laut.de-Kritik

Ein Liebesbrief an den Rock'n'Roll.

Review von

Bruce Springsteen ist vieles: Gitarrenheld, Rockstar, Mann und Stimme des Volkes. Aber auch Prophet? 1985 mutmaßte Bruce auf "Glory Days": "I hope when I get old I don’t sit around thinking about it / but I probably will". 35 Jahre vorgespult und siehe da: Die Zeichen im Hause Springsteen stehen seit geraumer Zeit auf Nostalgie und einen Blick in den Rückspiegel im Cadillac des Lebens.

Die letzte laute Stadiontour ist vier Jahre her, der folgte ein 510 Biographie-Seiten langer und 236 Broadwayauftritte andauernder, persönlicher Seelenstriptease. Die übergreifenden Themen im Hause Springsteen in diesen Projekten: Der eigene Platz im Universum, der Umgang mit Spiritualität & der eigenen Sterblichkeit und nicht zuletzt die Rolle des heiligen Rock'n'Roll.

Taucht man ein in "Letter To You", Studioalbum Nummer 20 des mittlerweile 71-Jährigen, dauert es genau bis zum ersten Refrain, um zu realisieren, dass dieser Reflexionsmodus auch im Jahr 2020 (bzw. 2019 zum Zeitpunkt der Studioaufnahmen) immer noch andauert. Auf "One Minute You're Here" hallt das 2019er "Western Stars" nach, wenn über vorsichtiges akustisches Gitarrenpicking der Boss gewohnt ungewohnt von Verlust geplagt croont "Baby, Baby, Baby, I am so alone". Geisterstimmung von Sekunde Eins, damit schlägt er die ersten atmosphärischen Eckpfeiler in das Fundament dieses Albums.

Denn es ist ja nicht weit hergeholt: Viele Mitstreiter haben ihn über die letzten Jahre hinweg verlassen. Keyboarder Danny Federici, sein Assistent und Freund Terry McGovern, 'Big Man' Clarence Clemons und kürzlich George Theiss, der Bandleader von Springsteens erster Band als langhaariger Hippie in den 60ern, The Castiles.

Drei harte Rimshots kündigen dann an, worauf Fans seit mindestens 2014 warten und was "Letter To You" besonders macht: Die noch überlebenden Mitstreiter der altehrwürdigen E Street Band sind hörbar wieder da. Eine Woche lang sperrte Bruce Steven Van Zandt, Max Weinberg und Co. ins Studio, und nahm live gemeinsam auf, 3 Songs pro Tag. Ungezwungen drückt es aus den Boxen, nicht perfektionistisch in jeder Nuance, sondern live, roh und direkt. Breitseite statt Wall of Sound. Kein Tom Morello-Wahwah, keine durchgefädelten Loops, nur neun Menschen in einem Raum. Und das steht dem Album hervorragend zum faltigen Gesicht.

Verklingt die treibende Single "Letter To You" mit Western-Gitarre und Telecaster-Streifschüssen im Outro, dampft das erste Highlight des Albums heran: "Burnin Train". Ein Song, der das schnellere Material auf "The River" locker im Gleisbett zurücklässt und den Herren in ihren 70ern ordentlich viel Kondition abverlangt. Geschmetterte Akkorde strömen in alle Richtungen, Springsteens Vocals sind rau und kraftvoll wie schon lange nicht mehr. Little Steven nimmt sich Herz und zweite Stimme, wie es seit einem halben Jahrhundert nur er kann. Ein sicherer Fixpunkt in den Liveshows, wenn es wieder welche geben wird.

Dass die E Street Band daraufhin einen Gang zurückschaltet, sei verziehen. Insbesondere mit einem Epos wie dem sechseinhalbminütigen "Janey Needs A Shooter" mit Orgel-durchflutetem Dampfwalzen-Groove. Der Song stammt – wie auch "If I Was The Priest" und "Song For Ophans" – aus den frühen 70ern und kam bei Recherche-Arbeiten wieder zum Vorschein. Neu arrangiert und durch das E Street Mahlwerk gedreht, setzt sich Springsteen hier im Gegensatz zu den aktuellen Kompositionen wieder den verfilzten Geschichtenerzähler-Hut seines Frühwerks auf. Ellenlange Lyrics schildern archetypische Charaktere und viel Gottesfurcht im Lied, in dem am Ende der Erzähler einfach nur das Mädchen will.

Dabei entblättern sich auch musikalisch einige Erkenntnisse: Zum Beispiel, dass man das Saxophon auf "Letter To You" fast vergebens sucht. Zu groß ist sichtlich die Lücke, die der Big Man hinterlassen hat. Oder dass Springsteen und die E Street Band auf dem Album so arrangieren, als würden sie den Song im Soundcheck für den Live-Einsatz vorbereiten. Starts und Stops, ausgedehnte Soli und Instrumental-Breakdowns, oder gar lupenreine Publikum-Singalongs – was sonst nur bei Live-Versionen von Ewigkeits-Hits wie "Badlands", "Dancing In The Dark" oder "Out In The Street" auf den Bühnen der Welt zu hören war, liegt auf "Letter To You" bereits in den Studioversionen vor. Der eigenen Vergänglichkeit wird eben vor 40.000 jubelnden Menschen leichter entsagt, da erlaubt das Songwriting schon ein dreiminütiges Jam-Outro.

Wie eine dreistündige Show der E Street Band zeigt auch das Album seine abwechslungsreichen Seiten. So driftet das Dreigespann aus "Last Man Standing", "The Power Of Prayer" und "House Of A Thousand Guitars" gemütlicher wieder in Richtung Introspektive. Ersteres ist eine melancholische Hommage an George Theiss und an die verschwitzten Poolhallen und Turnsäle, die er und Bruce gemeinsam Nacht für Nacht bespielten.

Generell scheint es, dass die Gitarre der einzige Wegbegleiter ist, auf den sich Mr. Born To Run in der Jetztzeit noch verlassen kann. Gleich in vier Nummern des Albums wird der liebgewonnene Sechssaiter ausdrücklich besungen, in dem erstaunlich Klavier-lastigen "House Of A Thousand Guitars" ist sie gleichzeitig die Flucht und die Rettung vor allem Übel in der Welt. Was genau der ausgewiesene Demokrat damit meint, lassen Zeilen wie "The criminal clown has stolen the throne / He steals what he can never own" nicht nur im übertragenen Sinne vermuten.

Dass in seinen Gitarren auch noch mehr Feuer steckt, beweist dann wieder die famose zweite Albumhälfte. "Rainmaker" zieht wie ein lautstarkes Donnergrollen aus "The Ghost Of Tom Joad" über Demagogen her, die die Gutgläubigkeit ihrer Mitmenschen ausnützen. ""Sometimes folks need to bеlieve in something so bad / They'll hire a rainmaker", stapft Bruce grimmig durch den kargen mittleren Westen der USA.

Noch weiter westlich landet er erneut in den frühen 70ern mit dem Midtempo-Epos "If I Was The Priest", das in knapp sieben Minuten eine abgefahrene Mischung aus Cowboy-Roman und Kirchenweihe erzählt, um in einem beeindruckenden Gospel-Finale zu münden und in den besten Momenten auch das große "Jungleland" im Geiste zu beschwören. Auch hier ist das alte Material ein breit grinsendes Ass im Ärmel, lässig ausgespielt auf dem Album wie in den verrauchten Saloons des Songs.

Nach der Predigt folgt die Party, und damit "Ghosts", die unverhohlenste Ode an Live- und Rockmusik und verflossene Bandkollegen, die der Boss in langer Zeit zu Papier gebracht hat. Ein in Song gebrachter Gänsehautmoment einer – im Jahr 2020 leider fast vergessenen – packenden, lauten Live-Show, wo tausende Stimmen zu einer werden und in dem verschwindenden Moment nichts anderes zählt als der Song, der nächste Akkord und das nächste "1, 2, 3, 4". Hach, Schön.

Mit "Song For Orphans" taucht die E Street Band dann ein letztes Mal auf dieser Platte in die 70er Jahre ab, wie so oft in den mystifizierten Westen, der dem Ostküsten-Kid Springsteen sichtlich lyrisch mehr als einmal ein Zufluchtsort war. Mit Mundharmonika im Anschlag reimt er "Cheerleader Tramps" auf "Kids with big amps" und andere Wortgewaltigkeiten. Unter großem Chorus geht auch dieser Track nicht unter sechs Minuten durchs Ziel.

Die versöhnliche Zugabe richtet Bruce erneut an die verstorbenen Freunde. "I'll See You In My Dreams" lässt hoffen, dass auch nachdem das Licht angegangen, die Musik vorbei und die Realität zurückgekehrt ist, dieses Gefühl von hoffungsvoller und verbindender Rockmusik bleibt. Zumindest, bis wir die Augen zu machen.

Bruce Springsteen und die legendary E Street Band liefern ein ehrliches und erdiges Album ab, das näher an einem Live-Erlebnis nicht sein könnte. Und wenn es etwas im Herbst 2020 gebraucht hat, dann das. Thanks, Boss.

Trackliste

  1. 1. One Minute You’re Here
  2. 2. Letter To You
  3. 3. Burnin Train
  4. 4. Janey Needs A Shooter
  5. 5. Last Man Standing
  6. 6. The Power Of Prayer
  7. 7. House Of A Thousand Guitars
  8. 8. Rainmaker
  9. 9. If I Was The Priest
  10. 10. Ghosts
  11. 11. Song For Orphans
  12. 12. I’ll See You In My Dreams

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8 Kommentare mit 4 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    Ich mag ihn eoinfach, kann eigentlich kaum was falsch machen.

  • Vor 3 Jahren

    Wenig neues, aber davon genug, um sich beim Hören einfach wohl zu fühlen. Das Album könnte gut und gerne 1997 aufgenommen sein. In einer Zeit da die Welt anders aussah und die Hoffnungen groß waren.

  • Vor 3 Jahren

    Es ist eben der Boss. Da kommt nichts mehr neues, aber ganz viel Dankbarkeit. Ich würde heute vielleicht noch in meiner ostdeutschen Provinz abhängen, wenn er mr nicht erzählt hätte, its a town full of losers and I go out of here to win. Der Mann hat mein Leben verändert. Bruce eben.

    • Vor 3 Jahren

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      @Go1337Go

      Richte Dir ggf. n Konto ein!

      Rebell Yell!
      Wenn der Corona Scheiß vorbei ist!

    • Vor 3 Jahren

      Im pulling out of here to win.... Nur mal um das Zitat zu würdigen...
      Aber nichts neues...? Für mich ist da immer wieder mal was neues bei. Also Western Stars ist anders, seeger sessions ist anders, devils and Dust ist anders, Tom joad, Nebraska waren anders, Tunnel war anders.... Also für mich ist da in guter Regelmäßigkeit neues und anderes. Ganz zu schweigen von der broadway Nummer.
      Das unterscheidet aus meiner Sicht Mainstreamer wie Bryan Adams bspw.
      vom Boss. Immer wieder weg vom großen Kommerz und natürlich sehr clevere Texte...