreift hat. Er trägt sie zu sich in den Wagen und legt sie neben sich auf den Beifahrersitz. "Tu t'appelles comment?", will Gainsbourg wissen. "Melody" haucht ihm Birkin entgegen. "Melody comment?" - "Melody Nelson". Fasziniert beobachtet er seine Mitfahrerin. "Melody Nelson a des cheveux rouges", wispert Gainsbourg, "et c'est leur couleur naturelle". Der Protagonist seiner Geschichte hat soeben sein persönliches Lolita-Erlebnis.
Im Folgenden entspinnt sich eine Beziehung zwischen dem Rolls Royce-Fahrer und der gerade fünfzehnjährigen rothaarigen Engländerin "qu'à part moi-même personne n'a jamais pris dans ses bras". Wie bei Gainsbourg nicht anders zu erwarten, ist diese gespickt mit sexuellen Anspielungen und Wortspielen. Die gemeinsame Zeit des Paars ist nicht von langer Dauer. Eben noch trägt er sie Huckepack durch die Gänge des "L'hôtel Particulier", da ereilt Melody ihr tragisches Schicksal. Auf ihrem Flug nach Sunderland, bringt ein mysteriöser Cargo-Zauber die Maschine zum Absturz. Warum wird nicht klar. Vermutlich, damit die Geschichte ein tragisches Ende findet. Dem Rolls-Fahrer bleibt nichts anderes übrig, als die Sterne anzuflehen, ihm seine Melody zurückzugeben. "Et je garde cette espérance d'un désastre / Aérien qui me ramènerait Melody / Mineure détournée de l'attraction des astres".
Mit der Geschichte baut Gainsbourg eine gewaltige Fallhöhe auf. Eine solche Rahmenhandlung braucht eine perfekte musikalische Untermalung, um nicht als plumpe Provokation zu enden. Was Gainsbourg gemeinsam mit dem Arrangeur Jean-Claude Vannier für das gerade mal 28-minütige Album auffährt, erschafft eine schier opernhafte Dramatik, die über die Grenzen der Popmusik weit hinausgeht. Die Sogwirkung eines Albums wird gerne beschworen, aber selten passt der Begriff derart gut. Die orchestralen Arrangements und die beständigen Wechsel in der Dynamik führen dazu, dass man als Hörer von "Melody Nelson" teilweise zwar durchaus abgestoßen wird, sich dem Album aber zu keiner Sekunde entziehen kann.
Einen großen Teil zur verruchten Atmosphäre des Albums trägt auch der Vortrag von Birkin und Gainsbourg bei. Klassisch gesungen wird auf "Histoire De Melody Nelson" eigentlich kaum, stattdessen werden weite Teile geflüstert, gehaucht und geraunt. Diese Besonderheit ist ein nicht unerheblicher Faktor für den Erfolg von "Melody Nelson" auch über die französischen Sprachgrenzen hinweg. Was Gainsbourg in "L'hôtel Particulier" etwa noch in die Worte "Tandis que là-haut un miroir nous réfléchit lentement, j'enlace Melody" bettet, untermalt Birkin lautmalerisch im folgenden "En Melody" - ein weiteres schlüpfriges Wortspiel. Das orgiastische Kreischen gehört zum Verstörendsten auf einem an verstörenden Elementen nicht gerade armen Album. Selbst ohne ein Wort Französisch zu verstehen, dürfte somit jedem klar sein, was da zwischen den beiden Figuren vorgeht.
Die Liste der Bewunderer im englischen Sprachraum ist lang. Jarvis Cocker von Pulp, Beck, Stereolab oder Mike Patton sind erklärte Fans von Gainsbourgs Meisterwerk und tatsächlich kann man den Einfluss auf jeden dieser Künstler erahnen. Nicht zuletzt haben sich auch Portishead von "Melody Nelson" inspirieren lassen. Das Zusammenspiel von schwebendem Bass und trockenen Drums in den beiden rahmenden Stücken "Melody" und "Cargo Culte" nimmt in gewisser Weise den Trip Hop vorweg.
Bereits auf den beiden Geschwisterstücken wird die Mischung Bass und Schlagzeug allerdings immer wieder mit orchestralen Einschüben ergänzt. Schrammelgitarren fahren dazwischen, düstere Streicher verstärken die bedrohliche Atmosphäre, Bläser kommen zum Einsatz und zum Ende des Albums betrauern Chöre zusammen mit Gainsbourg das dramatische Ende von Melody Nelson. Eines der größten Verdienste ist es, dass dieses vielschichtige Gebilde nicht ausfasert. Einen erheblichen Anteil daran hat auch Dave Richmond, dessen Bass das verbindende Element auf "Melody Nelson" ist.
Final lässt sich das Album kaum fassen. Gainsbourg und Vannier vereinen in ihrer Komposition Jazz, Rock und klassische Oper. "Histoire De Melody Nelson" ist alles gleichzeitig und letztlich doch nichts so richtig. Von einzelnen Songs zu sprechen fühlt sich falsch an, vielmehr ergibt sich der Eindruck von sieben Teilen einer knapp halbstündigen orchestralen Suite. Man käme auch gar nicht auf die Idee, das Album anders als am Stück zu hören.
Eine deutliche Spur Megalomanie ist natürlich auch dabei. Die Geschichte von "Melody Nelson" ist derart groß und provokant angelegt, dass sie zum Scheitern verurteilt scheint. Gainsbourg aber vereint Sex, Spannung und Skandal zu einem beeindruckenden Gesamtkunstwerk. Streckenweise abstoßend, teilweise durchaus fordernd, aber immer fesselnd. Ein Album, das "Melody Nelson" in Dramatik gleichkommt, wird man in der Popmusik wohl kaum finden.
In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.
4 Kommentare mit 4 Antworten
grandiose platte und sehr schön geschriebene kritische würdigung.
nur eines: "Geschichte über die pädophile Beziehung eines Autofahrers zu einer fünfzehnjährigen Radfahrerin" stimmt krininologisch und psychologisch nicht. das bringt aber der volksmnd eh beinahe dauernd durcheinander.
"pädo" ist immer, wenn es um präpubertäre opfer geht. geht es hingegen um jugendlichet, bezeichnet man den täter nicht etwa als pädophilen sondern als parthenophilen.
so zumindest aus rechtlicher sicht. psychologisch könnte das doc soul sicherlich erläutern.
zumindest krinimologisch ist das aber ne wichtige unterscheidung. den die profile sind kaum vergleichbar.
schöner Meilenstein!
Die Streicher auf diesem Album sind göttlich.
Ich finde immer noch dass er ein perverser Mistkerl ohne jegliche Moral noch Manieren war. Ein Provokateur par excellence der im Fernsehen Geld verbrannte und Whitney Houston Sex anbot. Sicher ein Genie und dafür Respekt. Ansonsten einfach nur ein Widerling. Auch deswegen bin ich seiner Musik nie nah gewesen.
bis auf dieses Album war es jua auch nichts besonderes was er geboten hat- und hey, die Musikindustrie will Legenden, weil sich damit die Verkäufe steigern
das ist allerdings ne steile, höchst unhaltbare these, doc.
selbst, wenn man mal die grandiosen sachen außer acht lässt, die er für andere schrieb.
seine filmscores sind hervorragend. die platten mit der bardot sind famos - ein inbegriff sprudelnder 60ies-perlen.
allein schon der verdienst, den klassischen chanson in eine psychedelische popstruktur zu überführen!
oder das heftig rockende "rock around the bunker" mit seinen herrlich sarkastischen nazi-abrechnungen und dem tollen song "nazi rock".
oder die idee, den französischen kolonialismus und nationalismus mit nem lupenreinen reggaealbum ("aux armes et cetera") satirisch zu veralbern.
und das ist nur ne spontane brainstorming-aufzählung. en detail bietet er noch mehr juwelen.
"nichts besonderes" geht echt anders.
er ist einfach ein destabilisierungsagent der CIA gewesen, genau wie die Onkelz den rechten Rand abgegriffen haben ist er das Pendant für die Linkskommunisten. Und über Musik lässt sich votrefflich streiten, aber das ist ja auch nur ein teil der Matrix
Bin beim Maddin, es erstaunt mich immer wieder aufs neue das ihr so fein versucht zu trennen Künstler/Genie und Charakter/Mensch. Finde ein Solokünstler sollte da schon an seine Verantworung, die ihm durch seine Popularität wächst, erinnert werden. Gerade über den Tod hinaus. Bei Gainsbourg muss man da wohl auch verschwendetes Talent attestieren. RIP