laut.de-Kritik

Durchwachsene Kompilation unter fragwürdigem Leitmotiv.

Review von

Der deutsche Genre-Film präsentiert sich seit jeher als tristes Ödland. Abseits des Krimi-Konsens der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten und den Blödelfilmen in der Tradition der cineastischen Nachkriegszeit liegt der deutsche Film weitgehend brach. Gelegentliche Geniestreiche à la "Toni Erdmann" bilden noch immer die Ausnahme der Regel. "Chiko"-Regisseur Özgür Yıldırım will diesen Umstand ändern, in dem er sich in seinem aktuellen Werk "Nur Gott Kann Mich Richten" erneut am Gangster-Genre abarbeitet.

Um dem Film auch in musikalischer Hinsicht eine größtmögliche Glaubwürdigkeit zu verpassen, erhielt Goldräuber Xatar bereits im Herbst 2016 den Auftrag, einen passgenauen Soundtrack zu schneidern. Für diesen hat der Baba aller Babas nun eine Reihe junger Nachwuchsstraßenrapper sowie einige etablierte Kräfte aus den bundesdeutschen Großstädten rekrutiert.

Im Zusammenspiel mit Samy und Gringo44 eröffnet Xatar den Sampler mit dem Song "Nur Gott Kann Mich Richten". Die mitschwingende antidemokratische Grundhaltung des Titels schlägt sich etwa in der Ablehnung der Justiz nieder. Nicht nur vor Gericht ist das "Gedächtnis immer Kurzzeit", auch sonst verspüren sie keinerlei Rechtfertigungsdruck für begangene Taten: "Meine Weste befleckt, Mann, ich hab' meine Gründe." Aus Gründen fallen die Hülsen also "im Viertel wie Regen". Aber gut, zum authentischen Einblick gehört auch die schwer zu akzeptierende Erkenntnis, dass sich eine wachsende Schicht fernab demokratischer Prozesse entwickelt.

Dazu passt auch die Einschätzung des sonst politisch-analytischen Disarstars, der sich in seinem Beitrag "Grau" ganz in die Beobachterposition zurückzieht: "Die Ratten in diesen Straßen, die lassen sich nicht verarschen. Und schon gar nicht von Politikern auf Stimmenfang." Dabei liegt die Crux vor allem darin, dass sich die geschilderten prekären Umstände nur politisch auflösen oder zumindest zum Besseren wenden lassen.

Auch Soufian von der Generation Azzlack überzeugt vor allem mit Szene-Einblicken aus erster Hand: "Ziehe die Waffe und drück'. Jahrelang gewartet, doch nichts kam zurück. Er wollt' nicht so leben, doch Elend führt Menschen zu Hass. Wenn die Kälte kommt, mein Bester, wird es dunkel schon am Tag." Eno darf sich dank Nisbeatz über ein düster-treibendes Instrumental inklusive selten gehörter Holzklangstäben freuen. Da gerät der widersprüchliche Text seines kryptisch "Wäwä" betitelten Klangerzeugnisses zur Nebensache.

Nu hinterlässt mit dem unstrukturierten Song "Mund Kämpft Nicht" zwar einen leidenschaftlichen Eindruck, vermag es jedoch mit seinen überschaubaren Fähigkeiten nicht auf der Trap-Produktion zu überzeugen. Ebenfalls im Kontext eines realistisch harten Gangsterfilms denkbar unpassend kommt "Solo Dio" von CE$ daher, der wie zuletzt Payy und Jeyz unter einem Autotune-Overkill leidet. Die wirklich brauchbaren Stücke gehen auf die Konten der einzigen beiden Frauen, die der jugendlichen männlichen Garde deutlich überlegen scheinen.

Schwesta Ewa ist zu wünschen, dass sie ihre zahlreichen juristischen Verwicklungen zu einem rechtsstaatlich akzeptablen Abschluss bringt. Auf "60Punchbars", einem überzeugenden Battle-Track aus dem Rotlichtmilieu mit unverkennbarem AON-Trademark-Sound, präsentiert sich die Frankfurterin erneut als überlegene Mistress: "Wenn du fragst, wo meine Heels sind: Du leckst sie gerade."

Ewa passt mit ihrem rohen wie glaubhaften Text nicht nur zum anvisierten Filmgenre, sondern bemüht sich, neben den sprachlichen Vereinfachern der nachrückenden Streetrap-Generation mit erweitertem Wortschatz und mehrsilbigen Reimen zu glänzen: "Du bleibst verschuldet im Kaufrausch stecken, willst den Brautstrauß catchen und im Traumhaus essen. Du wirst nur angeschrieben wie Brauhausdeckel, von mehr Alkis bestiegen als Laufhaustreppen."

"Die Stadt ist charmant, erst wenn du zerfließt. Und sie hält deine Hand, wenn der Strom dich zieht." Sängerin Lary erweist sich mit leiser, chansonhaften Melancholie und einer poetischeren Auseinandersetzung der Straßen-Thematik als weitere Könnerin. "Die Stadt ist wie ein reißender Strom. Sie ist, wer du bist, und nicht wo", sinniert die Wahl-Berlinerin und findet damit ein kunstvolleres Bild für den platten Spruch "Du kriegst den Jungen aus der Hood, aber die Hood niemals aus ihm." Auch das Produzententeam Beatgees betreibt mit beschaulichem Keyboardspiel optimale Eigenwerbung.

Während sich die meisten seiner Kollegen einen in die Tasche lügen, in dem sie beteuern, sich nur um der Familie willen kriminell zu betätigen, bleibt Xatar sich und dem Hörer gegenüber aufrichtig: "Der Unterschied ist zwischen uns und dem Rest: Wir brechen für Luxus Gesetz." Zum Abschluss greift der AON-Chef mit Luciano noch einmal zum Mic, um erneut trotzig ausschließlich einer höheren Macht die richterliche Gewalt über ihn angedeihen zu lassen. So endet eine durchwachsene Kompilation mit fragwürdigem Leitmotiv, dem wohl nur mit dem verächtlich machenden Humor eines Audio88 zu begegnen ist: "Der einzige, der richten darf, ist irgendein Gott."

Trackliste

  1. 1. Nur Gott Kann Mich Richten (Xatar, Samy und Gringo)
  2. 2. Drück (Soufian)
  3. 3. Wäwä (Eno)
  4. 4. Zukunft Belesh (Xatar und Olexesh)
  5. 5. Solo Dio (CE$)
  6. 6. 60Punchbars (Schwesta Ewa)
  7. 7. Grau (Disarstar)
  8. 8. Mund Kämpft Nicht (Nu)
  9. 9. Niagara (Lary)
  10. 10. Dunklen Geschichten (Luciano und Xatar)

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Xatar

"Heute regnet es Kugeln in der Nacht, es wird nie wieder gelacht, ihr habt Xatar sauer gemacht. Ich pack' links mein Schlagring, rechts meine Axt. Ich …

7 Kommentare mit 12 Antworten