8. November 2001

"Wir leben auf einem mörderischen Planeten"

Interview geführt von

Im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle stehen nur zwei Konzertflügel auf der Bühne. Sie sind so angeordnet, dass sich die beiden Musiker bei den Improvisationen ansehen können. Die Atmosphäre in dem nur zur Hälfte gefüllten Saal ist gediegen, aber nicht verspannt, obwohl natürlich alle kurz zuvor von den aktuellen Ereignissen erfahren hatten.

Als der Meister mit seinem jüngeren Mitstreiter auf die Bühne kam, nahm er kurz zu den Bombardements auf das Taliban-Regime Stellung. "Das Beste was wir als Musiker tun können, ist spielen." Diese Nachricht nahm das Publikum, was ungefähr zwischen 18 und 80 Jahre alt war, mit Erleichterung auf.

Nach dem Konzert trafen wir uns mit Chick Corea zu einem Interview Backstage.

Herr Corea, was ist Ihre Meinung zu den aktuellen Ereignissen?

Dieser Vorfall [vom 11. September, A. d. Red.] ist für die ganze Welt ein Weckruf, als ob eine Alarmglocke geschlagen hätte. Wenn wir dadurch tatsächlich aufwachen, gäbe es einen positiven Effekt als Folge von etwas sehr Schrecklichem. Ich denke, das wir aufwachen müssen. Wir leben seit 50 Jahren mit der Möglichkeit, mit Nuklearwaffen die gesamte Menschheit auszurotten. Niemand möchte daran denken, da es zu schrecklich ist. Doch nun merkt man, das furchtbare Dinge tatsächlich passieren können. Deshalb muss jede verantwortungsvolle Person sein eigenes Umfeld betrachten, sich selbst und seine Familie und muss sich fragen, was man tun kann. Es kann nicht sein, dass wir nur reden, jeder muss handeln. Was ich als erstes machen kann, ist spielen. Meine Freunde einladen und mit ihnen zusammen Musik machen, um die Menschen wieder aufzubauen. Denn die Terroristen wollen unsere Leben stoppen. Sie wollen, dass wir uns depressiv fühlen und uns zu Sklaven machen. Wir aber haben genau das Gegenteil zu tun. Wir müssen kreativ sein, das ist das, was die Künstler machen müssen. Andere Dinge müssen aber auch getan werden, natürlich. Jeder geht seinen eigenen Weg, das wäre in Ordnung, wenn wir auf einem friedvollen Planeten leben würden. Doch wir leben auf einem mörderischen Planeten, der in großen Schwierigkeiten ist, auf dem sich die Menschen bekämpfen. Spirituelle Werte müssen wieder einen größeren Stellenwert erlangen. Wir leben in einer materialistischen Gesellschaft, jeder denkt nur an Dinge wie Geld, ein Auto, Haus. Darüber wird vergessen, was uns wirklich glücklich macht, das sind die inneren Werte. Und jetzt ist die Zeit gekommen, diesen Werten wieder mehr Beachtung zu schenken.

Denken Sie, dass die Angriffe auf Afghanistan, die heute Abend begonnen haben, der richtige Weg sind?

Ich habe auch erst kurz vor dem Konzert davon erfahren und bisher wenige Informationen über die neuste Entwicklung. Ich muss mehr Details darüber erfahren, was abläuft. Ich bin nicht glücklich darüber, was ich bis jetzt von den Vergeltungsmaßnahmen erfahren habe. Doch andererseits habe ich die Rede von Präsident Bush vor dem amerikanischen Kongress gehört und ich finde sie sehr gut. Ich gehöre keiner Partei an. Ein Freund hat mir die Rede ausgedruckt und ich stimme seinen Ansichten zu. Was aber diese Angriffe betrifft, kann ich nichts dazu sagen. Ich muss erst mehr darüber erfahren.

Wie erlebten Sie den 11. September?

Ich hatte am Vorabend bis spät in die Nacht einen Termin und bin erst gegen 12.00 Uhr aufgestanden. Ich habe eigentlich nie den Fernseher an und bekomme meine Information aus anderen Quellen. Jemand hat meine Frau angerufen, sie kam dann zu mir und wir haben den Fernseher angemacht. Wir waren in unserem Haus in Florida und haben uns gefragt, wie gefährlich jetzt die Situation ist? Dann riefen wir enge Freunde in Washington an, um etwas über die Lage zu erfahren. Nach New York war es fast eine Woche lang unmöglich, zu telefonieren. Wir haben viele Bekannte dort, die dann anfingen, uns anzurufen und wir redeten darüber, was man tun kann.

Beeinflusst die jetzige gesellschaftliche und politische Situation Ihr Spiel? Ich frage, weil die ersten Stücke des Konzertes sehr ruhig ausfielen.

Vielleicht, ich weiß nicht, auf jeden Fall verändere ich nicht bewusst mein Spiel. Den Effekt, den ich beim Publikum erreichen möchte, ist es zu beruhigen. Meine Intention ist es, eine ruhige, entspannte Atmosphäre herzustellen und nicht die Leute noch weiter verrückt zu machen. Durch die Entspannung möchte ich die Leute auch aufnahmefähig machen, damit sie sich wieder auf etwas konzentrieren können.

Lassen Sie uns weiter über die Musik reden. An einigen Stellen des Konzertes spielten Sie frei. Wie geben Sie der Musik dann eine Form?

Gonzalo und ich haben nicht viel Zeit gehabt, miteinander zu proben. Ein paar Lieder haben wir ausgemacht, zum Beispiel den Tango ganz am Anfang. Vorhin kam Gonzalo zu mir und fragte mich, ob wir nicht "Spain" spielen wollen. Doch bei manchen Stücken vor allem im ersten Teil des Konzertes haben wir einfach nur improvisiert. Die Form entsteht beim Musik machen. Es geht einfach alles nur seinen Weg, das ist die Regel des Spiels, die Herausforderung.

Über was denken Sie nach, wenn Sie improvisieren? Vielleicht über Melodien, Akkorde oder Akzente?

Es ist keine Zeit über irgendetwas nachzudenken. Nachdenken würde alles verlangsamen bis zum völligen Stilstand. Man müsste das Stücke unterbrechen. Es ist nur Zeit zu spielen! Es ist wie bei einem Basketballspiel. Du denkst nicht nach, du tust nur etwas. Man sieht eine Lücke, läuft da rein, dreht sich, wirft den Ball ... Es ist ein Spiel mit dem anderen Musiker. Ich werfe ihm etwas zu, er nimmt es auf, wirft es wieder zurück. Er geht in eine Richtung, ich bleibe stehen. Er bewegt sich, ich gehe in eine andere Ecke,...

Was ist der Unterschied zwischen dem Spiel in einer Band und in einem Duett?

In der Band kann man sich in gewisser Weise auf ein mechanisches Spiel zurückziehen. Jeder kennt seinen Teil und weiß, was er zu tun hat. In einem Duett findet eine größere Vermischung statt, gibt es mehr Kommunikation, ist die Herausforderung größer. Es ist aber auch möglich diese Art des Spiel in einer Gruppe entstehen zu lassen. Das ist aber mehr Arbeit. Ich habe im Moment ein Trio, in dem solch ein Zusammenspiel zustande kommt.

Was erwarten Sie von Ihren Mitmusikern, welche Eigenschaften müssen sie mitbringen?

Es ist das, was ich auch hauptsächlich meinen Mitspielern geben und zeigen möchte: Eine große Bereitschaft sich einzubringen, eine Offenheit gegenüber neuen Ideen und eine starke musikalische Persönlichkeit mit eigener Meinung. Ich mag es nicht so, mit einem Musiker zu spielen, dem ich immer sagen muss, was er tun muss. Ich spiele lieber mit Leuten, die kreativ sind und die mit eigenen Ideen ankommen, die aber auch in der Lage sein müssen, andere Ideen anzunehmen. Es ist auch nicht so schön, mit jemanden zu spielen, der auf eine Richtung fixiert ist. Mit Musikern Musik zu machen, die flexibel sind und neue Ideen haben, das macht Spaß, dabei entsteht etwas Neues.

Sie haben schon mit so vielen fantastischen Musikern zusammen gespielt. Gibt es jemanden mit dem Sie noch nicht zusammen gearbeitet haben, aber gerne einmal spielen würden?

Ja, mit einer Menge Leute würde ich gerne in Zukunft spielen. Gonzalo war einer von ihnen. Mit Paco de Lucia habe ich noch nicht so oft gespielt. Mit dem würde ich gerne mal wieder was machen. Ich würde auch gerne mehr mit Stevie Wonder zusammen arbeiten. Vor vielen Jahren habe ich was mit ihm gemacht, in den 70ern. Er spielte mal bei meiner Band Return To Forever ein paar Stücke mit. Das war eine wunderbare Erfahrung. Ich liebe seine Musik und er ist ein fantastischer Sänger.

Als Sie mit ihm spielten, ging das dann stilistisch in Richtung Funk oder Soul?

Als er bei uns in der Band war, spielten wir Versionen von drei seiner Songs mit eigenem Arrangement und Stevie sang dazu. Es war großartig! Ich mag auch diesen jungen Sänger Jamiroquai. Kennen Sie den? Ich finde seine Musik und seine Art zu singen toll. Ich kann mir gut seinen Gesang zu meiner Musik vorstellen, vielleicht schreibe ich mal was für ihn.

Sie machen im Dezember eine große Geburtstagsparty. Können Sie uns etwas darüber erzählen?

Der Besitzer des Blue-Note Club in New York, in dem ich schon viel gespielt habe, kam auf mich zu und fragte mich, ob wir nicht etwas anlässlich meines 60. Geburtstages machen wollen. Er hatte die Idee, Musikerfreunde von mir einzuladen und mit ihnen im Club zu spielen. Ich habe dann nachgefragt und erhielt eine gute Resonanz. Wir haben das Ganze jetzt auf drei Wochen mit neun verschiedenen Gruppen verteilt. Zwei Abende sind für jede Band vorgesehen. Es gibt Duetts mit Bobby McFerrin, Gary Burton und vielleicht Herbie Hancock. Wir werden in Trios spielen, eins mit Miroslav Vitous und Roy Haynes, ein anderes mit Dave Weckl und John Patitucci und mein aktuelles Trio. Die Bud Powell Band wird da sein mit Joshua Redman. Und noch andere wie Michael Brecker, Eddie Gomez und Steve Gadd. Es wird eine große Sache.

Sie sind in den letzten Monaten viel auf Tour gewesen. Was machen Sie in Ihrer Freizeit um sich zu erholen?

Meine Frau ist dieses Mal mit dabei und ich genieße es, mir ihr Zeit zu verbringen. Wir versuchen uns Zeit für ein schönes Abendessen zu nehmen oder wenn ich einen freien Tag habe, gehen wir spazieren, aber das passiert nicht so oft. Gestern hatte wir keine Termine in Baden Baden. Meine Frau machte die Terme ausfindig, wo wir dann hingingen. Für einen Tag fühlte ich mich wie eine nasse Nudel. Das war sehr gut. Aber es ist wirklich nicht viel Zeit auf dieser Tournee. Was wir dieses Mal gut gemacht haben, ist nicht zu fliegen, sondern mit dem Auto zu fahren. Ich mag das. Wir haben einen Mercedes gemietet, mit dem es auf der Autobahn richtig abgeht. Ich liebe es, in Deutschland auf der Autobahn zu fahren. In den Vereinigten Staaten kann man ja nicht schnell fahren. Zu Hause habe ich auch einen Mercedes, aber den kann ich da nicht richtig ausfahren. Hier geht das. Ich habe jetzt auch die Bedeutung des weißen, runden Verkehrsschildes mit den schmalen Querstreifen kennen gelernt.

Ah ja, dann darf man so schnell fahren, wie man möchte ....

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