laut.de-Kritik

Im Zeittunnel zurück in die frühen Achtziger Jahre.

Review von

Verzweifelt, traurig und tragisch. Wenn ein vergessener Star der Achtziger nach 34 Jahren seinem größten Erfolg mit einer anmontierten römischen II hinterherrennt, fallen einem zuerst diese und ähnliche Adjektive ein. Wenn er die Aufgabe, wie im Fall von Martin Fry, wirklich ernst nimmt und den eigenen Meilenstein nicht mit Kratzern und Dreck beschmutzen mag, erfordert es Courage, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Mit dem von Trevor Horn produzierten "The Lexicon Of Love" veröffentlichten ABC 1982 eine der elegantesten Pop-Platten der 1980er. Ein Album, das zu Beginn des Jahrzehnts die folgenden Jahre voraus nahm und mit definierte. Überschwängliche Melodien, sytlische Kühle und intelligente Romantik. Der perfekte Cocktail-Pop als Gegenentwurf zum verschwitzen Rock und schmuddeligen Punk der 1970er. Abgrenzung in maßgeschneiderten Anzügen.

Bis heute verweigerten ABC den von den Fans und Plattenfirma erhofften Nachfolger. Stattdessen spielten sie mit den Erwartungen, verwirrten ihre Anhänger mit Rock ("Beauty Stab"), Dance-Pop ("How To Be A ... Zillionaire"), Soul ("Alphabet City") oder House ("Up"). Die Verkaufszahlen sanken ebenso rasant wie die Zahl der Bandmitglieder. Seit dem 1997 veröffentlichten "Skyscraping" steht hinter ABC ausschließlich Sänger Martin Fry.

Wenn man mitverfolgt hat, wie nahezu zwanghaft sich dieser über Jahrzehnte versuchte von "The Lexicon Of Love" zu emanzipieren, konnte man mit diesem zweiten Act nicht rechnen. Ebenso nicht damit, dass das Album drei Tage nach seiner Veröffentlichung in den englischen Amazon Charts die Nummer 1 übernimmt. Aber vielleicht liegt die Überraschung nach zahlreichen Kursänderungen letztendlich darin, etwas Erwartbares zu schaffen. Das zweite Kapitel des Lexikons trägt den Untertitel: 'Wenn du das übermächtige Debüt nicht besiegen kannst, liebe und umarme es.'

"The Lexikon Of Love 2" suhlt sich ohne Gewissenbisse im Sound und Esprit der Achtziger. Zwar fehlt Trevor Horn, aber Produzent Gary Stevenson gibt sein Bestes, um an dessen Vorlage heranzukommen. Anne Dudley (The Art Of Noise) überzieht die Tracks wie bei einem Teil von "The Lexicon Of Love" mit ihren zuckersüßen Orchesterarragements zwischen Kitsch, Eleganz und der großen Tragödie.

Anstatt wie 1982 als verträumter Jungspund inmitten des Dramas seiner Songs zu stehen, begibt sich Martin Fry in die Rolle des Beobachters der Szenerie. Hat ihn Amors Pfeil jedoch getroffen, tänzelt unser weichgezeichnetes Bryan Ferry-Abbild voller Leidenschaft und Selbstironie durch die Songs. Zeigte sich die Vorlage altersbedingt zuletzt jedoch stimmlich im katastrophalen Zustand ("Avonmore"), klingt der Gesang des 58-jährigen Fry noch erstaunlich junggeblieben.

Mit schwelgerischen Geigen beginnend bildet der Opener "The Flames Of Desire" einen direkten Zeittunnel in ABCs Anfangstage. Dort angekommen geht es auf einer Discokugel reitend gleich weiter ins römische Reich. Ein Soul-Melodrama, von einem hinreißenden Basslauf angetrieben, in dem der ehemalige Popstar zu altem Glanz aufblüht. "Veni, Vidi, Vici - You came, you saw, you conquered me."

Mit der Vorabsingle "Viva Love" und dem an einen Lisa Stansfield-Track aus den Mitneunzigern erinnernden "Kiss Me Goodbye" holt Fry zwei Stücke ans Tageslicht, die seit "Abracadabra" zu Unrecht ein Leben in der Schattenwelt der Bonustracks führten. Ordentlich abgestaubt und mit Streichern verziert zeigt vor allem der prahlerische Disco-Funk "Viva Love" seine Ohrwurmqualitäten. Natürlich gelingt ABC auf "The Lexicon Of Love II" kein zweites "The Look Of Love", kein zweites "Poison Arrow". Diese eingängige Hymne holt aber genau am richtigen Punkt ab.

"I Believe In Love" fängt mit einer lieblich gezupften Klampfe an. Über frostklirrende Synthesizer und aggressivem Schlagzeug steigert es sich zunehmend. Ein Umfeld, in dem Fry die emotionalen Möglichkeiten seiner Stimme auslotet. Das hektische "Singer Not The Song" geht leider trotz seines selbstironischen Ansatzes, der mit dem Leben eines Sängers abrechnet, gewaltig in die Hose. Mit all dem Bombast, dem tobenden Applaus und den Ibiza-Synthesizern tummeln sich zu viele Ideen auf zu wenig Raum.

In "The Love Inside The Love" zieht Anne Dudley alle Register des Chamber Orchestra Of London. Ein schummriges Theaterstück in fünf Akten, das sich dank seines Arrangements zum Höhepunkt des Albums aufschwingt. Ernüchternd Gefühlskalt und dramatisch zugleich. "This world was once a kinder place /... / we walked as gods in a state of grace."

Mit "The Lexicon Of Love II" gelingt ABC, die wirklich niemand mehr auf dem Zettel hatte, eine faustdicke Überraschung. Den Wurzeln seines Vorgängers bewusst, entwickelt der Breitwand-Pop schnell eine eigene Sprache. Auch als eigenständiges Werk funktionierend, erzählt Martin Fry über die Abarten der Liebe und ihre törichten Wege. Liebe ist magisch, stürmisch und sinnlich. Liebe ist verzweifelt, traurig und tragisch. Viva Love.

Trackliste

  1. 1. The Flames Of Desire
  2. 2. Viva Love
  3. 3. Ten Below Zero
  4. 4. Confessions Of A Fool
  5. 5. Singer Not The Song
  6. 6. The Ship Of The Seasick Sailor
  7. 7. Kiss Me Goodbye
  8. 8. I Believe In Love
  9. 9. The Love Inside The Love
  10. 10. Brighter Than The Sun
  11. 11. Viva Love Reprise

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6 Kommentare mit 16 Antworten

  • Vor 7 Jahren

    Hm. Finde es so überraschend wie einen Sonnenaufgang und so spritzig wie ein Kölsch nach 3 Stunden. Gehört 1/5.

  • Vor 7 Jahren

    Auf SPON hat das Teil 2.0 von 10 Punkten bekommen. So unterschiedlich können Berufskritiker urteilen.

    • Vor 7 Jahren

      Wäre schlimm, wenn sie das nicht könnten.

    • Vor 7 Jahren

      Dazu muss man aber auch erwähnen, dass der Rezensent auf SPON sogar den Klassiker von damals als unerträglich und schlecht ansieht. Insofern kann das Ergebnis für das neue Album auch nicht anders aussehen.
      Wer den Stil nicht mag, mag ihn nicht.
      Da muss schon jemand das Album damals geliebt haben, um einen vernünftigen Vergleich anstellen zu können.
      Spielt halt auch viel Nostalgie und eigene Erinnerungen an die 80er mit rein.

    • Vor 7 Jahren

      Auf Metacritic steht das Ding gerade bei 66/100 mit 6 Kritiken. Davon ist nur eine wirklich schlecht. Ist allerdings auch eher international.

    • Vor 7 Jahren

      Was uns zu der grundsätzlichen Frage nach der Sinnhaftigkeit von Kritiken führt. Muss der Kritiker den rezensierten Künstler mögen, um fair darüber zu urteilen? Oder ist das eher fehlende Distanz? :)

    • Vor 7 Jahren

      Da das eigene Gefallen einem nicht zwangsläufig den ästhetischen Zugang verengt, kann es durchaus irrelevant sein. Kommt immer ganz auf den Kritiker an.

  • Vor 7 Jahren

    Es ist erst drei Tage her (keine 34 Jahre), da las ich ein gutes Review von Garret http://www.laut.de/Camouflage/Alben/Greysc… über eine ähnliche Band, die ein ähnliches Kopfaua verursacht wie das hier. Plastik hier nun weich gespült.

    Es ist erst drei Monate her (keine 34 Jahre) da las ich ein an sich gutes Review von Sven über eine ähnliche Band (Duran Duran MS) wie die beiden oben. Nach einer Diskussion hegte ich die leise Hoffnung, Sven würde gegen seine Irrtümer so rein Geschmacks technisch endlich was tun. Nichts da, Plastik härtet aus und Plastiktüten kosten nun 20 Cent.

    Ich glaube Sven kann mich nicht leiden, weil ich seine Popperhosen schon längst entsorgt habe. Dabei steht ihm ein neuer Lock.

    Gruß Speedi

    • Vor 7 Jahren

      Ich glaube, Speedi dachte während des Verfassens mal wieder daran, seiner Tochter einen frischen Keuschheitsgürtel zu verpassen. Daher das "Lock".

    • Vor 7 Jahren

      Dieser Kommentar wurde vor 7 Jahren durch den Autor entfernt.

    • Vor 7 Jahren

      Plastikwelten. ..dieses klinische Aroma einfarbiger Bausätze passt doch so gar nicht zur Melancholie der punktgenauen Elektronikoasen wie sie Camouflage anbieten :)

    • Vor 7 Jahren

      Ich mag keine Synthesizer die wie Synthesizer klingen, das ist der Grund warum ich Plastik sage. Da kann das noch so gut arrangiert sein, ein noch so guter Musiker an den Knöpfen / Tasten des Synthesizer sitzen, wenn der Synthesizer klingt wie künstlich gewollt bekomme ich Kopfaua. Das ruft eine allergische Reaktion hervor, gehe auf die Leute die so was gut finden los und degradiere sie zu Geschmacksverkalkten.

      Ich mag durchaus elektronische Musik, aber dann muss der Synthesizer einfach unnatürlich klingen, etwas neues an Sound bringen. Sonst kann ich ihn mir gleich sparen. Kraftwerk, Depeche Mode, Pet Shop Boys, Jean M. Jarre um mal ein breites Spektrum abzudecken, kann man sich alles gut anhören bzw. haben was auf den Weg gebracht, neue Klänge dem Synthesizer entlockt. Natürlich ist da auch viel Plastik dabei, mir fällt kein bessere Begriff dafür ein, letztlich zählt was bleibt. Kurz was bleibt hängen in den Gehörgängen.

      ABC, Duran Duran, Camouflage setzen auf einen unverfälschten Synthesizer Klang, ein Korg kling wie ein Korg, ein Moog wie ein Moog usw. Das kann er und die Gitarre hat 6 Seiten, es gibt nun einen ¾ Takt wenn ich hier drehe kommt das raus.
      Mein Neffe sollte Klavier lernen, da sich mein Schwager kein Klavier leisten konnten, kauften sie ihm ein Keyboard und meldeten ihn in der Musikschule an. Der Ärmste sollte dann zu Weihnachten das erlernte vorstellen. Es klang schrecklich und der Junge schämte sich in Grund u. Boden. Er tat mir leid und ich hatte Kopfaua.

    • Vor 7 Jahren

      "Ich mag keine Synthesizer die wie Synthesizer klingen, (...)."

      "Ich mag durchaus elektronische Musik, aber dann muss der Synthesizer einfach unnatürlich klingen, (...)."

      Du bist dumm.

    • Vor 7 Jahren

      Speedy ist schon ein ziemlich hartes Opfer. Vermutlich hat er regelmäßig "Kopfaua" weil er Fäuste fängt für sein Scheissgelaber. :D

    • Vor 7 Jahren

      Santiagos Welt = austauschbar, egal welche Beleidigung du dir aussuchst sie stimmt. An die Schippe mit dir Papa, dann kommst nicht auf dumme Gedanken.

      Craze seine Welt = Wo es an Verstand mangelt, wird das Faustrecht wieder eingeführt. Ich würde einfach ausziehen aus der Hinterhofkascheme, Brudar.

    • Vor 7 Jahren

      Speedy, ich hatte auch arge Probleme, deinen Gedankensprüngen zu folgen... vielleicht fehlt mir das richtige Kraut dafür.

    • Vor 7 Jahren

      Leave him alone! You're lucky he even performed for you bastards! Leave Speedi alone!

    • Vor 7 Jahren

      Speedi ist mein Held.

  • Vor 7 Jahren

    Ooooh, etwas neues von ABC... Ich höre die alten Sachen immer noch oft und gerne. Kann verstehen, das die CD hier einen harten Stand hat, aber ich mag den Stil, damals wie heute und es entspannt mich einfach... Gekauft ;)

  • Vor 7 Jahren

    ABC - Martin Fry war am 14.12.2016 in Berlin! Musikalisch hohes Niveau! Martin hat uns "ältere Zuhörer" sehr angenehm durch den Abend geführt! 80er und aktuelle Songs waren gut gemischt. Sogar Steve Norman (Saxophonist von Spandau Balett) war als Üerrsachungsgast dabei ... es wurde "Gold" gespielt! Sehr schöner Abend ... Martin Fry KEEP IT GOING !

  • Vor 6 Jahren

    ein elegantes Pop-Album,ich liebe es !