laut.de-Kritik

Bob Dylan auf dem Höhepunkt.

Review von

Die neue und mittlerweile zwölfte Ausgabe von Bob Dylans Bootlegs-Reihe offenbart einen wahrhaft außergewöhnlichen Einblick in das wohl produktivste und gravierendste Zeitfenster im Schaffen des selbsternannten Song-And-Dance-Man. Es waren nicht mehr als vierzehn Monate zwischen 1965 und 1966, in denen drei der essenziellsten Alben aus Dylans Kanon, "Bringing It All Back Home", "Highway 61 Revisited" und das Doppel-Album "Blonde On Blonde" geschrieben und aufgenommen wurden. Die kulturelle Einschlagskraft von Dylans Entwicklung und Output in dieser Zeit muss heute nicht mehr analysiert oder gar affirmiert werden, alleine über "Like A Rolling Stone" sind ganze Bücher geschrieben worden. Längst ist Dylan gleichermaßen zum akademischen Gegenstand sowie zur hochdekorierten Historizität in Überlebensgröße mutiert. Er selbst scheint das weitgehend unbeeindruckt hinzunehmen und konzentriert sich aufs Touren und auf in erfreulich kurzen Abständen erscheinenden neuen Alben.

"Bob Dylan 1965-66: The Cutting Edge" erscheint in mehreren Versionen, und für die Begehrenswerteste muss der geneigte Hörer auch ganz schön tief ins Portemonnaie greifen: Beinahe 600 Dollar kostet die auf 5.000 Stück linierte Deluxe-Edition. Die hat es aber in sich: Auf 18 CDs befindet sich jeder in diesen Jahren im Studio aufgenommene Ton Dylans, das beinhaltet Outtakes, Proben, Fragmente sowie Alternativ-Versionen. Eine ganze CD allein widmet sich nur den verschiedenen Takes von "Like A Rolling Stone". Dazu gibt es unter anderem ein schickes Buch mit bis dato unbekannten Fotografien, neun Vinyl-Singles sowie einen Filmstreifen von "Don't Look Back". Wem das bei aller Liebe doch zu viel Geld ist, der hat auch die Wahl zwischen einem 6-CD-Set beziehungsweise einer Best-Of-Edition mit wahlweise 2 CDs oder 3 LPs.

Dylan selbst wirkte damals, als hätte ihm der Allmächtige persönlich einen gehörigen Arschtritt gegeben, meinte Produzent Bob Johnston einst. Man kennt die Bilder ja: Dylan als hyperkreativer Zappelphilipp unter Dauerstrom, der die grandiosen Zeilen, Lieder und Takes nur so aus dem Ärmel zu schütteln schien. Wir werden hier mitten rein geschleudert in diesen Zenit von Dylans Produktivität, und es gibt viel zu entdecken. Beispielsweise eine wunderschöne Demo-Version von "Desolation Row" mit Dylan am Klavier, begleitet wird er nur von einem Kontrabass. Von diesem Stück gibt es im selben Atemzug auch einen Alternate Take zu hören, ebenfalls aufs Knochengerüst reduziert, statt Klavier trägt diese Version aber Dylans Akustikgitarre.

Dass "Mr. Tambourine Man" ebenso im Full-Band-Gewand mit Schlagzeug daher hätte kommen können, beweist ein unvollständiger Take, den Dylan dann aber spontan abbricht. Launisch trieb Dylan Stücke wie "Just Like A Woman" in scheinbar ganz andere Richtungen und Fahrwasser. Einige der Songs sind wiederum recht nah an dem, was wir heute als "Originalversion" bezeichnen, bei "I Want You (Alternate Take 4)" und "One Of Us Most Now (Sooner Or Later)" beispielsweise.

Eines der Highlights: Bevor "Visions Of Johanna" in den Nashville-Sessions schlussendlich zu der Akustik-Nummer wurde, die auf "Blonde On Blonde" erschien, probierte er es als treibenden Rock'n'Roll, was eine grandiose Probeaufnahme beweist. Man hört Dylan zwischen den Aufnahmen witzeln und lachen, er macht kurze Ansagen, gibt Anweisungen. "Alcatraz to the ninth power", sagt Produzent Tom Wilson kurz vor einem Take ins Mikrophon, Dylan unterbricht: "Noooooo. That's not the name of it". "That's what you told me", meint Wilson. "I switched songs. This song is... ummm... ummm. Bank Account Blues", alle lachen. Daraufhin spielt Dylan eine erste Demo-Version von "I'll Keep It With Mine" (dessen früherer Titel eben "Bank Account Blues" war), am Piano. Ähnlich bei "Absolutely Sweet Marie": "What's the name of this, Bob", fragt wiederum Bob Johnston. Dylan überlegt: "Where Are You Tonight, Sweet Marie".

Keine Frage: "Bob Dylan 1965-66: The Cutting Edge" beinhaltet Rock-Zeitgeschichte von unschätzbarem Wert. Es zeigt einmal mehr, wie offen in alle Richtungen Dylans Stücke waren und wie sie scheinbar wie Elektrizität durch ihn hindurch flossen. Für welche Version man sich auch entscheidet: Man muss kein(e) großer Dylanist(in) oder Totalfetischist(in) sein, um von diesen Aufnahmen auf phänomenale Art und Weise in die Mitte eines musikalischen Geschehens gezogen zu werden, das bis heute von seiner Strahlkraft nichts verloren hat. Der Hörer darf hier im Studio dabei sein und Mäuschen spielen. Jede Sekunde lohnt sich.

Trackliste

CD 1

  1. 1. Love Minus Zero/No Limit - Take 2 (1/13/1965) acoustic
  2. 2. I'll Keep It with Mine - Take 1 (1/13/1965) piano demo
  3. 3. Bob Dylan s 115th Dream - Take 2 (1/13/1965) solo acoustic
  4. 4. She Belongs to Me - Take 1 (1/13/1965) solo acoustic
  5. 5. Subterranean Homesick Blues - Take 1 (1/14/1965) alternate take
  6. 6. Outlaw Blues - Take 2 (1/13/1965) alternate take
  7. 7. On the Road Again - Take 4 (1/14/1965) alternate take
  8. 8. Farewell, Angelina - Take 1 (1/13/1965) solo acoustic
  9. 9. If You Gotta Go, Go Now - Take 2 (1/15/1965) alternate take
  10. 10. You Don t Have to Do That - Take 1 (1/13/1965) solo acoustic
  11. 11. California - Take 1 (1/13/1965) solo acoustic
  12. 12. Mr. Tambourine Man - Take 3 (1/15/1965) with band, incomplete
  13. 13. It Takes a Lot to Laugh, It Takes a Train to Cry - Take 8 (6/15/1965) alternate take
  14. 14. Like a Rolling Stone - Take 5 (6/15/1965) rehearsal
  15. 15. Like a Rolling Stone - Take 11 (6/16/1965) alternate take
  16. 16. Sitting on a Barbed Wire Fence - Take 2 (6/15/1965) unreleased take
  17. 17. Medicine Sunday - Take 1 (10/5/1965) early version of Temporary Like Achilles
  18. 18. Desolation Row - Take 2 (8/4/1965) piano demo
  19. 19. Desolation Row - Take 1 (8/4/1965) alternate take

CD 2

  1. 1. Tombstone Blues - Take 1 (7/29/1965) alternate take
  2. 2. Positively 4th Street - Take 5 (7/29/1965) alternate take
  3. 3. Can You Please Crawl Out Your Window - Take 1 (7/30/1965) alternate take
  4. 4. Just Like Tom Thumb s Blues - Take 3 (8/2/1965) rehearsal
  5. 5. Highway 61 Revisited - Take 3 (8/2/1965) alternate take
  6. 6. Queen Jane Approximately - Take 5 (8/2/1965) alternate take
  7. 7. Visions of Johanna - Take 5 (11/30/1965) rehearsal
  8. 8. She's Your Lover Now - Take 6 (1/21/1966) rehearsal
  9. 9. Lunatic Princess - Take 1 (1/27/1966)
  10. 10. Leopard-Skin Pill-Box Hat - Take 8 (2/14/1966) alternate take
  11. 11. One of Us Must Know (Sooner or Later) - Take 19 (1/25/1966) alternate take
  12. 12. Stuck Inside of Mobile with the Memphis Blues Again - Take 13 (2/17/1966) alternate take
  13. 13. Absolutely Sweet Marie - Take 1 (3/7/1966) alternate take
  14. 14. Just Like a Woman - Take 4 (3/8/1966) alternate take
  15. 15. Pledging My Time - Take 1 (3/8/1966) alternate take
  16. 16. I Want You - Take 4 (3/10/1966) alternate take
  17. 17. Highway 61 Revisited Take 7 (8/2/1965) false start

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