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Chief Keef: Retrospektive Pt.4

The Cozart - Chiraq & Soldier (2018)

Wenn ihr jetzt jedoch denkt, verrückter wirds nicht mehr, dann habt ihr Chief Keefs Arbeitsethos unterschätzt. Der Mann hat keine, ich wiederhole: keine Hemmungen, jedes noch so bekloppte Experiment ohne Rücksicht auf Verluste auszuprobieren, und wieder und wieder, allen Widrigkeiten zum Trotz, schafft er es irgendwie, damit nicht komplett auf die Fresse zu fallen. Nach einigen, für seine Verhältnisse klassischen und wenig aufregenden Projekten folgte im Jahr 2018 "The Cozart": ein groteskes Konglomerat aus Drill, R'n'B und, bitte anschnallen, House.

Das Ganze am Stück zu hören fühlt sich an wie eine Achterbahnfahrt, die von den Schützengräben Chicagos direkt in den Nachtclub rast. Das mit einem Song zusammenzufassen ist im Grund unmöglich, weil sich Keefs Wahnsinn hier so ungeschönt wie nie zuvor in seiner ganzen Breite entfaltet. Deswegen möchte ich zwei Songs highlighten:

Der erste, "Chiraq", ist eine wunderschöne Ballade, die Keef so offen, ehrlich und reflektiert wie nur ganz selten zeigt. "Can't even be in own my hometown / They said that I wouldn't make it out": Die erste Zeile des Songs trifft direkt in die Magengrube, und auch wenn Keef im weiteren Verlauf seinen lyrischen Fokus etwas verliert, wohnt dem Song ein bittersüße Melancholie inne, ein Hoffen auf Versöhnung auf eine bessere Zukunft, auf ein gerechteres Leben. Feature-Sängerin Jean Em gibt dieser Hoffnung eine Stimme: "Love will come back", verspricht sie am Ende über anschwellende Piano-Keys. Der Song endet, man fühlt sich beinahe dazu geneigt, eine Träne zu verdrücken, und dann crasht "Soldiers" stampfender Elektro-Beat die Trauerfeier.

Dass diese beiden Songs in der Tracklist direkt aufeinander folgen, ist absolut irrwitzig. Da besingt Keef eben noch besonnen seine eigenen biografischen Hürden und die Gewaltspirale seiner Heimatstadt, um im nächsten Moment über ein Eurodance-Instrumental herzufallen. Es ist bizarr, doch wie so oft im Falle Chief Keef ist es ein Experiment, das sich auszahlt. "Soldier" ist ein Banger, ein Song, wie ihn zu dieser Zeit in diesem Genre niemand anderes als Keef hätte machen können, weil schlichtweg niemand die Eier dazu hatte.

Man könnte hier durchaus auch die Brücke zu neueren Releases dieser Art schlagen und die These aufstellen, dass Keef wieder einmal Vorreiter heutiger Trends war. Das erscheint mir in diesem Fall allerdings dann doch ein wenig zu weit hergeholt, außerdem ist diese Retrospektive ohnehin schon viel zu lang geraten.

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