laut.de-Kritik

(Emotionaler) Striptease in Wien.

Review von

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Reinhard Mey sein Livealbum "In Wien – The Song Maker" eben in der Donaumetropole aufgenommen hat, wo doch aus allen Stationen seiner Arenatour Aufnahmen vorgelegen hätten. Schließlich haben sich Mey und seine deutschen, ihm seit vielen Jahren freundschaftlich verbundenen Kollegen Wecker und Wader mit ihrem deutschen Liedermachertum als wesentlich weniger wirkmächtig als ihre österreichischen Kollegen erwiesen. Der Austropop gebar mit Wanda, Bilderbuch et al Kinder, die in felix austria eine Fackel weitertragen, die in Deutschland längst verloschen ist. Allein schon deshalb ist es also sinnvoll und löblich, sich das extensive Werk Meys erneut vor Augen zu führen und auf seine andauernde Relevanz abzuklopfen.

Es gibt auch deshalb Sinn, da Meys erster kommerzieller Erfolg "Reinhard Mey Live" war, sich für Mey also authentisch ein Kreis schließt in seinem jahrzehntelangen Schaffen. Gleichwohl: Die Zeiten, in denen Reinhard in Frankreich und Benelux als "Frédérik Mey" beachtliche Erfolge vorweisen konnte, sind längst vorbei. Mittlerweile macht Mey eher als Erstunterzeichner eines offenen Briefs gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine Schlagzeilen und reiht sich damit ein in eine Reihe geriatrischer Männer, die für vorgestern stehen. "Ausgerechnet Mey" schrieben damals viele Feuilletonisten, die ihn vor allem mit dem Überhit "Über Den Wolken" verbinden und als Hauptmotiv seines Ouevres die Freiheit ausmachten.

Das ist allerdings ein Missverständnis: Um die objektive, absolute, gerechte Freiheit ging es Mey nie, anders als etwas Westernhagen. Es geht bei Mey um Mey, um Meys Freiheit, Meys Leiden und Meys Beobachtungen der Gesellschaft. Politisch mag er den Faden verloren haben, normativ waren seine Lieder aber eigentlich nie, dafür war Mey nie bereit genug, seine Perspektive aufzugeben. Ein verbittertes, antirassistisches "Kanacken Zerhacken" von Ambros, der beißende Spott von Danzers "Der Alte Wessely", das alles und die damit unweigerlich verbundene Abstraktion ist Mey fremd. Symptomatisch sei hier "Spielmann" genannt, bei dem Mey lyrisches Ich und Du so lange munter durcheinandermischt, bis endlich klar ist, wie standfest er ist und wie doof die anderen. Das ist keinesfalls kritisch gemeint, ein verengter Blick als Liedermacher kann die Sicht auch schärfen, in dem Feld, das man erfasst. Es ist nur wichtig, um den Künstler Mey und sein Werk zu verstehen und insofern von der Ukraine-Frage zu lösen beziehungsweise die Kontinuität in seinem Denken nachvollziehen zu können.

Ein weiteres potenzielles Missverständnis, das zu diesem Live-Album Erwähnung verdient, ist die Arenatour, verbunden mit dem Ansatz, nur mit einer Gitarre aufzutreten. Natürlich ist es in der Mercedes-Benz-Arena im hinteren Oberrang vermutlich nicht so geil gewesen, Meys Figur nur erahnen zu können, der spartanische Ansatz begleitet Mey allerdings vor allem live schon lange Zeit, es sei an "20.00 Uhr" erinnert. Auf dem nun vorliegenden Live-Album fühlt sich Mey auch nicht verloren an auf sehr großer Bühne. Charmant ist Mey natürlich, er geht dem Publikum gar runter wie Butter. Der Album-Hörgenuss leidet darunter allerdings trotzdem, wenn auch nicht dramatisch. Ein Ärgernis bleibt Meys Selbstgerechtigkeit, die im gesprochenen Wort noch deutlicher als in seinen Lyrics zutage tritt. Auf "Spielmann" kokettiert er damit, dass er noch keine Biografie geschrieben habe, weil er so uneitel sei - "Was Ich Noch Zu Sagen Hätte" ist aber genau das, von ihm autorisiert, gegen eine Konkurrenzveröffentlichung klagte er sogar. Nach "Ich Liebe Es, Unter Menschen Zu Sein" hört man seine blinde Abneigung gegenüber der jungen Generation und alles was man nicht versteht, überdeutlich heraus.

Dieser Kontrast ist umso seltsamer – cringe, würden junge Leute sagen – als dass eine Spielweise Meyscher Lieder nun mal der wohlmeinende, schmunzelnde Schunkel-Schlager ist, mit den Vertretern "Glück Ist, Wenn Du Freunde Hast", "Ich Liebe Dich", "Männer Im Baumarkt", und "Gute Nacht, Freunde". Eher seichte Songs mit ganz viel Herz, die aber als Folk-Schlager völlig funktionieren. Sie sind aber nur die zweite Reihe seiner Songs, ganz vorne stehen mit "Ich Wollte Wie Orpheus Singen" oder "Zimmer Mit Aussicht" klassische Liedermacher-Songs im Storytelling-Format. Musikalisch besonders schlagkräftig tritt der Westberliner dann auf, wenn er sich wie auf "Das Haus An Der Ampel" im eigenen Singsang verliert. Dann fühlen sich jüngere Hörer an Sun Kil Moon erinnert. Auch der Reinhard kann dann eine ganz eigene, bewundernswerte Magie entfalten, in der man sich gerne verliert. Hinzu kommt: Mey mag nicht der komplexeste Texter sein, er besitzt jedoch eine wichtige Eigenschaft: Er ist bisweilen schonungslos.

Einen dermaßen brutalen emotionalen Striptease wie "Dann Mach's Gut" oder "Der Vater Und Das Kind" hat sich nicht einmal Cave nach dem Tod seines Sohnes zugemutet. Mey wühlt auf diesen Tracks mit beiden Händen tief in der Psyche nach dem Krankheitstod seines Sohnes. Doch auch abseits vom unmittelbaren Schmerz ist Meys Fähigkeit, die eigenen Gedankengänge, Ängste, Nöte und Hoffnungen zu schildern wie auf "Wir Haben Jedem Kind Ein Haus Gegeben" ebenso herausfordernd wie lohnend. "Dieter Malinek, Ulla Und Ich" ist das deutsche "Famous Blue Raincoat" und steht diesem in der bemitleidenswerten Lethargie des zweiten Siegers in nichts nach. Eben weil Mey immer nur von sich selbst ausgeht, gelingt ihm auf "Weißt Du Noch, Etienne?" eine den meisten bekannte Situation, den Auslandsaustausch zu einer packenden, nachvollziehbaren Schilderung auszubauen. Zu diesem Reigen zählt auch "Was Will Ich Mehr" und das überaus komplexe "Gerhard Und Frank", weitere Highlights von "Das Haus An Der Ampel", eines seiner besten Alben und erst 2020 veröffentlicht.

Nun kommt das 'Aber': Mey beherrscht ebenso fließend den Liedermachersingsang, der handwerklich sauber ist, aber nicht recht von der Stelle kommt und keinen Spannungsbogen aufbaut. Dazu trägt natürlich bei, dass Mey, wie oben erwähnt, die Gitarre nicht gerade virtuos behandelt und zwischen Zupfen und Anschlagen immer das Zupfen wählen wird. So strecken Filler wie "Die Erste Stunde", "Alter Freund", "Häng Dich Nicht An Einen Hund" und "Viertel Vor Sieben" mit ihrem ewig gleichen Tempo das Album unnötig. Dazu zählt im Übrigen auch der Closer von Schwiegersohn Matthew Pearns; "The Song Maker" ist nordamerikanischer Pop-Folk von der Stange, nicht weiter erwähnenswert. Aber natürlich schält sich durch die Zugaben das unvermeidliche "Über Den Wolken". Man will schon die Augen verdrehen, wenn das Publikum zum Mitsingen ansetzt – und erwischt sich dann selbst dabei.

Trackliste

  1. 1. Ich Wollte Wie Orpheus Singen
  2. 2. Spielmann
  3. 3. Das Haus An Der Ampel
  4. 4. In Wien
  5. 5. Alter Freund
  6. 6. Glück Ist, Wenn Du Freunde Hast
  7. 7. Die Erste Stunde
  8. 8. Dann Mach's Gut
  9. 9. Wir Haben Jedem Kind Ein Haus Gegeben
  10. 10. Häng Dein Herz Nicht An Einen Hund
  11. 11. Ich Liebe Es, Unter Menschen Zu Sein
  12. 12. Dieter Malinek, Ulla Und Ich
  13. 13. Weißt Du Noch, Etienne?
  14. 14. Der Vater Und Das Kind
  15. 15. Ich Liebe Dich
  16. 16. Männer Im Baumarkt
  17. 17. Zimmer Mit Aussicht
  18. 18. Gerhard Und Frank
  19. 19. Was Will Ich Mehr
  20. 20. Über Den Wolken
  21. 21. Viertel Vor Sieben
  22. 22. Gute Nacht, Freunde
  23. 23. The Song Maker

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