7. Mai 2021

"Das ist als wären in Deutschland Straßen nach Hitler benannt"

Interview geführt von

Neue Doku, neue EP, ein geplantes Buch, diverse Soundtrack-Projekte, 20 Jahre "Toxicity" und die erste neue neue Musik von System Of A Down seit 15 Jahren – es ist viel los bei Serj Tankian. Vor allem beschäftigt den Musiker und Aktivisten aber die Lage in Armenien. Im Gespräch erklärt er uns warum.

Kaum jemand hatte noch ernsthaft mit neuer Musik von System Of A Down gerechnet – und dann waren sie Mitte 2020 plötzlich da: Zwei Songs, die für die Band selbst ähnlich überraschend kamen wie für ihre Fans. Um weltweit Aufmerksamkeit auf den Krieg zwischen ihrem Heimatland Armenien und Aserbaidschan zu lenken sowie Spenden für Verwundete zu sammeln, rauften sich Serj Tankian, John Dolmayan, Daron Malakian und Shavo Odadjian nach Jahren künstlerischer Differenzen wieder zusammen und stellten binnen kürzester Zeit "Protect The Land" und "Genocidal Humanoidz" fertig.

Noch fünf Jahre zuvor waren Bemühungen, einen Nachfolger zum 2005 erschienenen, bis dato letzten Album "Hypnotize" zu schreiben, gescheitert. Einige Songs aus den damaligen Sessions veröffentlichte Tankian nun Ende März 2021 als Solokünstler auf "Elasticity". Eine weitere EP soll in ein paar Monaten folgen, ebenso ein Klavier-Concerto, eine musikalische Adaption seines ersten Gedichtbands "Cool Gardens" und mehrere Soundtracks – unter anderem für eine Netflix-Serie.

Untergeordnet sind all diese kreativen Projekte Tankians unbedingtem Willen, zu gerechtem gesellschaftlichem Wandel beizutragen. So porträtiert ihn die im April erschienene Dokumentation "Truth To Power" nicht nur als Musiker, sondern vor allem als Aktivist. Wir sprachen mit ihm deshalb auch über seinen Antrieb, wie ihn Gegenwind, den er zum Beispiel vor 20 Jahren kurz nach der Veröffentlichung von "Toxicity" erfahren hat, verändert und warum er sich öffentlich weiterhin hinter seinen Bandkollegen John Dolmayan stellt, obwohl dieser teils fundamental andere politische Ansichten vertritt.

Erst vor ein paar Tagen, am 24. April, war der Gedenktag zum Völkermord an den Armeniern. Joe Biden hat nun als erster US-Präsident die damaligen Ereignisse formell als Genozid bezeichnet. Wenige Tage später schlug der türkische Parlamentsabgeordnete Garo Paylan in der Türkei ein Gesetz zur Anerkennung des Völkermords vor. Wenn du dir den Fortschritt in Sachen Anerkennung und Aufmerksamkeit dafür in den Jahren seit du mit System Of A Down auf öffentlicher Bühne ebenfalls lautstark darum kämpfst ansiehst – was geht dir durch den Kopf?

Wir – nicht nur System Of A Down, sondern die gesamte armenische, hellenische, assyrische Gemeinschaft auf der ganzen Welt – haben hart daran gearbeitet, damit der von den Osmanen verübte Genozid ordentlich und offiziell anerkannt wird, von allen Nationen dieser Erde. Viele Länder, darunter auch Deutschland, sind dem schon vor einer ganzen Weile nachgekommen. Im Dezember 2019 hat endlich auch der US-amerikanische Kongress seinen Job gemacht und den Genozid formell anerkannt. Und wie du schon sagtest: Biden hat nun als erster ... naja, Reagan hat es vorher schon irgendwie mal gesagt, aber nicht komplett und formell. Das hat nun Biden als erster Präsident getan. Das Momentum zur Anerkennung des Völkermords ist gewachsen, die Aufmerksamkeit steigt weltweit. Es hilft nicht, dass die Türkei unter Erdoğans Regierung als Schurkenstaat in Syrien und Libyen einmarschiert ist, Truppen und syrische Söldner in den Kaukasus geführt hat, um die friedlichen Menschen in Bergkarabach anzugreifen, im Mittelmeer bohrt und die Griechen und Zyprer drangsaliert et cetera. Das alles spielt im modernen Kontext eine Rolle.

Garo Paylan ist der einzige armenisch-stämmige Abgeordnete im türkischen Parlament. Er schwebt beständig in Lebensgefahr. Alle Anführer seiner Partei HDP – im Grunde die einzige Oppositionspartei des Landes – sitzen im Gefängnis. Paylan wurde quasi nur als Exempel drin gelassen, um sagen zu können: "Hey, schaut mal, wir lassen auch andere Meinungen zu." Garo Paylan beweist großen Mut, jedes Jahr im Parlament zu erscheinen und die Anerkennung des Genozids zu fordern. Dieses Jahr sagte er: "In der Türkei sind Straßen nach Talât Pascha benannt." Talât Pascha war der Minister, der den Völkermord an den Armeniern organisiert hat. Das ist als wären in Deutschland Straßen nach Hitler benannt. Natürlich wird Paylan bedroht. Es gibt im Parlament einen Abgeordneten, der erst gestern eine Todesdrohung gegen ihn ausgesprochen hat. Die Türkei befindet sich momentan in einer Abwärtsspirale – ökonomisch und politisch. Erdoğans Männer fürs Grobe werfen Oppositionspolitiker, Journalisten und Kurden ins Gefängnis, töten sie in Afrin in Syrien und so weiter. Das wird nicht ewig so weiter gehen. Die Türkei muss ordentlich demokratisiert werden. Die türkische Bevölkerung braucht ihre Stimme zurück und eine rechtschaffene Regierung, die sie repräsentiert. Erdoğan möchte Sultan sein.

Ich glaube, echte Vergebung und Aussöhnung wird es geben, wenn die Türkei eine Führung bekommt, die die richtigen Entscheidungen trifft, unparteiisch auf die Geschichte blickt und sagt: "Wir müssen Konzessionen machen. Wir müssen das Richtige tun." Wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg – man muss sich angemessen mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen. Auf diesen Tag warten wir alle. All das ist geringfügiger Druck, diplomatische Änderungen durchzuführen und Druck auf die Türkei auszuüben, um letzten Endes das Richtige zu tun.

In der gerade erschienenen Dokumentation "Truth To Power" erzählst du von deinem aktivistischen Weg in dieser Angelegenheit. Die zentrale Frage im Film lautet dabei: "Kann Musik die Welt verändern?" Um die Welt zu verändern, muss Musik zunächst mal Individuen verändern. Daher die Frage an dich: Inwiefern hat Musik deine Welt verändert?

Du hast recht: Ich glaube, man muss erstmal selbst inspiriert werden, um andere Menschen zu inspirieren, einen Wandel herbeizuführen. Musik änderte mein Leben zunächst in Form perfekter Meditation. Angefangen Musik zu machen habe ich an der Uni. Ich studierte Marketing und Betriebswirtschaftslehre. Musik wurde mein Zufluchtsort, um mich auszuruhen und meine Geister zu beleben. Erst hatte ich ein kleines Keyboard, auf dem ich angefangen habe. Irgendwann habe ich ein größeres gekauft und so ging das weiter. Es war eine Form von Meditation. Musik gab mir eine Art spirituelle Positivität. Musik hat mein Leben gerettet. In meinen späten Teenager-Jahren und frühen Zwanzigern befand ich mich in einem sehr negativen Zustand. Schwierigkeiten mit der Familie und andere Probleme ... Musik war wirklich ein Retter für mich. Das inspirierte mich. Und ich glaube fest daran: Wenn wir inspiriert sind, können wir diese Begeisterung und Inspiration teilen, sodass dadurch wieder andere Menschen inspiriert werden. Und wenn hinter dieser Inspiration eine Botschaft steckt – die Botschaft, positiven Wandel zu bewirken – und Menschen danach handeln – dann kann Musik auch zum Werkzeug von Aktivismus werden.

Eine entscheidende Stelle im Film ist, als der aktuell geschäftsführende Ministerpräsident Armeniens, Nikol Paschinjan, erklärt, System Of A Downs Konzert in Jerewan 2015 habe ihn wenigstens teilweise dazu inspiriert, seinen Protestmarsch zu starten, der letztendlich in die sogenannte Samtene Revolution mündete. Wie fühlte sich das für dich an, als er dir das offenbarte?

Ich hab es erst gar nicht wirklich gerafft. Das sieht man auch im Video. Meine Reaktion darauf war: "Oh ja, es war echt ein kalter Tag – hat es euch gefroren?" Wer sagt denn sowas, wenn dir jemand gerade erzählt hat: "Anna (Hakobyan; A.d.R.) und ich waren 2015 beim System Of A Down-Konzert und dachten uns dabei: Wenn die in der Lage sind, so viele Menschen zusammenzubringen, dann schaffen wir das auch, um das Land in eine positive Richtung zu drehen." Erst später wurde mir klar, was er da eigentlich gesagt hatte.

Am Ende der Revolution kam ich nach Armenien und es war unglaublich, die Euphorie in den Augen der Menschen zu sehen. Sie waren so erfüllt von Freude, sahen ihre Träume wahr werden und blickten ins Angesicht einer neuen Zukunft für ihr Land. Leider wurde das nur zweieinhalb Jahre später durch die Angriffe der Azeris, Türken und syrischen Söldner auf Arzach und den folgenden Krieg wieder durchkreuzt. Eine Tragödie. Eine humanitäre Katastrophe. Armenier haben in Bergkarabach Land verloren, auf dem sie seit 2500 Jahren heimisch waren. Viele junge Menschen sind gestorben. Und natürlich gibt nun jede Menge Schuldzuweisungen, Verwirrung und Uneinigkeit. Es ist eine verzweifelte Zeit für die armenische Nation. Es ist wichtig, weiterzuarbeiten, unser Volk zu unterstützen und es wieder zu einen. Es ist auch wichtig, von Nationen zu lernen, die Kriege verloren haben – wie Deutschland, Japan oder Israel – und zu betrachten, was sie im Anschluss daran getan haben und wie sie danach wieder zu Kräften kamen, egal ob wirtschaftlich oder militärisch. Man muss es richtig machen. Das war nicht wirklich deine Frage, ich weiß, aber das ist meine Antwort. (lacht)

"Deine Mutter!"

Darauf wollte ich ohnehin noch zu sprechen kommen. Wie du sagst, lag die Revolution in Armenien ja erst zweieinhalb Jahre zurück, als der Konflikt mit Aserbaidschan eskalierte und der Krieg ausbrach. Was macht das mit einer Gesellschaft, die eben noch tatsächlich friedlich einen entscheidenden Wandel zum Besseren im eigenen Land bewegt hat, und nun schon wieder vor dem nächsten Scherbenhaufen steht?

Es wirkt fast schon wie eine universelle Kritik an Demokratie. Armenien wird endlich demokratischer und progressiver – und prompt von zwei Diktatoren aus der Türkei und Aserbaidschan angegriffen, die keinerlei Respekt vor Demokratie haben und ihren Völkern Presse- und Meinungsfreiheit verwehren. Und Armenien hat verloren. Auch weil niemand geholfen hat, als wir um Hilfe baten. Wir wurden von der zweitgrößten NATO-Nation der Welt – der Türkei – angegriffen, zusammen mit Aserbaidschan! Armenien und Aserbaidschan hatten natürlich schon zuvor gekämpft, in den 90ern, es gab Scharmützel an der Grenze... Ohne die Türkei hätte Aserbaidschan den Krieg niemals gewonnen.

Diese Menschen kämpften um ihre Familien – das ist nicht vergleichbar mit einem Kampf um Territorien oder Öl, es ist völlig anders. Ohne die Türkei wäre das anders ausgegangen, das glaube ich wirklich. Für Armenier überall auf der Welt, deren Großeltern durch den von den Osmanen begangenen Völkermord verwaist wurden, war es, als würden sie dieses Trauma noch mal durchleben. Schon wieder steht die türkische Gendarmerie an unseren Grenzen und tötet Armenier. Das war wirklich traumatisch für uns. Alle vier meiner Großeltern waren Überlebende des Genozids.

Fürchtest du, das könnte auch zu einer Radikalisierung innerhalb Armeniens führen?

Ich glaube, wenn die Vorsitzenden der OSZE-Minsk-Gruppe – ganz besonders Frankreich und die Vereinigten Staaten – sich nicht ordentlich in den Prozess einschalten – zusammen mit Russland – um eine gerechte Lösung für die in Bergkarabach lebenden Menschen zu finden, die deren Selbstbestimmung, ihren Status, ihre Unabhängigkeit einschließt, dann werden solche Kriege weiter stattfinden. Wie und wo weiß ich nicht.

Auf deiner neuen EP "Elasticity" singst du von einem Ereignis, das noch vor der Samtenen Revolution stattgefunden hat: Die Electric Yerevan-Proteste. Warum fandest du es relevant das jetzt noch zu veröffentlichen, obwohl über fünf Jahre vergangen sind und sich seitdem verdammt viel geändert hat?

Naja, ich wollte das alles ja schon vor fünf Jahren rausbringen. (lacht) Die Songs entstanden alle vor fünf, sechs Jahren. Besonders den Stücken "Electric Yerevan", "Elasticity" und "Your Mom" haftet ein Punk- und Rock-Ethos an, das mich an System Of A Down erinnerte. Zu der Zeit sprachen wir über eine Kollaboration, tauschten uns zu Songs aus und so weiter. Unnötig zu erwähnen, dass es letztlich nicht geklappt hat. Wir waren damals einfach nicht auf dem selben Nenner, sowohl was das Kreative als auch die Philosophie anging. Letztlich entschied ich mich dazu, die Songs trotzdem fertigzustellen. Schon vor Covid war alles im Kasten, die Releasepläne standen. Doch dann passierte der Krieg und ich schob sie vorerst wieder beiseite, da wir die beiden Songs und Videos mit System Of A Down veröffentlichten ("Protect The Land" und "Genocidal Humanoidz", A.d.R.), in denen wir den Krieg in Arzach thematisierten.

Uns war wichtig, dass die Wahrheit dazu bekannt wird. Aserbaidschan griff damals nicht bloß militärisch an, sondern auch weltweit mit Social Media-Bots. Sie nutzten Desinformation als eine der Hauptwaffen. Wir haben versucht, das zu durchdringen, und den Leuten zu zeigen, was tatsächlich passiert. Besonders während der ersten Wochen im September und Oktober ging eine Fake-Parodie dessen was passierte durch die Medien – wegen dieser Desinformationsaktionen. Uns war wichtig zu kommunizieren, dass die Menschen in Arzach dort schon seit 2500 Jahren leben. Sie sind die Einheimischen dort, sie sind friedlich, sie wurden angegriffen. Gewissermaßen ist das dort zum Teil ein Krieg der Zivilisationen, zum Teil auch einer der Religion und zum Teil einer der Demokratie. Das wollten wir kommunizieren und ich glaube, das ist uns ganz gut gelungen – auch mithilfe einer Spendensammlung für die Menschen in Arzach und Armenien.

Ich möchte noch kurz einen weiteren Song der EP ansprechen: "Your Mom". Der Text erinnerte mich ein wenig an deinen Essay "Understanding Oil", den du 2001 in Reaktion auf die 9/11-Katastrophe geschrieben hattest ...

Interessant ... Ursprünglich hieß der Song nicht "Your Mom". Ursprünglich war das Stück eine sehr spezifische Abhandlung über eine ganz bestimmte Terrororganisation. Aber er wurde eben vor fünf, sechs Jahren geschrieben und Situationen ändern sich. Es war eben sehr spezifisch, ähnlich wie zum Beispiel "Understanding Oil" oder auch "Prison Song" von System Of A Down. Einerseits war der Text daher teilweise überholt und andererseits auch etwas bedrohlich – eben weil es wie gesagt um eine bestimmte Terrororganisation ging. Einerseits um den Text zu aktualisieren, andererseits aber auch um mir gewissen Stress zu ersparen, habe ich also eine neue Figur hineingebracht: Die verbrechensbekämpfende, badass Mom, die Terroristen in den Arsch tritt. Den Titel "Your Mom" fand ich dann auch einfach sehr witzig. Du diskutierst irgendwas und fragst: "Hey, hast du schon deine Mutter gehört?" oder: "Deine Mutter ist ein super Song!" WAS?! (lacht) Das Ganze ist herrlich surreal, denn sobald man nur die Phrase "Your Mom" erwähnt, steckt man schon tief in einer bestimmten Konnotation, sodass man eigentlich gar nicht mehr an einen Song denken kann. Das brachte also auch etwas Humor in den zutiefst ernsten Inhalt des Lieds und machte das Ganze etwas dadaistisch.

Ja, die Kombination fasst damit auch recht gut deinen Schreibstil zusammen, finde ich. Interessant aber, dass du sagst, du hättest den Text auch teils deshalb geändert, weil er anfangs zu explizit war. Da möchte ich nochmal auf "Understanding Oil" zurückkommen. Der Text brachte System Of A Down wegen seiner USA-kritischen Haltung einige Probleme ein. Angesichts der frischen Wunden von 9/11 fühlten sich durch den Essay viele verletzt und missverstanden ihn gar als Rechtfertigung für die Terroristen, obwohl die Kernaussage natürlich eine ganz andere war. Radiostationen nahmen damals eure Songs aus dem Programm, ihr wurdet bedroht. Erst eine Woche vorher war euer zweites Album "Toxicity" erschienen und für System Of A Down ging es eigentlich steil bergauf – ein ziemliches Desaster also. Seit dem Vorfall sind nun 20 Jahre vergangen. Du bist als Aktivist seitdem bestimmt nicht leiser geworden, hast dich aber in gewisser Hinsicht weiterentwickelt und deine Stimme geformt. Inwiefern würdest du sagen hast du deinen Ausdruck verändert, wenn es darum geht, Dinge in der Öffentlichkeit zu kommunizieren bzw. zu formulieren, um Missverständnisse zu vermeiden?

Ich glaube, die Situation damals hätte ich nicht vermeiden können. Ich bin nun mal jemand, der – um mal den Titel des Films zu bemühen – "Truth To Power" spricht. Da ist es völlig egal, ob die öffentliche Meinung auf meiner Seite steht, ob die Leute davon hören oder nicht. Ich werde herausfordern. Ich werde Fans deswegen verlieren. Ich werde dafür Anfeindungen bekommen. Aber ich muss die Wahrheit sagen. So war ich schon immer, in der Hinsicht hat sich nichts verändert. Was sich allerdings verändert hat, ist sozusagen der "Auftritt" meiner Sprache – wie ich also das was ich sagen möchte, verfasse. Früher habe ich intuitiver gesprochen und mit Mitgefühl ... heute formuliere ich dagegen eher geopolitisch im Prosa-Format. So könnte man es wohl ausdrücken.

Das Problem ist ja oft, dass die Gegenseite wiederum ebenfalls fest von ihrer eigenen "Wahrheit" überzeugt ist. Wie geht man damit um?

Bildung. Die Gesellschaften, die wegen Desinformation der Wahrheit eher ablehnend gegenüber stehen, die die solcher Desinformation stark glauben, sind diejenigen, die ihre Nachrichten statt von echten Nachrichtenplattformen vor allem aus Social Media beziehen. In gut gebildeten Gesellschaften ist auch der prüfende Blick genauer. Ein prüfender Blick durchbricht in der Regel den Desinformationsflaum. Bildung ist das Gegengift für Desinformation und die Menschen, die sich davon beeinflussen lassen.

Ein Beispiel: In der Türkei wird einem nichts über den Genozid beigebracht – dort lehren sie das komplette Gegenteil. Wenn wir in Europa gespielt haben, kamen immer mal wieder türkische Fans bei Konzerten auf mich zu und erklärten: "Ich komme aus der Türkei und bin euer Fan. In der Schule haben wir nichts über den Völkermord gelernt. Als ich später nach Deutschland – oder wohin auch immer – gezogen bin, habe ich mich selbst mit der Sache beschäftigt. Es ist gut, was ihr macht." Das als Armenier, dessen Großeltern damals dieses schreckliche Massaker überlebt haben, von einem türkischen Fan zu hören, ist ein unglaubliches Gefühl. Davon spreche ich: Bildung.

"Ich will nicht bloß Statements setzen, sondern tatsächlichen Wandel anstoßen."

Unterschiedliche Wahrnehmungen von Wahrheit sah man vergangenes Jahr auch innerhalb der Band. System Of A Down-Drummer John Dolmayan äußerte im Zuge des US-Wahlkampfs und der Black Lives Matter-Proteste einige fragwürdige Dinge und bekam dafür zurecht Gegenwind. Du selbst vertrittst in dieser Angelegenheit eine fundamental andere Ansicht als er und hast das auch entsprechend kommuniziert. Trotzdem betonst du öffentlich aber auch, dass ihr weiterhin gut miteinander auskommt. Hast du einen Rat für Leute, die sich fragen, wie viel sie tolerieren sollten, wenn sie mit Meinungen konfrontiert werden, die sie für falsch halten – und wann und wo man definitiv die Grenze ziehen sollte?

Puh, schwierig. John ist für mich natürlich niemand, den ich gerade erst getroffen habe, sondern seit Jahrzehnten mein Freund und sogar Familie. Er ist mein Schwager und der Drummer meiner Band. Unabhängig von unseren Meinungsverschiedenheiten in punkto US-Politik, wo wir wirklich an gegensätzlichen Enden des Spektrums stehen, respektiere ich ihn – als Vater, als guten Menschen, als Freund. Mir ist wichtig, Leute nicht basierend auf ihren politischen Ansichten zu beurteilen. Das wäre sehr kurzsichtig und auf gewisse Weise sehr egozentrisch. Wo zieht man die Linie? Ich weiß es nicht... Ich ziehe die Grenze bei Gewalt, bei Anstiftung zu Gewalt und wenn ich einfach weiß, dass ich damit nicht länger klarkomme. Es gibt diese Linie also definitiv. Das ist, was ich dazu zu sagen habe.

Dass ihr euch in System Of A Down nach wie vor auf gewisse Dinge einigen könnt, habt ihr vergangenes Jahr mit euren ersten neuen Songs seit 15 Jahren gezeigt: "Protect The Land" und "Genocidal Humanoidz". In Interviews hast du kürzlich außerdem Interesse an einem möglichen Orchesterprojekt geäußert. Es gibt also Zukunftspläne?

Naja, man hat mich etwas verlockt, das zu sagen, haha. Jemand fragte: "Werdet ihr als System Of A Down mal ein Orchesterprojekt starten?" Worauf ich dann entgegnete: "Hm, wenn die anderen dabei sind, eines Tages vielleicht schon. Das wäre sicher cool." Also schauen wir mal, haha. Spaß würde das schon machen. Eine Art System Of A Down-Sinfonie – wie es zum Beispiel Metallica oder andere Bands schon umgesetzt haben. Daraus eines Tages eine schöne Liveshow zu machen, hätte schon was. Wer weiß ... wenn die anderen ebenfalls dabei sind, bin ich sicher, dass man da etwas organisieren kann. Es wird viel Arbeit, das kann ich dir sagen! Damit, bestehende Songs orchestral umzuarrangieren habe ich ja im Zuge von "Elect The Dead Symphony" bereits Erfahrung gesammelt, ich komponiere für Filme und so weiter... sowas ist einfach echt viel Arbeit.

Apropos Arbeit: Von vielem was du tust, bekommt man in der Öffentlichkeit gar nichts mit. Klar, wir sehen wenn du eine EP veröffentlichst oder einen Gedichtband, wenn ein Film erscheint, für den du komponiert hast, oder du dich via Social Media zu bestimmten Themen äußerst. Was passiert eigentlich hinter den Kulissen noch alles, gerade im aktivistischen Bereich?

Ich wirke an verschiedenen Non-Profit Organisationen mit. Meine Frau und ich arbeiten mit mehreren zusammen – viele davon sind in Armenien angesiedelt, einige auch in den USA. Wir helfen bei der Finanzierung, unterstützen sie generell und fahren auch ein paar eigene Programme, wobei ich jetzt aber nicht ins Detail gehen möchte. Ich will nicht bloß Statements setzen, sondern tatsächlichen Wandel anstoßen, sofern ich die Möglichkeit dazu habe. Manches passiert finanziell, manches in Form aktiver Kooperation, manchmal helfe ich den Non-Profits einfach, ihre Botschaft nach außen zu tragen und die Aufmerksamkeit zu erhöhen. Ich tue was ich kann und sitze auch in diversen Gremien von Non-Profit-Organisationen. Die Themenfelder reichen von Kreativität über Schulen für Technologie bis hin zu großen Fundraisern. Das bewerbe ich alles nicht und muss es auch nicht. Nach außen kommen entweder die Social Media-Posts oder eben mein tatsächlicher Arbeitsoutput.

Was bedeutet es für dich, ein Aktivist zu sein?

Immer mit der Wahrheit verheiratet zu sein.

Wir müssen langsam zum Ende kommen, daher noch die kurze Frage: Welches Buch würdest du jedem empfehlen, zu lesen?

Ich bin großer Fan des Mystikers und Musikers Hazrat Inayat Khan. Er hat einige Bücher über Spiritualität aus musikalischer Perspektive geschrieben. Schnapp dir eines davon. Außerdem mag ich Malcolm Gladwell sehr. Ich liebe Kurzgeschichten, die ein gemeinsamer thematischer roter Faden verbindet. Tatsächlich arbeite ich selbst an einem Buch mit einem solchen Format im Kopf. Das Thema wird die Überschneidung von Gerechtigkeit und Spiritualität sein.

Oh, gibts dafür schon einen zeitlichen Horizont?

Haha, es stehen allein dieses Jahr noch noch neun musikalische Releases zusätzlich zu "Elasticity" an. "Truth To Power" und noch ein anderer Film kommen raus, aktuell komponiere ich für einen großen Streaminganbieter die Musik zu einer Serie und im Juni oder so kommt ein "Cool Gardens"-Musikprojekt, bei dem ich die Gedichte aus "Cool Gardens" zu wunderschöner, filmartiger Musik spreche... Das planen wir gerade. Ich brauche also erstmal ein paar freie Hirnfrequenzen, um mich auf den Buchprozess konzentrieren zu können. Momentan bin ich dabei, grob die Kapitel zu skizzieren, wenn mich die Muse dafür küsst. Aber es ist gerade echt schwierig, Zeit dafür zu finden. Doch das wird kommen. Ich schätze, die Veröffentlichung läuft dann entweder auf nächstes oder übernächstes Jahr hinaus.

So fern in der Zukunft ist das ja gar nicht.

Ich mache doch nichts, was zehn Jahre dauert! (lacht) Es kommt vor, dass ich Orchester kontaktiere – oder sie mich – und dann heißt es: "Wir würden echt gerne mit dir arbeiten. Wie wärs mit diesem Repertoire und wenn wir das so und so umsetzen?" Klar, klingt großartig! Und dann kommt: "Toll, wie wärs mit 2025?" Wie bitte? In der Klassikwelt sind Planung so weit im Voraus wohl ganz normal, aber ich finde das witzig. Ich weiß ja nichtmal, ob wir 2025 noch lebendig sind, haha.

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3 Kommentare mit 8 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    Wahrlich eine Schande was in Bergkarabach passiert ist.
    Hier wäre wirklich mal Gelegenheit, sich gegen Rechts zu positionieren.
    Aber Merkeldeutschland hält natürlich schön die Schnauze und kuscht vorm Türkengröfaz, zahlt im sogar noch Milliarden, damit der die Grenze auch weiterhin ja schön geschlossen hält.

    • Vor 2 Jahren

      Ehm, die Afd hat Armenien unterstüzt... Serj stellt den ganzen Konflikt sowieso nicht korrekt bzw. nur teilweise dar. Armenien hat 1992-1994 16.000 Aserbaidschaner getötet und fast 700.000 vertrieben und hunderte Siedlungen zerstört.
      (Als "Bufferzone" für ihr Karabach,das nur Armenier haben sollte").
      Dafür gibt es vier sehr eindeutige UN Resolutionen.
      Google gerne mal Bilder von "Agdam", "Fuzuli" oder "Jebrayil".
      Es ist nicht so einfach "Böse Türken" und "Gute Armenier".
      Aserbaidschan hat mit dem Völkermord 1915 auch überhaupt gar nichts zu tun.
      Der Karabachkonflikt ist NICHT durch 1915 entstanden.

    • Vor 2 Jahren

      Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.

    • Vor 2 Jahren

      "Böse Türken" bleibt natürlich bestehen. Erdogan und Alijew sind militaristische, autokratische, grundkorrupte, faschistische Drecksäcke. Daß es auch ein paar wenige Opfer unter Azeris gab, ist richtig. Die UN-Resolutionen sind allerdings alles andere als eindeutig, sondern äußerst fragwürdig.

    • Vor 2 Jahren

      Wieso nicht? Die 7 Regionen außerhalb von Nagorno Karabach hatten über 95% Aserbaidschanische Bevölkerung und diese wurde komplett ethisch gesäubert, die Städte zu 100% zerstört. HRW zeigt Berichte von Zwangsarbeit, Vergewaltigungen usw. aus den 90er Jahren. Alles begangen von Armenien.
      Armenien selber war bis 2018 genauso korrupt und undemokratisch.
      Es gab in beiden Karabachkriegen in den 90er Jahren und 2020 MEHR Aserbaidschanische Opfer.
      90er: 16.000 tote Az. Zivilisten
      2020: 100 tote Az. Zivilisten.
      Sorry aber das zieht nicht :)

      Zu den Gebieten außerhalb von Nagorno Karabach:
      https://en.wikipedia.org/wiki/Armenian-occ… (Blick auf die Bevölkerungstabelle)

      Zu Armenischen Kriegsverbrechen der 90er Jahre:
      https://twitter.com/urthishome/status/1390… (Viel Spaß beim Lesen. Und nein 700.000 aus ihrer Heimat zu vertreiben, damit dort 150.000 Armenier leben zählt nicht)

      Zu Erdogan: Jede Partei in der Türkei unterstützt Aserbaidschan in dem Konflikt. Auch die sekuläre CHP, Schwesterpartei der SPD.
      Zu Aliyev: Die gesamte Opposition, auch im Ausland hatte dasselbe Interesse. Die Befreiung besetzter Gebiete und die Rückkehr von 700.000 Aserbaidschanern

      Zu Faschismus einfach mal den armenischen Nationalhelden und Hitler Unterstützer googlen: Garegin Nschdeh (https://de.wikipedia.org/wiki/Garegin_Nsch…). "Rassenidiologie" vom Feinsten und 2016 wurde ihm eine gigantische Statue in Armenien gewidmet. Man stelle ich in DE XXXL Himler Statuen vor... Auch die Holocaust Mahnmale wurde in Armenien regelmäßig geschändet. Kein Wunder, dass die AFD dort im letzten Jahr gerne zu Besuch war

    • Vor 2 Jahren

      Vielleicht können wir uns ja einfach darauf einigen, dass der Angriff auf Zivilisten oder Gebiete, die mehrheitlich nichts mit der angreifenden Partei zu tun haben wollen, beschissen ist, egal von welcher Seite es kommt.

    • Vor 2 Jahren

      @Hello19965
      Du musst um fair zu sein weiter zurück gehen. Das Gebiet wurde 1920 von Stalin an Azerbaijan verschenkt. Davor lebten da 90% Armenier, wovon viele vertrieben wurden.
      Und dem Krieg 1992 sind auch Massaker und Vertreibungen gegen Armenier voran gegangen.
      Klar ist das nicht in Ordnung, was da 1992 gelaufen ist, aber es war Krieg und die Azeris haben eigentlich immer angefangen.

      Das Land dort ist von extremer Bedeutung für die armenische Kultur, da stehen Bauwerke die über 1000 Jahre alt sind...
      Bauwerke die in die antike zurück reichen und von Armeniern zeugen die da bereits in biblischen Zeiten gelebt haben.
      Und Azerbaijan macht dort gerade das selbe wie die Taliban in Afghanistan oder der IS in Palmyra... Naja, es sind ja auch grob 5000 IS-Söldner auf Seiten Azerbaihan an den Kämpfen beteiligt gewesen.

      Und nein... Armenien war auch vor 2018 deutlich weniger korrupt als Azerbaijan, welche näher an Nord-Korea sind, als an Russland im Demokratie-Ranking und Pressefreiheitsindex.

      Eines noch: Die Azerbaijaner haben sehr wohl fleißig mitgeholfen beim Völkermord 1915. Und die würden das auch vervollständigen, wenn Russland nicht die Hand übers armenische Kernland halten würde.

    • Vor 2 Jahren

      Danke, Malk. Weil Alijew erwiesenermaßen die gesamte EU und viele Journalisten mit seinen Ölmilliarden zugeschissen hat, sollte man nicht jede oberflächliche Wahrheit für voll nehmen.

  • Vor 2 Jahren

    Dieser Kommentar wurde vor 2 Jahren durch den Autor entfernt.

  • Vor 2 Jahren

    Serj hat völlig Recht.
    Es ist unerträglich wie Armenier wieder die Opfer der Türken/Azeris werden und die Welt einfach mal weg schaut. Nur Russland hat ein Auge drauf, aber wohl auch nur aus geopolitischen Erwägungen, da Armenien völlig von ihnen abhängig ist...
    Ohne Russland hätten die Türkei und Azerbaijan, zusammen mit dem IS das Land wohl binnen 6 Monaten überrannt und die restlichen 3-4 Mio Armenier abgeschlachtet.