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Platz 1: "Bleibt Alles Anders", 1998

"Dies ist deine erste gute Platte", sprach Anna Henkel-Grönemeyer, die selbst als Co-Texterin an zwei Songs beteiligt war. "Für dein Leben nach mir wünsch' ich dir viel Pech / Ich hoffe es geht dir richtig schlecht" tönt es im ersten der beiden, in "Nach Mir", und es klingt, als knüpfe das Paar Grönemeyer damit unmittelbar an die letzten Zeilen ("Dein Leben wird die reinste Hölle") des Vorgängeralbums an. Ob nun fiktionale Reiberei oder schlicht tonnenschwerer Galgenhumor im Angesicht der Krankheit: Besonnenheit, Wandel und Endlichkeit ziehen sich als Leitmotive durch "Bleibt Alles Anders": Strudel, in denen man zu ertrinken droht, Preise, die es zu bezahlen gilt, viel, das es zu verlieren gibt.

Dabei verhält es sich mit der Musik auf "Bleibt Alles Anders" genauso wie mit dem furchtbaren Sonnenbrille-Style auf dem Frontcover: Sie klingt so unironisch und stehen geblieben nach späten 90ern, dass man sie als Zeitdokument experimenteller Tage einfach lieben muss. 1996 trifft Grönemeyer erstmals auf Soundtüftler Alex Silva, mit dem er bis in die 2020er hinein alle kommenden Alben produzieren wird. Gemeinsam werfen sie die bisherigen Aufnahmen von Herberts Band über Bord (Begeisterung!), und einigen sich auf eine flächigere, an Drum'n'Bass und Trip Hop angelehnte Produktionsweise – die Bristol-Szene hatte es damals auch dem Musikkonsumenten Grönemeyer angetan.

Tracks wie "Selbstmitleid" zeigen einen nachdenklichen, ruhigen, wenn überhaupt aber nur subtil traurigen Grönemeyer, der nicht mehr schreien muss, um sich mit seinen Messages Gehör zur verschaffen. Stattdessen regiert streckenweise der gerade in den Strophen betont tiefenentspannte Bariton, der nur vereinzelt in die flehentlichen hohen Lagen rutscht, etwa wenn er auf "Letzte Version" fleht: "Denk auf deiner Zeitreise mal an mich" – und da ist sie auch schon versteckt, die letzte, "neue Zeitreise" aus dem vier Jahre später erscheinenden "Der Weg".

Die Aufbruchsstimmung im Titeltrack vermittelt Grönemeyers Erkenntnisse der letzten Jahre: Verlustängste sind berechtigt, irgendwann im Leben wird sich eh wieder alles ändern. Grönemeyer aber mag nicht warten und startet den Umbau, wo er ihn kontrollieren kann: in seiner Musik. Während das bedrohlich-angejazzte "Fanatisch" noch alten (wenn auch verklausulierten) Storytelling-Pfaden folgt, so schneidet ein "Ich dreh mich um dich" mit derart emotionaler Klinge, dass es schlicht und ergreifend den Breaking-Point in seinem gesamten Schaffen markiert.

"Ich stell' mich vor den bösen Blick / Deine Tränen werd' ich übernehmen / Alle Qualen, alle Folter überstehen" – was er 1984 noch mit den Worten "Ich bin für dich da / Egal, wie's dir geht" vermittelt, bricht sich nun in losen Assoziativketten Bahn, die viele erst mit "Mensch" zu schätzen wissen – oder überhaupt erst kennengelernt haben. Doch die initiale Verletzlichkeit, die sich bitterlich langsam öffnende Wunde, das war immer "Bleibt Alles Anders" – ohne dessen tiefgreifende Selbsterkenntnis es eine so hoffnungsvoll gestimmte Rückkehr mit "Mensch" nie hätte geben können. Tragischerweise lassen die ein halbes Jahr später eintretenden Trauerfälle eine nachhaltige, wirkungsentfaltende Beschäftigung mit diesem so besonderen Album damals kaum mehr zu.

"Auf allen Würfeln fällt die Sechs, die Limits brechen weg"

Was vom mutigsten aller Grönemeyer-Alben bleibt, ist heute lediglich der Titeltrack als nicht mehr wegzudenkender Dauergast seiner Live-Setlist. Nur manchmal, mit ganz viel Glück, erklingt dann doch Herberts wichtigste Komposition überhaupt – immer dann, "wenn der Kompass nur Himmel und Hölle zeigt".

Anspieltipps: Alle.

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3 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor einem Jahr

    Ja. Der künstlerische Höhepunkt im Schaffen des Herbert G. Volle Zustimmung.
    Wäre schön gewesen, wenn er danach nochmal solchen Mut entwickelt hätte. Hat er aber nicht. Leider.

  • Vor einem Jahr

    “Nach mir” fängt so schön an, bin geschockt so geil. Diese hook macht alles kaputt.

  • Vor einem Jahr

    Boah!!! Ich war schon lange nicht mehr so gefesselt von einem Text und mit dem letzten Satz schießen mir nun auch noch die Tränen in die Augen, aber ich habe auch einen ganz privaten Bezug zu diesem Album und im speziellen zu diesem Song. Gefesselt vom ersten Album des Ranking bis zum, auch von meiner Seite aus, absolut berechtigten Platz 1, war ich wirklich gefesselt und konnte mich nur schwer beherrschen nicht doch zwischendurch zu spicken wer ganz vorne steht. Umso geplätteter bin ich jetzt. Das Lesen hat sich 1000 prozentig gelohnt und ich habe es echt genossen! Wobei ich auch zugeben muss, dass ich Herbert in den letzten Jahren etwas vernachlässigt habe. Doch schlagartig ist alles wieder da und mit so vielen Erinnerungen verbunden. Vielen Dank für diesen Artikel, war voll mein Ding und spiegelt absolut auch meine eigene Meinung wieder.