Der Zeit-Journalist lässt die Pioniere des Krautrocks sprechen: Can, Neu!, Amon Düül oder Tangerine Dream.

Kosmos/Deutschland (rnk) - Auf einer Zugfahrt nach London, irgendwann Anfang der 00er-Jahre, kam ich mit einem Sitznachbarn ins Gespräch und entschuldigte mich für unsere schlagerhafte Scheißmusik. "Bist du verrückt? Aus Deutschland kommt doch die beste Musik! Krautrock!! Kraftwerk! Can!" Krautwo? Krautwie? Krautwas? Ein Buch wie "Future Sounds: Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten" von Christoph Dallach (Suhrkamp, Taschenbuch, 511 Seiten) hätte mir damals wohl extrem geholfen, stattdessen brach ich das Gespräch aufgrund zu geringer Kenntnisse ab.

Der erste Kontakt mit Krautrock lief für Dallach ähnlich unfreiwillig ab. Eigentlich nahm er als Jugendlicher nur an einem Preisausschreiben teil und gewann "Movies" von Holger Czukay. Aus anfänglicher Skepsis wurde recht schnell eine Liebe für die neuen und ungewöhnlichen Töne, die er für sein Buch mit den wichtigsten Protagonisten noch einmal Revue passieren lässt.

Der Zeit-Journalist wählt dafür die Form der Oral History, in der ausschließlich die Interview-Partner das Wort ergreifen, und der Autor diese chronologisch anordnet. Gemeinsam mit Mitgliedern und Zeitgenossen von u.a. Can, Neu! und Brian Eno spricht er diese wohl spannendste Epoche der deutschsprachigen Populärmusik, deren Einfluss die Musiklandschaft bis heute verändert und bis ins Werk von Kanye West, Mars Volta, Radiohead oder Tyler, The Creator nachwirkt.

Weder Kraut noch Rock

Die Einordnung des Genres gerät dabei so schwierig wie die Erklärung der Entstehung des Begriffs Krautrock. Michael Rother (Neu!) mochte ihn nie und auch Jaki Liebezeit störte das 'Rock', denn genau das wollte er nicht sein. Lieber wäre ihm Pop gewesen. Die Briten dagegen brauchten einen Begriff, um diese neue Musik irgendwo zu verorten.

Simon Draper behauptete, der Erfinder des Begriffs zu sein, aber auch Radio-Legende John Peel benutzte ihn, um seiner Hörerschaft diese Art von Zukunftsmusik näher zu bringen. Doch auch Iggy Pop und Brian Eno fanden die Bezeichnung daneben, da sie immer noch die Verbindung zum Weltkrieg und den 'Krauts' herstellt. Dabei wollte diese Musik mit ihren langen Jam-Passagen und Sensibilität genau nicht typisch deutsch grobschlächtig und teutonisch wirken. Wohl ein Grund, warum ausgerechnet die größte musikalische Errungenschaft Nachkriegs-Deutschlands lange ein Nischendasein fristete.

Nazis & Jazz

Die Eltern- und Lehrer-Generation versuchte damals entweder die Vergangenheit zu vertuschen oder lebte weiterhin unverhohlen einen Rassismus aus. "Das ist ja wie in einer Judenschule!" gehörte zu einem alltäglichen Ton, an dem sich die Schulleitung nicht weiter störte. Cans Irmin Schmidt sagt, dass auch diese kalte emotionslose Zeit in den melancholischen Momenten verarbeitet wurde. Jazzmusik war eine Zuflucht, auch weil sie die Eltern als "diese furchtbare Negermusik" provoziert und eine Alternative zu Uffta-Musik und Schlager bot.

Die noch Jahrzehnte vorher innovative deutsche Kulturlandschaft litt unter den Folgen des Naziterrors. "Die Nazis hatten nach Zweiten Weltkrieg ein kulturelles Vakuum hinterlassen. Linke und liberale Künstler und Intellektuelle waren entweder emigriert oder im KZ umgekommen." In der Improvisation des Jazz findet sich ein Vorläufer des Krautrocks. Durch amerikanische Radiosendungen und Sendungen wie "Voice Of American Jazz" kamen die Kids aus Deutschland mit John Coltrane in Berührung und gründeten darauf selber Bands.

Tradition und Trips

Ende der Sechziger wehte ein Klima der Veränderung durch Deutschland. Willy Brandt setzte in seiner Politik auf einen neuen modernen Ton, die Studenten hatten keine Lust mehr auf den Nazi-vererbten Muff an den Unis und weiteten den Protest auf die Straßen in Schwabing und Kreuzberg aus. Obwohl viele Krautrock-Protagonisten die Politisierung eher negativ antizipierten, hegten auch sie den Wunsch nach Veränderung. Die Amerikaner und Engländer übernahmen und verarbeiteten ihre Rock-Tradition weiter, die Krautrocker wollen genau das Gegenteil davon. Nichts sollte mehr an die Strukturen von Marschiermusik und Schlager erinnern. In autodidaktischer Weise erlernte Agitation-Free-Musiker Michael Hoenig die Verwendung elektronischer Modular-Systeme wie der Farfisa Compact Duo.

Auch nicht unbedingt kreativ hemmend wirkte die Einnahme von LSD und anderen bewusstseinserweiternden Drogen. Bernd Witthüser von den Kult-Krautrockern Witthüser & Westrupp beschreibt mit "Boom!" treffend den ersten Joint und die folgenden Erfahrungen als "sehr, sehr schön", auch Harald Grosskopf überträgt den Rauschzustand auf die Musik von Ash Ra Tempel. Hans-Joachim Roedikus (Cluster) sagt rückblickend: "Ohne Drogen wäre mein Leben auf eine völlig andere Bahn geraten". Can behaupten dagegen, dass die Einnahme von Drogen den Sound nicht wesentlich beeinflusste.

Koffer in Berlin und Begeisterung in England

Einen weiteren Schub erfuhr Krautrock durch das Elektronik Beat Studio in Berlin, das für die Fans zu einem Raum wurde, in dem sie auch ohne akademische Ausbildung mit dem Produzenten Thomas Kessler ihren Sound unter professionellen Bedingungen ausarbeiten konnten, unter anderem mithilfe des damals revolutionären Synthi-A. "Für Agitation Free war Thomas Kessler das, was George Martin für die Beatles war." Hier entsteht ein kleines Epizentrum, aus dem auch Tangerine Dream hervor gehen.

Steven Wilson (Porcupine Tree), der den Progressive Rock sehr beeinflusste, erinnert sich, dass Tangerine Dream die erste deutsche Band überhaupt war, die er hörte. Ähnlich wie damals Dallach bei Czukay hegte er erst einmal wenig Interesse und dann zunehmend eine große Liebe für Songs wie "Zeit". Auch sein Landsmann und Virgin Records-Mitbegründer Simon Draper erinnert sich, wie das Interesse an dieser Art von Musik in England stetig wuchs. Dass die Krautrocker kaum sangen und mehr Wert auf instrumentale Passagen legten, erleichterte den Zugang.

Der einflussreiche BBC-Radiomoderator Peel spielte vor allem Tangerine Dreams "Phaedra" (1974) rauf und runter. In England wurden die ko(s)mischen Krauts mit offenen Ohren empfangen. Virgin Records-Chef Richard Branson stellte Tangerine Dream sofort einen Scheck aus und ließ sie einfach machen. Die Offenheit zahlte sich aus: "Phaedra" landete hoch in den englischen Charts, auch in den USA zeigte man sich sehr interessiert an dem radikal neuen Klang.

Neu!/Ende

Über das Ende von Krautrock herrscht bei den Protagonisten überwiegend Einigkeit. Die erste Welle wurde spätestens Anfang der 80er vom Mainstream assimiliert und kommerziallsiert. Lutz Ludwig Kramer von Agitation Free sieht die späteren Alben von Tangerine Dream nur noch als schwache Kopie früherer Größe. Holger Czukay kann überraschend wenig mit den Düsseldorfer Nachbarn von Kraftwerk anfangen, näher liegen ihm DAF. Irmin Schmidt sieht viel in der Musik von Sonic Youth, was ihn an Can erinnert. Überhaupt fällt auf, dass auch heute immer noch das Ausland begeisterter über das Musikphänomen spricht. Junge Menschen aus Amerika schreiben Renate Knaup noch heute wegen ihrer Zeit bei Amoon Düül an.

Am vergangenen Sonntag brach Krautrock-Fan Branson, begleitet von vier Astronaut*innen, ins All (oder zumindest in seine Nähe) auf. Im Raumschiff VSS Unity zeigte die Livekamera eine ausgelassene Crew, die auf einem Smartphone Musik hörte. Gut möglich, dass er beim Aufbruch in eine neue Ära genau jene kosmische Musik hörte, die damals die Popwelt revolutionierte.

Autor Christoph Dallach im Kurz-Interview:

Am Wochenende flog Virgin Groups Richard Branson, ein großer Krautrock-Fan, ins All und hörte sichtlich begeistert Musik auf seinem Smartphone. Welchen Track könntest du dir da passend zum Anlass vorstellen?

Als Gruß an alles, was da herumschwirren mag: "Hallogallo" von NEU!

Was ist deine Interpretation, warum Deutschland sehr lange mit dieser Art von Musik fremdelte?

Die deutsche Kulturszene von Feuilleton bis Fachpresse tat und tut sich schwer mit herausfordernder Kunst: Da waren/sind uns Briten, Franzosen, Italiener und viele andere weit überlegen. Und was Rockmusik angeht, hatten wir nahezu einen Minderwertigkeitskomplex. Kein Wunder, dass US/UK-Rock von Bands wie den Scorpions brav kopiert wurde.

Du hast dich schon mehrfach mit dem Thema Krautrock auseinander gesetzt. Warum lässt dich das Thema nicht los, und wie viel Arbeit und Recherche hat das Buch gekostet? Auf deinem Insta-Account steht "nach gefühlt 100 Jahren".

Wirklich auseinander gesetzt mit dem Thema habe ich mich nur in diesem Buch. Zuvor hatte ich mit Musikern von CAN, NEU!, Tangerine Dream und anderen nur vereinzelt gesprochen, einfach weil alle spannenende Musik produziert haben. Mit dem Thema bin ich insbesondere im Ausland (also in Plattenläden rund um die Welt) immer wieder konfrontiert worden, in Rio wurde ich nach Kraan und Klaus Schulze gefragt. Da ich beruflich viel rumgekommen bin, ergaben sich immer wieder Situationen, in denen ich um Auskunft gebeten wurde, aber letztlich keine Ahnung hatte. Was ich zunehmend unbefriedigend fand. Auf die Idee zum Buch kam ich, nachdem ich die Red Hot Chili Peppers mit Michael Rother sah und es traurig fand, dass in Hamburg, wo Rother zeitweilig auch lebte, kaum einer wusste, wer er ist. Das Buch war durchaus aufwändig, weil ich so vielen Leuten nachspüren musste. Wobei ich allerdings auch zweitweilig zu viele andere Dinge gemacht habe und diverse Deadlines des tiefenentspannten Verlags verstreichen ließ.

Deutschland hat den Zug damals eigentlich verpasst. Glaubst du, es könnte hier nun doch noch eine Art Revival eben? Die Band Fotos hat zum Beispiel ihr neues Album stark an diese Musikrichtung angelehnt.

Das Revival läuft bereits, also die überfällige Anerkennung dieser Künstler hierzulande. Nicht umsonst ist das nachgereichte Can-Livealbum vor drei Wochen auf Platz 14 (!) in den deutschen Charts gelandet. Can sind letztlich so wichtig wie Kraftwerk und das wird nun immer mehr Menschen klar. Außerdem haben die Sozialen Netzwerke für eine Verbreitung dieser Musik bei nachgewachsenen Generationen gesorgt, was deutlich spürbar ist.

Es gab wenig Frauen in diesem Genre - trotz Pionierinnen gerade im elektronischen Bereich wie etwa Wendy Carlos.

Die Musikszene war damals generell von Männern dominiert. Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger gab es so gut wie keine Frauen in Rockbands, Moe Tucker (Velvet Underground) war die Ausnahme. Krautrock war da nicht anders. Es gab Renate Knaup, Suzanne Doucet getarnt als Zweistein und Hildegard Schmidt, die Can-Managerin. Damit war Krautrock fast der Zeit voraus.

Christoph Dallach - "Future Sounds"*

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Kraftwerk

Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz) Kraftwerk,  | © laut.de (Fotograf: Dominik Kautz)

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