Die deutsche Stimme des ESC geht in den Ruhestand. Urbans Memoiren: ein vergnügliches Geschichtsbuch über die Musik- und Medienlandschaft.

Hamburg (dani) - Machen wir uns nichts vor: Die meisten Leute, denen der Name Peter Urban überhaupt etwas sagt, denken an ihn als den trockenen, ironischen, zuweilen leise süffisanten, aber nie abfälligen oder gar verletzenden Kommentator des Eurovision Songcontest. Diese Veranstaltung begleitet er inzwischen seit vielen Jahren. Die diesjährige Ausgabe, mit der er das Vierteljahrhundert voll machen wird, soll seine letzte sein. Wer auf ihn folgen und die Lücke, die er hinterlässt, füllen sollte: Ich habe, ehrlich, nicht die leiseste Ahnung.

Doch Peter Urban ist viel mehr als nur die deutsche Stimme des ESC. Er hat Anglistik, Soziologie und Geschichte studiert und über die Poesie in anglo-amerikanischen Pop- und Rocktexten promoviert. Seit den frühen 1970er Jahren arbeitet er bereits für den Norddeutschen Rundfunk als Redakteur und Moderator zahlreicher Radioshows. Sein schon immer lebendiges Interesse an jeweils gerade aktueller Musik, vor allem auch an solcher von abseits des Mainstreams, lebte er allzeit in seinen Sendungen und Features aus. Von seinem allerersten Format, "Musik für junge Leute", an versorgte er Musiknerds konstant mit Inspiration und Information. Seinen "Urban Pop" bringt er inzwischen auch im Podcastformat an seine Hörer*innen.

"Machs doch erstmal selber besser!"

Ganz nebenbei erfüllt Peter Urban die im Grunde blödsinnige Forderung, die die Menschen da draußen gerne an Musikkritiker*innen richten: "Machs doch erstmal selber besser!" Joah, ne? Er spielte (und spielt hoffentlich noch) Seite an Seite mit versierten Musiker*innen in verschiedenen, teils preisgekrönten Formationen, von den Quaktown Rhythm Kings über (die rückblickend, wie er selbst sagt, etwas fragwürdig betitelte Combo) Pussy und Caro & JCT Band zu Bad News Reunion. Im legendären Hamburger Jazz-Club Onkel Pö gehörte er quasi zum Inventar.

Keine Frage: Dieser Mann lebt und liebt Musik, seit Jahrzehnten kreist seine komplette Existenz um diese Leidenschaft, und sein über Dekaden angehäuftes Fachwissen teilt er gerne und hochgradig unterhaltsam mit allen, die ähnliche Interessen hegen. Er hat, klingt phrasenhaft, scheint in diesem Fall aber tatsächlich zu stimmen, jeden und seine Mutter getroffen. Allein schon die Auflistung, welche Shows von (damals) aufstrebenden Künstler*innen er bei seinen Aufenthalten in Großbritannien während seiner Schul- und Studienzeiten in den 1960ern miterleben durfte, haut einem schier den Vogel raus, und glücklicherweise hat Peter Urban über die Jahre und Jahrzehnte einfach nicht damit aufgehört, sich für Musik und ihre Macher*innen zu interessieren.

Seine Lebensgeschichte "On Air" (Rowohlt Verlag, 544 Seiten, gebunden, 25 Euro), bescheiden mit "Erinnerungen an mein Leben mit der Musik" untertitelt, liest sich entsprechend wie ein Geschichtsbuch: Peter Urban rollt anhand seiner eigenen Vorlieben, Erfahrungen und zahllosen Begegnungen, die Folk-, Pop- und Rock-Geschichte auf. Sein Faible für Schwarze Musik verschaffte ihm obendrein Expertise in Sachen Jazz, Soul und R'n'B. Afrikanische, karibische, südamerikanische Spezialitäten runden die akustische Weltreise ab.

Lektionen in Musikgeschichte

Neben musikalischen Entwicklungen zeichnet Peter Urban, stellenweise durchaus kritisch, die Entwicklung der deutschen Medien-, insbesondere natürlich der Radiolandschaft nach. Von mittendrin schildert er die zu ihrer Zeit beispiellosen technischen, logistischen und nicht zuletzt politischen Herausforderungen, die die Übertragung weltweit beachteter Mega-Events wie "Live Aid" oder das Konzert zum 70. Geburtstag von Nelson Mandela mit sich brachten.

25 Jahre ESC im Schnelldurchlauf

Ja, natürlich widmet er sich am Ende außerdem ausführlich dem ESC. Im Schnelldurchlauf lässt er die Jahre seit 1997 Revue passieren, in denen er als Kommentator (fast immer) vor Ort war. Die Metamorphose vom biederen Schlagerwettbewerb zum facettenreichen, schillernden Medien-Spektakel, die der Eurovision Songcontest in den letzten Jahren durchlaufen hat, lässt sich anhand Urbans Protokoll mühelos nachvollziehen und weckt bei ESC-Fans zudem die eine oder andere nostalgische oder lustige Erinnerung.

Jeder und seine Mutter

Alles, worüber er schreibt, erklärt und belegt Peter Urban anhand eigener Beobachtungen und zahlloser Begegnungen. Mit deren Aufzählung allein könnte man ein halbes Buch füllen. Zur Orientierung: Eine Doppelseite mit Fotos zeigt den Autor jeweils zusammen mit Yoko Ono, Rod Stewart, Melissa Etheridge, Mick Jagger, Charlie Watts und Ron Wood, Bonnie Raitt, Peter Buck, Keith Richards, Jackson Browne und Udo Lindenberg - und das waren Bruchteile der Größen, die er über die Jahre vorm Mikrofon hatte.

Chance verpasst!

Nahbar, persönlich und elend unterhaltsam gerät "On Air", weil Peter Urban sich selbst überhaupt nicht schont. Er schildert auch Pannen, peinliche (oder zumindest schräge) Situationen und das eine oder andere Versäumnis. Zumindest eins davon lässt sich nun wirklich nicht mehr gutmachen. An eine Begegnung mit dem kürzlich verstorbenen Harry Belafonte erinnert sich Peter Urban so:

"Wir sprachen noch über ein paar persönliche Dinge wie Familie, Kinder, das Leben in Manhattan, dann nahm er mein Notizblatt und schrieb in einer unwahrscheinlich schönen, fast kalligrafischen Handschrift seine New Yorker Kontaktdaten auf eine freie Stelle. 'Come see me, when you're in New York.' (...) Der Einladung, ihn in Manhattan zu besuchen, bin ich nie gefolgt, ich habe es schon oft bereut."

Nicht barrierefrei

Ohne dem übertrieben viel Platz einzuräumen, klammert Peter Urban aber auch den Kampf mit seinen körperlichen Gebrechen nicht aus. Ein Autounfall in jungen Jahren fesselte ihn über Monate hinweg ans Bett, später bereitete ihm die Hüfte offenbar erhebliche Probleme. Nach mehreren OPs die teils weiten, hin und wieder sogar wackeligen Wege von und zu den Sprecherkabinen beim ESC zu bewältigen: eine echte Herausforderung. Etwa in Kopenhagen, anno 2014:

"Man hatte die Kommentatoren-Boxen auf den Oberrang der provisorischen Tribünen in fünfundzwanzig Metern Höhe gesetzt, der Aufstieg erfolgte über eine wackelige Konstruktion mit acht Baustellentreppen, die immer stärker schwankte, je höher man kam. Oben wogte es etwa einen halben Meter hin und her. (...) Schwindelfrei war ich, aber nach jeder Treppe musste ich eine Pause einlegen. Lukas war so lieb, meine Krücken hochzutragen, eigentlich war die Kletterei eine gute Reha-Übung. Wenn man oben war, tauchte das nächste Problem auf, an das die Organisatoren auch nicht gedacht hatten: Wie geht man auf die Toilette? Der Auf- und Abstieg und der Weg zu den WC-Containern außerhalb der Halle dauerten viel zu lang für die während der Show möglichen Zeitfenster wie Recap oder Pausen-Act. Nach Beschwerden baute man in luftiger Höhe ein Chemie-WC ein, ob das je genutzt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis."

Musiknerd durch und durch

Derlei bleibt aber Randnotiz. Hauptsächlich dreht sich in diesem Buch alles um die Musik und die Musiker*innen. Peter Urban kommentiert die deutschen und ausgewählte internationale Beiträge, darunter natürlich die jeweils siegreichen Titel, und offenbart zudem seine persönlichen Favoriten jedes Jahres.

Insgesamt platzt "On Air" schier vor Musikbegeisterung, Sachkunde und Geschichtswissen. Wer Peter Urbans nach jahrzehntelanger Radio-Schulung irre prägnante Sprecherstimme im Ohr hat, wird bei der Lektüre obendrein das Gefühl bekommen, als lese der Mann einem dieses ungemein vergnügliche und zudem erhellende Buch im Kopf vor. Man bekommt das imaginäre Hörbuch also gleich frei Haus mitgeliefert: die Kirsche auf der Sahne dieses Lesegenusses.

Kaufen?

Peter Urban - "On Air"*

Wenn du über diesen Link etwas bei amazon.de bestellst, unterstützt du laut.de mit ein paar Cent. Dankeschön!

Weiterlesen

Noch keine Kommentare