Die englische 90er-Ikone begeistert an zwei Abenden im Admiralspalast. Fotos/Review.

Berlin (laut) - Sieben Jahre ließ 90er-Indie-Ikone PJ Harvey zwischen ihrem letzten und dem aktuellen Album "I Inside The Old Year Dying" verstreichen. Sieben lange Jahre, in denen sich die Künstlerin unter anderem der Poesie widmete. "Orlam" heißt das Werk, das von der neunjährigen Ira-Abel handelt, die sich im schmerzhaften Stadium zwischen Kind und Erwach(s)en befindet.

Buch und aktuelles Album gehören zusammen, und so ist nur konsequent, dass PJ Harvey dieses Konzept auch live fortführt. Im Zuge der laufenden Europatour bespielt sie an zwei Abenden hintereinander den restlos ausverkauften Berliner Admiralspalast.

Ursprünglich nur mit Rangbestuhlung angekündigt, finden sich die überraschten Zuschauer:innen in einem komplett bestuhlten Saal wieder - was zur Konsequenz hat, dass ein beträchtlicher Anteil der Fans das Konzert dann doch im Stehen genießt.

Unsere kleine Farm

Auf der Bühne sieht man altes Mobiliär: eine kleine Bank, einen Sekretär, Stühle und Tisch. Auf Letzterem befinden sich eine Wasserkaraffe, mehrere Gläser und eine Vase mit einem blattlosen Ast, der dem des aktuellen Albumcovers nachempfunden ist. Weiteres Requisit: Eine Kerze, die PJ später als erste Amtshandlung entzünden wird.

Im Hintergrund sieht man eine Wand, die fast wie eine überdimensionale Raufasertapete anmutet und mit den Lichtern und Schatten dessen zusammenwirkt, was auf der Bühne geschieht. Ein wenig erinnert die Kulisse an ein Theaterstück - auch, weil sich Harvey und Band während des Sets regelmäßig an Tisch oder Sekretär niederlassen, sich quasi von den anderen loslösen, um Wasser zu trinken oder scheinbar zu sinnieren.

Der Admiralspalast passt dazu als Location perfekt, alles wirkt stimmig. Schon vor Konzertbeginn und auch zwischen den Songs werden, wie auf dem aktuellen Album, Tiergeräusche, Glocken und andere Klänge eingespielt. Am prominentesten ist wohl das beruhigende Vogelgezwitscher vertreten, das das Bild einer ruralen Umgebung transportiert, aber die Zuschauer:innen auch in gefährlicher Sicherheit wiegt.

Denn hinter all der Harmonie lauern, wie in "Orlam" auch, die Gefahr, Umbrüche und das Obskure. Ein wenig erinneren Atmosphäre und Outlook an die Southern Gothic-Veteranen Wovenhand. Eine mögliche Kollaboration mit der modernen PJ Harvey würde bestimmt mehr als nur interessante Früchte tragen.

Willkommen in Ira-Abels Traumwelt

Im ersten Teil des insgesamt gut 100-minütigen Sets spielen PJ Harvey und ihre herausragenden Musiker das komplette neue Album am Stück. Die Fans werden Zeuge, wie sich PJ in ihrer Kunst verliert, in die Persona Ira-Abel eintaucht, mit kindlicher Naivität über die Bühne tanzt, die Hände gen Himmel streckt, in sich versunken Verse und Melodien rezitiert - nur um im nächsten Moment, sich völlig unerwartet windend, wieder zusammenzusacken.

Leicht wie eine Feder, behände wie eine Wildkatze schwebt sie über den Dingen, elfengleich und unberührbar. Wie eine seltene, spirtuelle Erscheinung, die bei der kleinsten Unruhe verschwindet - das Publikum betrachtet mit schier angehaltenem Atem, was da auf der Bühne passiert. Die Intensität der Livedarbietung von Stücken wie "All Souls" oder "Autumn Term" übertreffen die Plattenversionen bei weitem. Und immer wieder skandiert Harvey die Schlüsselverse aus "Orlam" und "I Inside The Old Year Dying": "Love me tender."

Das Publikum hängt gebannt an Lippen der Engländerin und lauscht der Musik. Nur die Besten hat sich Polly Jean für diese Tour ausgesucht: Josh Parish, James Johnston, Giovanni Ferrario und Jean-Marc Butty. Die Herren gelten allesamt als Ikonen an ihren Instrumenten und harmonieren perfekt mit PJ Harveys Stimme, die mal zerbrechlich, mal kräftig und so gut wie seit Dekaden nicht mehr klingt.

Die Spannung im Saal ist mit Händen zu greifen, als sich die Allstar-Band zur Mitte des Sets ohne ihre Meisterin versammelt und "The Colour Of The Earth" spielt. Die Fans wissen schon längst, was jetzt folgt: Eine Reise durch den Backkatalog der Diva, die in ihrem weißen, hochgeschlitzten Kleid und den dunklen Locken mehr wie ein transzendentes Geisterwesen als eine Indie-Rockerin aus den 90ern wirkt.

Eine Reise in die Vergangenheit

Nach der beeindruckenden ersten Hälfte des Abends besinnt sich die Engländerin auf ihre Wurzeln: Die Reise durch die musikalische Vergangenheit beginnt mit dem umjubelten "The Glorious Land". Die ersten Begeisterungsstürme erntet Polly Jean mit dem Klassiker "Angelene" und dem desperaten "Send His Love To Me".

Bei "The Garden" geschieht dann etwas fast Magisches: Während PJ mit Leib und Seele den Song performt, entwickeln die Schatten im Hintergrund ein Eigenleben, und Harvey scheint immer wieder nach ihrem Mitmusiker zu greifen, ihn zu umgarnen, die gesungenen Worte zu untermauern, um schließlich ganz mit ihm zu verschmelzen. Was für ein Spektakel! Die Traumwelt, das Paralleluniversum, in das PJ Harvey ihr Publikum entführt, wird auch im zweiten Teil mitnichten aufgelöst.

Dennoch, der begeisternste Teil des Sets beginnt erst mit dem 20. Song, "Man-Size", als sich große Teile des Publikums nicht mehr auf den Stühlen halten können - also doch noch ein Stehkonzert. Ab jetzt ist die Stimmung entfesselt, als wäre ein Schalter umgelegt worden: Für die letzten vier Songs des regulären Sets katapultiert PJ Harvey ihre Fans zurück in ihre Goldene Ära. "Dress" bejubelt der Admiralspalast bereits bei den ersten Tönen. Dann, nach "Down By The Water", richtet die Königin zum ersten Mal Worte an ihr Volk: ein kurzes "Thank you" und sie stellt ihre Band vor, bevor das Konzert nach einem brachialen "To Bring You My Love" endet – zunächst.

Während weiße Blumen auf die Bühne fliegen, und der Applaus nicht abreißen will, kehren PJ Harvey und ihre Musiker für zwei Songs zurück. "White Chalk" beendet diesen einzigartigen Abend: PJ Harvey entschwindet, besser entschwebt in die Nacht, um ihren Zauber auch an anderen Ort zu entfalten.

Text: Désirée Pezzetta.

Fotos

Berlin, Admiralspalast, 2023 Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans.

Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke) Zwei restlos ausverkaufte Konzertabende in Berliner: Die 90er Indie-Ikone begeistert die Fans., Berlin, Admiralspalast, 2023 | © laut.de (Fotograf: Andreas Budtke)

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