laut.de-Kritik

16 Songs, die den Riesenhype aktiv gesund schrumpfen.

Review von

Von allen Popstars, in deren Haut man nicht stecken möchte, ist Billie Eilish gerade ganz vorne. Seit sie als die messianisch-irdische Vertretung ihrer Generation gilt, kann sie tun, sagen und sein was sie will, eine Fraktion wird ihr Schaffen in Bedeutung und Tragweite derart in den Himmel heben, dass die Gegenfraktion sie nur noch zynischer beschissen finden kann. Deswegen trieft auch ihr zweites Album nun schon wieder nur so vor Diskurs, mit dem es interagieren muss. Angesichts aller Schwere wirkt es wie ein Album, das vom Popstar-Sein zurücktritt. Es verneint das Prophetentum, die Analyse und den Masterplan, der ihr zugeschrieben wird. Stattdessen ist "Happier Than Ever" ein stilles Album, das in vielen Facetten und Formen über das Gesehenwerden nachdenkt.

"Not My Responsibility" gibt die konkreteste Aussage, die dem Album zu entlocken ist. Dieser sphärische Spoken Word-Interlude spricht den Hörer direkt an und fragt, was Billie richtig machen könnte, mit welchem Schritt sie der ständigen Über-Analyse entkommen kann: "If I wear more, if I wear less / Who decides what that makes me? What that means? / Is my value based only on your perception? / Or is your opinion of me not my responsibility?" schließt sie ihren Monolog ab und bekommt einen verdienten Mic-Drop-Moment dafür.

Die Paradoxie des Popstarlebens prägt "Happier Than Ever". Die Fantasie ihrer Rolle, das öffentlich verfügbare Allgemeinwissen über ihre Person – all das lädt dazu ein, Meinungen zu formulieren. Vielleicht ist die wichtigste Funktion von "Happier Than Ever", sich genau diesem Mechanismus zu entziehen. Vielleicht sind Songs wie "Not My Responsibility" dabei sogar die schwächeren der Mission, denn je direkter Billie sich mit dem Pop-Zirkus auseinandersetzt, desto mehr etabliert sie sich als Teil dessen.

"Articles, articles, articles", stöhnt sie auf "Therefore I Am" - und man möchte ihr zustimmen. Sie ist offensichtlich keine Analytikerin, keine ausgebuffte Akademikerin, die intellektuell über den Dingen steht. Verdammt, die Frau ist 19. Es sollte keinen schockieren, dass ihre Versuche, direkt und sezierend mit den Themen umzugehen, manchmal in Allgemeinplätzen versanden. "Overheated" bleibt ohnmächtig, so richtig zu bestimmen, was nun an Selbstoptimierung gut oder falsch ist, der zweite Verse auf "NDA" ist recht banaler Eskapismus und die Erkenntnis auf "Male Fantasy", dass Frauen in Pornographie zugunsten einer männlichen Fantasie dargestellt werden, ist trotz aller Wahrheit nicht gerade der heilige Gral der Erkenntnis. All das sind Momente, in denen Billie versucht, die ihr zugeschriebene Gesellschaftskritik abzurufen - und wirkt dabei ein bisschen schlaubergerisch. Ironischerweise verfällt sie dann am ehesten in die Rolle des Popstars. Weil sie gegen die Zuschreibung kämpft, aber nur mit den Mitteln, die ihr zugeschrieben wurden. Am Ende des Tages riecht nichts mehr nach Industrie-Bullshit als jemand, der offensichtlich von Kopf bis Fuß in Industrie-Bullshit eingetaucht ist.

Wirklich befreiend funktioniert die erste Hälfte: Hier schreiben Billie und Finneas einfach Songs, ganz unbenommen davon, wie sie eigentlich wahrgenommen werden. "Getting Older" rifft melancholisch über das Ausheilen von Trauma, die Melodien bauen sich ein bisschen beatleesk auf, die Stimmung ist dicht und warm. "My Future" war schon im Vorjahr eine wunderschöne Single voller Zuwendung an die eigene Zukunft, die Billies große Stärke in den Vordergrund rückt, überlebensgroße Atmosphären aufzubauen. "Lost Cause" kommt im Albumkontext erst richtig als der pampige Banger zum Glänzen, der er ist. Die Unverkopftheit löst den Knoten, weg von all dem Diskurs hin zu dem, was sie eigentlich kann.

Alle Songs öffnen ihre eigenen kleinen musikalischen Welten, keiner von ihnen ist laut, aber jeder von ihnen voller Details ausstaffiert und von einzigartigen Grooves und Stimmungen geprägt. Die vielleicht beste Überraschung ist der Advent der kompromisslosen Horny-Jam-Billie. Die düstere, magnetische Nummer "Billie Bossa Nova" deutet das noch nur an, wenn sie von einem anonymen Treffen mit einem Lover in einer düsteren Hotel-Lobby spricht. Das absolute Album-Highlight "Oxytocin" macht aber explizit, warum schon zum Bossanova jedes innere Auge hinter der Lobby die Fahrstühle zu den Schlafzimmern gesehen hat. "Cause I like to do things God doesn't approve of if She saw us / She couldn't look away, look away, look away / She'd wanna get involved, involved, involved" singt sie auf einem finsteren, bebenden Electro-Bass, der hoffentlich bald um vier Uhr morgens in verließhaften Clubkellern blastet.

Das Coole hieran ist, dass Billie nicht argumentiert, was sie tun und lassen darf, sondern einfach tut. So wahr und spannend es auch sein mag, ein halbes Album zu philosophieren, dass die Blicke der Öffentlichkeit ihren Aktionsradius einschränken, ist es doch so viel befreiender, einfach Song für Song zu zeigen, was man tun und sein will und dann jeden verprellten Hörer glücklich seiner Wege ziehen zu lassen. Das gelingt auch dem anderen Album-Highlight virtuos: Der Titeltrack lullt eineinhalb Minuten in eine weitere melancholische Break-Up-Ballade ein, bevor der Beat zum Mittelpunkt in ein aggressives Rock-Stück kippt und sie ihrem Ex-Partner für eine Minute gnadenlos die Hölle heiß macht. Der ist übrigens Objekt von gleich einigen Songs. Implizit greift auch die Single "Your Power" ihren 23-jährigen Ex an, mit dem sie vor drei Jahren zusammen war. "She was sleepin' in your clothes / But now she's got to get to class" ohrfeigt sie ihn da. Zurecht.

"Happier Than Ever" ist ein sehr spezifisches Album. Ein Album, das sehr spezifisch von Billies aktueller Karriere-Situation gefärbt ist und ein bisschen darunter leidet, dass es sie mit der einen Hand wegignorieren und der anderen Hand adressieren will. Herauskommt eine stille Platte, auf der sich sehr viel fantastisches Songwriting und sehr viel einfühlsame Introspektion befindet, die man aber aktiv erkunden wollen muss. Bewusst schreckt sie davor zurück, ein großes Pop-Album abzuliefern, um sich die Zeit zu nehmen, ihren jetzigen Status Quo zu erkunden.

Die ersten acht Songs sind eine großartige Kür und ein Befreiungsschlag gegen aufgebürdete Grenzen. In der zweiten Hälfte wird es stiller, langsamer und zunehmend verkopfter. Vielleicht hätte man den Lauf zwischen "Not My Responsibility" und "NDA" einschmelzen oder komprimieren können, denn hier schleppt die Platte wirklich ein bisschen zwischen schwerfüßigen Beats und angestrengt selbstreferenziellem Industrie-Talk. Wer über das langsame Pacing hinwegkommt, findet auf "Happier Than Ever" vieles, das weiterhin der Kurve klar voraus ist. Gut möglich ist, dass die Platte für die Fans akut eine kleine Enttäuschung darstellt, die ihren Riesenhype aktiv gesund schrumpft, aber auf lange Sicht in ihrer Reputation nur wachsen kann.

Trackliste

  1. 1. Getting Older
  2. 2. I Didn't Change My Number
  3. 3. Billie Bossa Nova
  4. 4. My Future
  5. 5. Oxytocin
  6. 6. GOLDWING
  7. 7. Lost Cause
  8. 8. Halley's Comet
  9. 9. Not My Responsibility
  10. 10. OverHeated
  11. 11. Everybody Dies
  12. 12. Your Power
  13. 13. NDA
  14. 14. Therefore I Am
  15. 15. Happier Than Ever
  16. 16. Male Fantasy

Videos

Video Video wird geladen ...

Weiterlesen

LAUT.DE-PORTRÄT Billie Eilish

Billie Eilish war prädestiniert, ein Star zu sein. So sehr, dass es niemand überraschen sollte, dass sie 2018 mit gerade 16 Jahren bereits Tourneen …

17 Kommentare mit 38 Antworten

  • Vor 2 Jahren

    "Den Hype aktiv gesund schrumpfen" ist der putzigste Burn, den ich seit langem gelesen habe.

    • Vor 2 Jahren

      Man muss sich fragen, wozu überhaupt der Hype. Verstehe bis heute nicht, was an der besonders sein soll...

    • Vor 2 Jahren

      Erste Albung fand ich durchaus spannend.
      Die Auskopplung, die ich von Neuen gehört habe war aber eher larifari.

    • Vor 2 Jahren

      Ach, ist halt die uralte Teenie-Kiste. Da wird alle ein-zwei Jahre eine Sängerin super bekannt mit etwas haaaaaaaaalbwegs Neuem. Und weil Feuilleton und Eltern irgendwie das Gefühl haben, mit dem "Zeitgeist" mithalten zu müssen, schreiben die dann auch viel darüber.

      Wie gewohnt und hier bestätigt, bleibt die Nachfolgeplatte dann betont langweilig. Weshalb die Ü-40-Rezeption mal wieder herumfeiert, weil jetzt auch mal ein paar Songs für sie dabei seien und sie diesmal von Anfang an dabei gewesen sein wollen, während die Kinder aber schon längst was anderes hören.

    • Vor 2 Jahren

      Für das, was es ist und sein will, ist es schon besser gemacht und autarker als vieles Andere. Also ihre Mucke an sich. Aber nicht so spannend für mich selbst, dass ich mir das geben müsste. Bin aber auch alt und fernab der Zielgruppe.

    • Vor 2 Jahren

      Neue Platte gefällt mir nicht schlecht. Die erste war schon echt gut. Diese muss ich noch in Ihrer Gesamtheit erfassen, "Therefore I am" aber finde ich z.B. super. Kreative Musik, muss man so sagen. Jedenfalls in keinster Weise vergleichbar mit den üblichen "Teenie-Kisten", um den obigen Nutzer nochmals zu zitieren. Und ich habe in den letzten 40 Jahren (hüstel, hüstel) so einige "Teenie - Kisten" kommen und gehen sehen.
      Ragism, warum stellst du eigentlich Leute über 40 immer wieder als den eher lächerlichen und weniger ernst zu nehmenden Teil der Gesellschaft dar? Ist mir schon n paarmal aufgefallen.
      Wie alt bist du eigentlich, wenn ich das fragen darf? Bin gespannt.

    • Vor 2 Jahren

      Glaube, Du verwechselst mich da mit jemandem. Mit Craze vielleicht? Ich mache mich über bestimmte 40jährige lustig, genauso wie über bestimmte 30jährige, 20jährige oder Teenager. Wenn ein 20jähriger krampfhaft Anschluß und im Feuilleton Relevanz für den eigenen Geschmack sucht, ist das genauso albern. Wenn halt auch was seltener.

      Bin übrigens in meinen frühen 30ern.

      Meinte hier auch nicht die Musik, denn die spielt naturgemäß eher ne untergeordnete Rolle. Ging mir eher über das wiederkehrende, altbekannte Muster ausm Popgeschäft. Und in der Hinsicht ist das hier ne typjsche Platte 2. Jedenfalls kein rebellischer oder künstlerisch entschlossener Versuch, etwas Ungewöhnliches zu machen.

    • Vor 2 Jahren

      Craze macht sich eigentlich auch nur über ganz bestimmte Über-40-Jährige lustig.

    • Vor 2 Jahren

      Wieso "eigentlich"?

    • Vor 2 Jahren

      Ich finde, man sollte es immer hinterfragen, wenn sich jemand über Altersgruppen lustig macht. Pauschalisierungen jeglicher Art lehne ich ab. Auch wenn es nur "bestimmte 40jährige" betrifft. Was sind denn bestimmte 40jährige. Gibt es auch "bestimmte 23jährige"? Ist Ragism ein "Bestimmter in seinen frühen 30igern"? Fragen über Fragen.

      Kann sein, dass ich hier jemand verwechselt habe. Aber irgendwo hier im Forum habe ich auch gelesen, dass sich ein Nutzer über 40jährige lustig macht, die eben nicht Anschluß an den Zeitgeist suchen. So oder so scheinen 40jährige hier im Forum eine beliebte Angriffsfläche zu sein. Was wohl passiert, wenn die Mehrheit der Nutzer von laut.de ihren 40.Geburtstag feiert? Also entweder implodiert das Forum auf spektakuläre Art und Weise oder, was ich für wahrscheinlicher halte, die Altersgrenze wird auf "bestimmte Ü50" erhöht.

      Ablehnung könnte man auch das Gefühl bezeichnen, das mich bei Begrifflichkeiten wie "typisches 2.Album" beschleicht. Solche Floskeln finden in aller Regel nur in den Köpfen von Musikjournalisten statt und werden dann von den Lesern aufgegriffen.
      Ich habe einen reich gefüllten Plattenschrank und erkenne kein verlässliches Muster bezüglich zweiter Alben. Gleiches gilt übrigens auch für die gerne mal herbeizitierten "typischen 3.Alben", um das gleich mal vorweg zu nehmen. Wenn Billie Eilish jetzt all ihre Hits auf dieser Platte gehabt hätte, würde man erfahrungsgemäß genauso von einem "typischen 2.Album sprechen". Beispiele gibts in der Musikhistorie genug.

    • Vor 2 Jahren

      "Bin übrigens in meinen frühen 30ern."

      Und das auf wundersame Weise, wie so viele hier auf Laut.de, schon seit mind. 10 jahren ;-)

    • Vor 2 Jahren

      Nutzi - "bestimmt" bedeutet natürlich, daß es nicht ums Alter, sondern um ein anderes Kriterium der verspotteten Gruppe geht ;)

      Ne, Anatol. Hat aber ne Weile gebraucht um zu merken, daß die meisten hier was älter sind. Schätze, bei der K-Pop-Kolumne geht es dann doch ums Überleben von laut.de. Offenbar schaufeln wir mit unserem Benehmen gegenüber Babies der Seite das Grab.

    • Vor 2 Jahren

      Tja. Und tragischerweise wohl nicht mal als Burn gedacht. Schleierhaft, warum man für die soviele Worte aufwendet.

  • Vor 2 Jahren

    Zu viele (filler)songs drauf...
    10 songs wären genug.

  • Vor 2 Jahren

    Fand die Vorabsingles allein nicht sehr berauschend, fügen sich aber ins Album sehr gut ein tatsächlich. Ein paar weniger songs hätten aber gut getan ('Everybody dies' und 'Not my responsibility' z.B. ziehen und ziehen und ziehen sich), hat aber einige Ihrer stärksten Outputs bisher hier. 'Oxytocin' ist 'Bad guys' 2.0 im positiven Sinne, 'Happier than ever' womöglich ihr bester song bisher (und für mich allgemein einer der besten des Jahres)

    • Vor 2 Jahren

      Würde ich genau so unterschreiben. Im Albumkontext wirken die Singles tatsächlich deutlich stärker. Für mich ist Billie Eilish mit Happier Than Ever tatsächlich ein kleines Stück in die Richtung "Albumkünstlerin" gerückt - auch, wenn das wahrscheinlich eher kontraproduktiv ist um die für die vermeintliche Zielgruppe TikTok & Co anzusprechen.

  • Vor 2 Jahren

    Trip-Hop und ASMR laufen ja derzeit sehr gut, dazu Texte, die Teenieprobleme aber auch den aktuellen Superstarstatus thematisieren. Zur besseren Unterscheidung noch die Ukulelenummern, alles richtig gemacht. Theoretisch könnte sie derzeit sogar Songs aufnehmen, die sie mit fünf "geschrieben" hat. Dürfte erfolgreich bleiben. Ich wünsche ihr ein stabiles Umfeld für die Zeit nach dem Hype. NDA finde ich sehr stark, ansonsten lieber gleich Portishead, Tricky oder Massive Attack. Die haben das Genre schon vor Jahren perfektioniert.

  • Vor 2 Jahren

    Total schwache Scheibe, kaum ein Highlight. Mega enttäuschend.

  • Vor 2 Jahren

    Ziemlich blutleer, v.a. auch im Songwriting. Schade.