laut.de-Kritik

Meilenweit weg von einer Hetzjagd durch wilde Akkordlandschaften.

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Eine von vielen Liebeserklärungen an "Kind Of Blue" schickte Donald Fagen: "Wegen der tranceartigen Atmosphäre, die das Album schafft, war es die perfekte Hintergrundmusik für Sex." Für Quincy Jones stand "Kind Of Blue" als "täglicher Orangensaft" fest auf dem Ernährungsplan. Beiden gemein ist die Tatsache, "Kind Of Blue" zum Lebenselixier erhoben zu haben. Der eine auf dem Nachttisch zur Steigerung der Libido, der andere auf dem Frühstückstisch als Aufputschmittel für den Start in den Tag.

Viele Legenden ranken sich um dieses Meisterwerk mit Makel. So konnten die drei Stücke "Freddie Freeloader", "So What" und "Blue In Green" aus der ersten Aufnahmession am 2. März 1959 erst 1992 zu ihrer ursprünglichen Form zurückfinden. In dieser langen Zwischenzeit litten sie darunter, einen Viertelton höher zu erklingen als ursprünglich eingespielt. Das Problem war die Masterbandmaschine, sie lief während der Aufnahmen schlicht zu langsam mit.

"Kind Of Blue" war Miles Davis' Versuchslabor, um den modalen Jazz zu erproben. Nicht mehr das sture Befolgen schablonenhafter Akkordwechsel bestimmte die Richtlinie. Es wurde das Credo ausgerufen, auch für längere Zeit in derselben Position zu verharren. Erfolgte im Bebop noch die Hetzjagd durch illustre Akkordlandschaften, gab es nun keinen Grund zur Hast. Die wenigen Tonskalen, über die die Musiker spielten (bei "So What" sind es zwei, bei "Flamenco Sketches" fünf) waren für sie Herausforderung genug. Miles Davis sagte selbst: "Bei der modalen Form musst du melodische Fantasie beweisen."

Um dieser Forderung nachkommen zu können, notierte der Bandleader seine Kompositionen nicht. Er betrieb, wenn überhaupt, fleißig Zettelwirtschaft, indem er ein paar Spielvermerke auf lose Blätter kritzelte. Für seine Bläser- und Rhythmusfraktion muss das ein Schlag ins Gesicht gewesen sein. Es kam auch vor, dass er kurz vor knapp, wie bei "All Blues", die Taktart änderte. Als wäre hier nicht schon genug Weißglutpotential enthalten, kannten Davis' Mitstreiter (sie wurden nach dem Regeltarif für Sessionmusiker bezahlt) keine Richtung, keine Grundierung, keinen Anfang und kein Ende der Stücke.

Sie tappten erst im Dunkeln und mussten sich dann auf fremdem Terrain zurechtfinden. Dem Wohlfühlgedanken wurde schnell noch Ade gesagt, ehe man sich auf den einzigen Spiritus rector einlassen konnte: Das Bauchgefühl. Nur so konnte das spontane Hinausschleudern von Ton und Takt auch eingefangen werden. Erst diese intuitiven Gesten machten "Kind Of Blue" zum täglich Brot aller Jazz-Jünger. Bei den Abweichlern und halbscharigen Best Of-Discountkäufern ließ sich immer ein Exemplar aufspüren, wenn auch sonst kein Jazz im Haus vertreten war.

Beide Aufnahmen – die zweite fand am 22. April 1959 statt, bei der "Flamenco Sketches" und "All Blues" aufgezeichnet wurden – fanden in den Columbia Studios in New Yorks 30. Straße statt. Wo Tonbänder und Klimperkästen herumstanden, befand sich vormals an Ort und Stelle eine Kirche. Einer Beweihräucherung stand "Kind Of Blue" zumindest hier nichts im Weg. Für Miles Davis lagen die ideellen Passgeber dennoch auf der irdischen, weniger auf der religiösen Seite.

Da war Aram Khatchurian, dessen Kompositionen von armenischen und kaukasischen Volksweisen geprägt wurde und das Konzept der Spontankunst aus der japanischen Malerei, die in Davis' Werk ihren Niederschlag fanden. Außerdem sind die Skalen, auf die Davis seine Kapelle so einschwor, enge Verwandte asiatischer und afrikanischer Musiken. "Kind Of Blue" hat gerade deshalb bis heute so eine weltweite Strahlkraft, weil es vorher sowohl den Zeitgeist als auch die über alle Ecken und Enden der Erde verstreuten Traditionen aufgesogen hatte.

Mit den Lorbeeren darf sich jedoch nicht Miles Davis allein schmücken. Der einzig Weiße im Sextett, Pianist Bill Evans (es gab neben ihm noch Wynton Kelly, der allerdings nur auf "Freddie Freeloader" vertreten ist), lieferte mit seinem "Peace Piece" die Steilvorlage zu "Flamenco Sketches" und hauchte ihm den spanischen Geist ein. Paul Chambers webte stoisch und gleichmäßig seine stetig wiederholende Bassfigur ins über elfminütige "All Blues" ein. Und die beiden Saxophonisten John Coltrane und Cannonball Adderley zügelten sich und ihre exzentrischen Charaktere, trainierten ihre Geduld und zogen an mancher Stelle lieber die Töne als sie enthemmt auf uns loszulassen.

Der einzig noch Lebende aus dieser Patina-Ära, Schlagzeuger Jimmy Cobb, sagte nachträglich: "Wir haben damals nicht im Traum gedacht, dass die Platte zu dem werden würde, was sie geworden ist." Nun ist sie der Kosmopolit unter all den populären Produktionen. Und das ohne eine einzige Silbe singen zu müssen. Wie doch der Klang über allem stehen und gleichzeitig polyglott sein kann.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. So What
  2. 2. Freddie Freeloader
  3. 3. Blue In Green
  4. 4. All Blues
  5. 5. Flamenco Sketches

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