19. September 2008

"Pogo mit 46 ist idiotisch!"

Interview geführt von

Der Engländer Martin "Boz" Boorer steht seit rund 17 Jahren als Gitarrist an der Seite Morrisseys. Bereits seit Ende der 70er Jahre ist er essenzieller Teil der britischen Rockabilly-Szene. Nächste Woche erscheint "Miss Pearl", sein erstes richtiges Soloalbum. Wir sprachen mit ihm über Leidenschaft, Konzertbesuche im mittleren Alter und das neue Morrissey-Album "Years Of Refusal".Es ist sein einziges Interview an diesem Tag, aber Boz Boorers Gedanken sind trotzdem woanders. Seit 7 Uhr am Morgen liegt am Londoner Flughafen die eigens für ihn angefertigte, aus den USA eingeflogene Gretsch-Gitarre bereit, eine "Pink Penguin". Die erste überhaupt in pink, wie er stolz betont. Er nimmt sich dann aber doch zwanzig Minuten für uns Zeit.

So, dann holst du nach dem Gespräch also gleich deine Gitarre ab. Und was steht sonst noch auf dem Plan?

Boz: Heute Abend sehe ich die Stray Cats.

Die waren gerade bei uns in Deutschland und die Kritiker haben sie gut wegkommen lassen.

Boz:Ich habe sie schon einige Male gesehen und ich muss sagen, sie waren immer fantastisch. Der junge Brian ist ein sehr guter Gitarrist. Ich bin gespannt.

Am 26. September erscheint mit "Miss Pearl" dein Solo-Debüt randvoll mit Rockabilly-Tunes. Wie sind deine Erwartungen? Hast du überhaupt welche?

Boz: Erwartungen? Ich saß eines Tages in meinem Studio und mir fiel auf, dass ich seit zwölf Jahren keine Platte mehr veröffentlicht habe. Es wurde also einfach mal wieder Zeit. Und ehe ich michs versah, hatte ich all diese Songs beisammen und ein paar Leute wollten sie unbedingt veröffentlichen. Naja und die Kritiker scheinen es zu mögen, ich mache demnächst sogar ein paar Sachen fürs Radio. So kanns gerne weiter laufen.

Du sprachst gerade dein letztes Album an, das war kein richtiges Soloalbum, oder?

Boz: Doch, aber wir haben nur tausend 10"-Vinyls pressen lassen. Irgendeiner hat dann noch 500 CDs davon gemacht, glaube ich. Eine saubere Abrechnung ist mir nie unter die Augen gekommen.

Dann dürfen wir "Miss Pearl" also als dein Debüt titulieren.

Boz: Ja, eigentlich schon. Auf einem gescheiten Label jedenfalls.

Beim Hören der Platte fiel mir unter anderem deine vielseitig eingesetzte Stimme auf. Rauh und kratzig im Titeltrack und schön cool Elvis-mäßig in "Dollar Short", mein Lieblingstrack übrigens.

Boz: Dankeschön. Ich höre Rockabilly jetzt schon, äh, an die dreißig Jahre. Es gibt da unzählige Variationen im Genre und die verschiedensten Sänger. Also war mein Gedanke: Kopiere sie einfach alle und finde so zu deinem eigenen Stil (lacht)

Sind die Sachen dir einfach so aus den Fingern geflossen?

Boz: Nein, sie sind an mehreren Orten entstanden, in New York, in meinem Studio, manche in Southend. "Rockaway Beach" entstand zum Beispiel in Los Angeles, immer mit befreundeten Musikern.

Bekannte Musiker?

Adam Ant singt auf der Nummer "Jungle Rock" mit, der Basser von Morrissey spielt Doublebass auf "Rockaway Beach". Und Big Sandy singt da noch im Background. Das meiste bin aber ich. Freunde und ich.

Der Sound erinnert in seiner Urtümlichkeit besonders an die Anfänge des Genres. Wie groß ist der produktionstechnische Unterschied zur Arbeit mit einem Spezialisten wie Tony Visconti?

Boz: Haha, es ist natürlich viel direkter. Rockabilly war immer simple Musik. Würde ich drei Monate brauchen, um ein Rockabilly-Album aufzunehmen, würde ich es wohl am Ende der Aufnahmen bereits hassen. lacht

Ist Rockabilly ein Auslaufmodell?

Boz: Es gibt da draußen schon ein paar gute Bands. Es ist ja so: Je mehr Bands sich gründen, desto mehr Leute werden auf Rockabilly aufmerksam. Ich denke, das Genre unterliegt seit den Anfängen einer ständigen Wellenbewegung, sie kommt und geht.

Rippenschmerzen vom Pogo

Welche Bands hörst du denn gerade?

Boz: Es gibt da diese Familie, äh, Lewis ... aus dem Hintergrund meldet sich seine Frau zu Wort: "Kitty, Daisy & Lewis" Genau, danke. Ja, die sind klasse, aber die hören wir auch schon seit vier Jahren. Die scheinen nur gerade gute Presse zu kriegen. Ihren Gitarristen Lewis habe ich mal auf ner Labelveranstaltung getroffen, da war er auf der Suche nach einer Blues-Vinylsingle. Großartig.

Du hast mit Jimmy Wages einen Künstler vom Sun Records-Label gecovert, von dem ich noch nie was gehört habe.

Boz: Irgendwann haben die Sun-Archivare mal ihre riesigen Kataloge gewälzt und gemerkt, dass es unzählige Songs von Leuten gibt, die damals nie veröffentlicht wurden. Wir haben diese Songs in den frühen 80ern erstmals in die Finger gekriegt. Der andere Wahnsinnssong von Jimmy Wages neben "Miss Pearl" ist "Madman", beide wurden nie veröffentlicht. Unglaublich.

Und warum nicht?

Boz: Wenn ich das wüsste. Ich schätze, Sam Philipps suchte damals nach einem bestimmten Stil oder Song und da passte Jimmy halt nicht rein. Immerhin ging Philipps so weit, die Nummer ordentlich aufzunehmen, so dass es heute Katalogangaben dazu gibt.

Es existieren zahlreiche Sun-Songs, zu denen man den Interpreten gar nicht kennt. Bei Jimmy Wages ist man sich relativ sicher. Aber er hat eben nie eine Platte veröffentlicht.

Und wie bist du an den Sun-Katalog rangekommen?

Boz: Puh, ich glaube das lief damals über Charly Records, irgendwann Ende der 70er Jahre. Jedenfalls brachten die damals ne Reihe 10"es raus und irgendwann gabs so ein Rockabilly-Boxset mit unveröffentlichten Songs. Die Rockabilly/Blues-Box war rot und die Country-Box war grün.

Ahh, der Vinyl-Liebhaber.

Boz: Sagen wir Junkie, das trifft es eher.

Kaufst du auch CDs?

Boz: Ja manchmal. Aber meine Leidenschaft sind die alten, vergilbten Rockablily-Singles. Die Originale.

Klingt nach Ebay.

So ist es. Früher hat man da noch mit Listen hantiert, die einem zugeschickt wurden. Aber mit Ebay geht jetzt alles einfacher. Ich bin vor allem beim amerikanischen Ebay tätig, da findet man die Sachen am ehesten.

Im Mutterland des Genres.

Boz: Yeah, und so gestalten sich auch die Preise, haha.

Okay, aber hörst du auch zeitgenössische Musik?

Boz: Aus den 50ern?

Äh, nein, von heute.

Boz: Oh, nicht sehr viel. Ich bin ein großer T.Rex-Fan.

Gut, das ist aber auch schon ne Weile her.

Boz: Ja, das waren die 70er. Da war ich jung. Seither begleitet mich der Punkrock. Frag mich nach meinen letzten Konzerten: Sex Pistols und X-Ray Spex.

Die Sex Pistols, sieh an. Und?

Boz: War klasse. Gut, vielleicht hätte ich weniger pogen sollen, denn seither habe ich Rippenschmerzen. lacht Man sollte es einsehen: Mit 46 wird man langsam zu alt fürs Pogen.

Wie weit kamst du? Erste Reihe?

Boz: Nee, dritte. Absolut idiotisch.

Und danach erstmal drei Tage auskurieren?

Boz: Das konnte ich nicht, denn am übernächsten Tag war X-Ray Spex im Roundhouse. Ein lustiger Abend, immer noch guter Punkrock.

Machen die gerade eine Reunion-Tour?

Boz: Weiß nicht genau. Styrene sagte, man spiele erstmal einen Gig, um zu sehen, wie es läuft. Aber der Laden war voll.

Auf deiner Platte coverst du "Rockaway Beach" von den Ramones, bekannt sind auch deine Versionen von Bowies "John, I'm Only Dancing" und T.Rex's "Jeepster". Sind das alles deine Ideen?

Boz: "Jeepster" war Tony Viscontis Idee damals. Der war dabei, als wir "Marie Celeste" aufnahmen und als ich die Nummer anspielte, schlug er vor, das als B-Seite zu nehmen. Auf "Rockaway Beach" kam ich, als wir ein Tribute für die Teddyboy-Band Crazy Cavan and The Rhythm Rockers aufnahmen.

Weil uns deren Sänger an die Ramones erinnerte, kamen wir gleich auf "Rockaway Beach". Am Schluss schaffte es die Nummer doch nicht auf die Platte und so hab ichs mir eben genommen.

"Morrissey hat das letzte Wort"

Schonmal dran gedacht, einen Morrissey-Song im Rockabilly-Style zu covern?

Boz: Ja!

Ja?

Boz: Naja, ich denke, es wäre ein bisschen zu offensichtlich für mich. Außerdem gibt es ja ein paar Stücke mit Kontrabass, zum Beispiel "Pregnant For The Last Time". Wenn, dann würde ich wohl den auswählen.

Ich finde ja die "Sing Your Life"-Version super, die ihr 1992 für den US-Radiosender K-ROQ gespielt habt. Erinnerst du dich?

Boz: Oh ja. Den Song habe ich damals arrangiert, als es darum ging, das Feeling und das Zusammenspiel der Band zu verbessern.

Mag ich viel mehr als die Album-Version.

Boz: Hmm, ja, ich habe mich an unserer Version satt gehört und mag daher mittlerweile die andere lieber.

Anfang des Jahres habe ich euch in Straßburg live gesehen. Besonders bei "The Loop" gings vor der Bühne ja mächtig ab.

Boz: Die perfekte Symbiose aus Rockabilly und Punk. Da will ich immer hin!

Bist du es auch, der solche Songs für die Live-Setlist vorschlägt?

Boz: Nein, wir diskutieren zwar die Setlist, aber Morrissey hat das letzte Wort. Es läuft für gewöhnlich so, dass er etwas vorschlägt und ich dann sage: Oh, hätte nie geglaubt, das nochmal zu spielen. Normalerweise proben wir viel zu viele Songs. Und greifen dann immer auf 20 oder so zurück.

Hast du denn auch ein Vetorecht?

Nein. Alles was er vorschlägt, versuche ich mit der Band bestmöglich umzusetzen. Und manchmal hat man Songs auch zu oft gespielt.

Zum Beispiel?

Boz: Alle Songs, die wir aus der Setlist streichen lacht Okay, lass mich nachdenken ... "Billy Budd" haben wir sehr lange gespielt. Dann haben wir ihn eine Zeit lang vernachlässigt, um ihm die Chance zu geben, wieder ins Set zurück zu kommen.

Nun bist du ja trotz knapp 30-jähriger Rockabilly-Historie nach außen hin vor allem als Morrisseys Gitarrist bekannt. Die Labels bezeichnen dich als seinen musikalischen Direktor. Findest du den Begriff korrekt? Bringst du Morrissey musikalisch immer wieder mit neuen Feldern in Berührung?

Boz: That's my job! Das war der Grund, warum er mich angerufen und mir den Job angeboten hat. Damals, vor, äh, vielen Jahren.

Gut, aber du verstehst, worauf ich hinaus will ...

Boz: Yeah, ich führe für ihn die Band. Meine Aufgabe ist es, die Band so klingen zu lassen, wie er will, dass sie klingt.

Kannst du beurteilen, zu welchem seiner Alben du am meisten beigetragen hast?

Boz: Puh. Da würde ich fast sagen, zum neuen Album "Years Of Refusal".

Kannst du das präzisieren?

Boz: Nun, zum einen habe ich es noch am ehesten in Erinnerung, zum anderen verwendeten wir für jeden einzelnen Song aus musikalischer Sicht so viel Zeit wie noch nie. Ich fühle mich immer noch, als wäre ich inmitten von jedem einzelnen Song. Aber es kommt erst nächsten Februar raus.

Wieso eigentlich? Die Platte ist doch schon fertig, oder nicht?

Boz: Well, hmm-ahh-ohh-hmm, aaaah-mmhmm, eeehh-aahh-hmmm, fast.

Man hört, dass Universal sich gegen die Veröffentlichung sträubt.

Boz: Naja, die wollen, dass Morrissey mal ein bisschen zur Ruhe kommt und von der Bildfläche verschwindet, bis dann die neue Platte kommt, die neue Tournee, dass dann halt alles wieder frisch klingt und sowas. So sehe ich das jedenfalls.

Ist es ein bewusster Schritt, Songs für Morrissey zu komponieren oder beginnt bei dir alles erstmal mit einer lockeren Rockabilly-Nummer?

Boz: Ich schreibe Songs schon seit einer Weile in Portugal, weil ich mir dort ein Studio eingerichtet habe. Deine Frage ist schwer zu beantworten, da es natürlich immer stimmungsabhängig ist. Manchmal produziere ich Bands und gehe eher technisch an Songs heran, manchmal spiele ich einen alten Morrissey-Song und komme plötzlich auf eine Idee für einen neuen, und der wird dann gleich aufgenommen. Ich habe keine Wahl, es passiert einfach.

Welche Bands produzierst du gerade?

Boz: Gerade habe ich die portugiesische Rock'n'Roll-Band Bunnyranch produziert und im Moment schreibe ich gemeinsam mit Frank Hamilton Songs, einem jungen Typen, 21 Jahre alt oder so. Ich lege also gerade los und es macht großen Spaß.

Klingt nach einem Freizeit-Modell für später, wenn du nicht mehr so sehr an lange Tournee-Pläne gebunden bist.

Boz: Ach, das geht auch jetzt schon. Ich bin so oft es geht da unten, neulich erst zwei Monate am Stück. Und wir spielen ja auch oft in Spanien und neulich erst in Israel, da kann man immer mal rüberflitzen. Es ist schön dort.

Allerdings, ich habe den Studio-Trailer auf eurer MySpace-Seite gesehen.

Boz: Ach, du hast ihn gesehen? Dann weißt du eigentlich auch schon alles.

Die Vegetation erinnert mich ein wenig an die kalifornische Wüste.

Boz: Yeah, manchmal könnte man an Kalifornien denken, das stimmt wohl.

Zum Schluss, du erwähntest es bereits: Kannst du noch etwas über euren Auftritt oder Aufenthalt in Tel Aviv erzählen?

Boz: Oh, es ist eine fantastische, knapp hundert Jahre alte Stadt, und das obwohl Israel selbst erst 60 Jahre alt ist. Die Strände sind wunderschön und die Leute dort sehr freundlich. Im Augenblick wird dort sehr viel gebaut. Ich würde sehr gerne noch einmal hingehen und mir mehr anschauen, gerade Jerusalem. Im Vorfeld des Besuchs wusste ich nicht genau, was mich erwarten würde, vielleicht war es deshalb umso eindrucksvoller.

Und wie sieht es mit den Konzert-Plänen für Teheran aus? Morrissey meinte einmal, er würde sehr gerne im Iran auftreten.

Boz: Hahaha, really? Davon höre ich zum ersten Mal. Nach Teheran, soso.

Du hörst es zum ersten Mal?

Boz: Ganz sicher. Sollte die Idee tatsächlich mal im Raum gestanden haben, wurde die Planung nie weiter verfolgt.

Gut, Boz, dann soll es das gewesen sein. Vielen Dank für deine Zeit.

Boz: Danke auch. Wie siehts aus, ich spiele am 23. September ein Release-Konzert in London, meine Frau spielt Kontrabass. Komm doch vorbei.

Das klingt verlockend. Ich müsste allerdings meinen Redaktionsleiter überzeugen, dass er mir den Flug bezahlt.

Boz: Kleinigkeit, du schreibst einfach ne Konzertreview drüber.

Äh ...

Boz: Oder nimm die Passage doch mit rein ins Interview, dann können sie nicht mehr nein sagen.

Ein teuflischer Plan. Danke sehr.

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