laut.de-Kritik

Josh Tillman bringt das Golden Age of Hollywood zurück.

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Noch vor wenigen Jahren war Father John Misty so etwas wie das enfant terrible des Folk-Rock. 2016 ging er die beiden BBC-Radio-Moderatoren Mark Radcliff und Stuart Maconie an, weil er mit ihrer Gesprächsführung unzufrieden war. Im Jahr darauf machte er sich über Ryan Adams Version vom Taylor Swift-Album "1989" lustig und bekam dafür von Adams auf Twitter das Label "selbstgefälligstes Arschloch der Welt" aufgedrückt. Taylor Swift erwähnte er auch in einer unrühmlichen Line im Song "Total Entertainment Forever": "Bedding Taylor Swift / Every night in the Oculus Rift", sang er da und geriet so ins Visier der Swifties.

Auch wenn Tillman immer wieder beteuerte, Father John Misty wäre keine Kunstfigur, es handle sich dabei lediglich um einen schön klingenden Bühnennamen, der sich gut auf T-Shirts mache, neigte man bei all dem trolling und der Ungreifbarkeit des Musikers doch immer wieder zu einer Differenzierung zwischen dem Menschen Tillman und dem Showman Misty. Wenn man das nicht tat, musste man sich schließlich eingestehen, dass Tillman - und nicht sein Alter Ego Misty - tatsächlich etwas überheblich (und vielleicht auch ein bisschen "selbstgefälliges Arschloch") war. Er war eine Zeit lang so präsent im US-amerikanischen Musikjournalismus, dass das Paste Magazine 2019 in einem langen Artikel die Rückkehr des Provokateurs forderte, nachdem dieser im Vorjahr seine Social-Media-Kanäle deaktiviert und nur noch sehr sporadisch Interviews gegeben hatte.

Nachdem er 2020 die Live-Platte "Off-Key In Hamburg" veröffentlichte, meldet sich Tillman nun tatsächlich mit einem neuen Studio-Album zurück. Die Social Media-Accounts beschränken sich auf Bewerbungen des Albums, Interviews sind weiterhin rar gesät - es scheint so, als ob Father John Misty mit den kürzlich geschorenen Haaren einen Wandel unterstreichen wollte. Die Zeit des Provokateurs scheint vorbei, die Musik spricht fortan für sich. Auf "God's Favorite Customer" begann dieser Prozess 2018 bereits. In den Piano-Balladen des Albums gab sich Tillman verletzlich und nahbar, machte sich beispielsweise in "The Songwriter" Gedanken darüber, wie er seine Frau Emma Elizabeth Tillman für seine Texte ausnutzte. Nun scheint er von den dort besungen Sorgen befreit, klingt frisch und ausgelassen und liefert auf "Chloë And The Next 20th Century" erneut astreinen Soft Rock.

Die Platte kombiniert klangliche Ideen der vier Vorgänger mit dem Bombast des Golden Age of Hollywood, klingt bei allem Retro-Fetischismus dennoch nicht aus der Zeit gefallen. Geschrieben und aufgenommen wurden die elf Stücke zwischen August und Dezember 2020, produziert wie gewohnt in Zusammenarbeit mit Jonathan Wilson. Drew Erickson, der zuletzt auch Lana Del Rey auf "Blue Banisters" unterstützte, ist für die fantastischen Arrangements verantwortlich. Das Klavier steht auf Stücken wie "(Everything But) Her Love" und "Buddy's Rendevous" zwar immer noch im Zentrum, Streicher und Bläser stehlen den restlichen Instrumenten aber immer wieder die Show.

Ganz besonders der Opener "Chloë" überzeugt durch den Musical-Flair, ruft direkt beim Erklingen der Bläser und dem verspielten Piano zu Beginn Bilder von Hollywood-Klassikern vors innere Auge. Tillman erzählt in seiner gewohnten Wortgewandtheit Geschichten von einer unerfüllten Liebe: " Chlöe is a borough socialist / She insists there's not much more to it / Than drinks with a certain element / Of downtown art criticism". Am Ende springt Chloë an ihrem Geburtstag zum "Walkürenritt" vom Balkon.

"Goodbye Mr. Blue" bietet lässigen Americana, erinnert an Harry Nilsson und handelt von einem sterbenden Kater, der stellvertretend für die Erinnerung an eine vergangene Beziehung steht. Das Stück bleibt klanglich warm und wunderbar unaufgeregt, Tillmans Croonen kommt hier besonders gut zur Geltung. Mit "Olvidado (Otro Momento)" gelingt dem Musiker sogar ein launiger Bossa Nova-Track. "Q4" erinnert zu Beginn an frühe Bond-Songs, entwickelt sich dann aber zu einer mitreißenden Erzählung über eine Autorin namens Simone, die das Leben ihrer Schwester in einem Buch verarbeitet.

Dazwischen gibt es mit "Kiss Me (I Loved You)" und "Only A Fool" besonders schmalzige Tracks, die ihren Kitsch aber so offen vor sich her tragen, dass man ihnen das nicht übel nehmen kann. In "Funny Girl" besingt Tillman wieder über grandiose Musical-hafte Instrumentation eine Comedienne und träumt davon, von ihrem "manic smile" getroffen zu werden. Der Fokus liegt allerdings nie allein auf den starken Texten. Immer wieder gibt es kleine musikalische Einwürfe zu bestaunen, in "Funny Girl" etwa die gezupfte Geige oder in "Kiss Me (I Loved You)" der Vibrato-Effekt auf der Stimme.

Zwar hat die Musik auf "Chloë And The Next 20th Century" nicht mehr die Rock-Anklänge von "Fear Fun", nicht das Ausschweifende von "Pure Comedy" oder eben die Nahbarkeit von "God's Favorite Customer". Dafür klingt Tillmans Musik so erwachsen und reif wie noch nie. Die Geschichten, wenngleich weniger persönlich als zuletzt, reißen mit und passen wunderbar zu den jazzigen Hollywood-Arrangements. Der Musiker wirkt so gesammelt, dass die Frage nach der Differenzierung zwischen Tillman und Misty sich gar nicht mehr stellt. Kein Wunder also, dass Stephen Colbert ihn kürzlich nach einem Auftritt in dessen Late Night Show mit den Worten "Thank you, John!" verabschiedete. Die Musik funktioniert jedenfalls auch ganz ohne Provokation und Schlagzeilen wunderbar.

Trackliste

  1. 1. Chloë
  2. 2. Goodbye Mr. Blue
  3. 3. Kiss Me (I Loved You)
  4. 4. (Everything But) Her Love
  5. 5. Buddy's Rendezvous
  6. 6. Q4
  7. 7. Olvidado (Otro Momento)
  8. 8. Funny Girl
  9. 9. Only A Fool
  10. 10. We Could Be Strangers
  11. 11. The Next 20th Century

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