laut.de-Kritik

Auch ein weniger gelungenes Album ist bei ihm ein gutes.

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Eine Akustikgitarre war alles, was Paul Simon früher zum Musizieren brauchte. Vom Singer/Songwriter von einst hat er sich aber längst verabschiedet. "Ich beginne mit einer rhythmischen Basis, dann begebe ich mich weiter zu einem farbigen Klang, dann zur Melodie, schließlich zu den Texten. So habe ich die Möglichkeit, auf Reize zu reagieren, so wie wenn man sich mit jemandem unterhält. Es liegt in der Natur einer Konversation, keine Form zu besitzen. Wenn wir immer wüssten, was als nächstes kommt, wären wir gelangweilt und würden uns nicht unterhalten", erklärt Simon in einem Interview zur vorliegenden Platte.

Wie sich das im Musik umgesetzt anhört, zeigt der Opener "How Can You Live In The Northeast?": E-Gitarre, elektronische Geräusche und Keyboardsequenzen, garniert mit leisen Beats und einem Gitarrensolo. Wer ein Folk-Album mit Akustikgitarre oder tribalen Rhythmen erwartet hat, darf spätesten hier "Old Friends - Live On Stage" oder "Graceland" auspacken, denn davon gibt es auf "Surprise" kaum einen Takt zu hören.

Wahrlich eine Überraschung ist die Zusammenarbeit mit Brian Eno, der für die "Klanglandschaft" verantwortlich zeichnet. Sie hätten sich bei einem Abendessen in London kennen gelernt und beschlossen, zusammen an einem Album zu arbeiten, erzählt die britische Elektronik-Koryphäe. Wobei der Anfang recht zäh gewesen sei. "Als ich ins Studio kam, war er dabei, eine Gitarre über einer Schlagzeugspur aufzunehmen. Immer und immer wieder. Ich konnte zwischen einer Aufnahme und der folgenden keinen Unterschied feststellen. Ich dachte mir, 'Mist, wie lange soll das noch dauern?'"

Schließlich winkt Eno Simon mit dem Zaunpfahl auf die Straße. "Nächste Woche ist Muttertag, oder? Dieses Stadtteil ist nicht das schlechteste, um nach einem Geschenk zu schauen." Als Simon zurückkommt, hat Eno eine erste "Landschaft" ausgearbeitet. "Das ist fantastisch!" soll sein Kollege geäußert haben, "ich habe ein altes Lied, das gut dazu passt". Auf diese Art setzte sich die Zusammenarbeit fort. "Wenn du willst, gehe ich jederzeit wieder zum Einkaufen", soll Simon zwischendrin gefrotzelt haben.

Das klingt ganz nett, wirklich funktionieren tut es aber nicht. Simons melancholische Erzählstimme passt einfach nicht zu den elektronischen Spielereien im Hintergrund. "Everything About It Is A Love Song" erinnert stellenweise an "Little Fluffy Clouds" von The Orb, "Outrageous" klingt dagegen funky und entfernt nach Prince. "Sure Don't Feel Like Love" kommt, ähnlich wie "Another Galaxy", ganz minimalistisch mit kaum mehr als Schlagzeug, Bass und einzelnen Akkorden aus.

Wie viel Mühe sich Simon gegeben hat, zeigt allein die Tatsache, dass die Aufnahmen in acht verschiedenen Studios stattgefunden haben. Zu den Beteiligten gehören der treue Wegbegleiter Steve Gadd am Schlagzeug, Pianist Herbie Hancock (kaum wahrzunehmen in "Wartime Prayers"), Bassist Pino Palladino sowie die Gitarristen Vincent Nguini (auf "Father And Daughter") und Bill Frisell (auf "Everything About It Is A Love Song"). Alle anderen Gitarrenspuren hat Simon selbst eingespielt, sowohl akustisch als auch mit einer Vielzahl an Effekten. Das ist beachtlich, zumal er nach einer Entzündung des Handwurzelknochens das Spielen wieder neu lernen musste.

Auch textlich hat sich Simon vom traditionellen Schema verabschiedet. Er trägt nicht mehr Geschichten vor, sondern eher Gedankenassoziierungen – was auch daran zu erkennen ist, dass die Texte im Booklet nicht in Versform, sondern als Prosa aufgeführt sind. Fast scheint es, als sänge er darüber, was ihm gerade durch den Kopf geht, darunter Jugendwahn (Track 3), Politik (Track 4), die aktuelle Lage (Tracks 1,5), Adoptionstourismus (Track 7), Frauen, die von ihrer Hochzeit weglaufen (Track 8) und die unendliche Liebe zu seiner Tochter (Track 11).

Immer wieder gelingt ihm ein guter Satz, wie etwa "The broker informed me I'm broke". Oder, existenzialistisch, "I don't believe we were born to be sheep in a flock. To pantomime prayers with the hand of a clock". Zwar sehnt er sich in "That's Me" in die Vergangenheit zurück ("I wish that we could run away and live the life we used to. If just for tonight and tomorrow"), aber Simon hat sie 2004 in Rom hinter sich gelassen. "Nothing is different but everything's changed" singt er bezeichnenderweise in "Once Upon A Time There Was An Ocean".

Paul Simon hat in seiner Karriere musikalisch viel ausprobiert. Dafür, dass er sich mit 64 traut, zum ersten Mal auf elektronische Mittel zu setzen, verdient er Respekt. "Surprise" wird in seiner umfangreichen Diskographie einen der hinteren Plätze einnehmen, doch auch ein weniger gelungenes Album ist bei ihm ein gutes.

Trackliste

  1. 1. How Can You Live In The Northeast
  2. 2. Everything About It Is A Love Song
  3. 3. Outrageous
  4. 4. Sure Don't Feel Like Love
  5. 5. Wartime Prayers
  6. 6. Beautiful
  7. 7. I Don't Believe
  8. 8. Another Galaxy
  9. 9. Once Upon A Time There Was An Ocean
  10. 10. That's Me
  11. 11. Father And Daughter

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66 Kommentare, davon 64 auf Unterseiten

  • Vor 17 Jahren

    Gerade im Radio Father and Daughter gehört, gedacht, noch so ein junger Sänger tralalla...dann wurds ausgeblendet, der gute alte Paul Simon :o.

    das komplette Album (uos, doch nicht so komplett :sweat: ) kann man sich hier (http://www.paulsimon.com/player.php) anhören.

    Meinungen? Schonmal schön, dass man das ganze Album anhören kann!

    Produziert von Brian Eno, aber keine WM Hymnen dabei :)

  • Vor 16 Jahren

    Ich finde die scheibe "surprise"v überaus überraschend frisch und halte es für eine gelungene Mischung aus sanfter Elektronik und songwriting. Paul Simon und Brian Eno haben da eine sehr seltene Klangstruktur erschaffen. So das dieses Album bei mir und in meinem Bekanntenkreis sehr gut aufgenommen wurde. Das hätte Paul keiner mehr gegeben ;-)

    Gruß schneppie