laut.de-Kritik

An eine klassische Sopranistin reicht Gibbons nicht heran.

Review von

Mit seiner 3. Sinfonie op. 36, besser bekannt als "Sinfonie der Klagelieder", ließ der polnische Komponist Henryk Mikołaj Górecki 1976 seine Vergangenheit als Avantgardist hinter sich und komponierte ein Werk, das sich 1992 in einer Aufnahme unter dem Dirigenten David Zinman, die nicht unbedingt zu den bahnbrechendsten zählt, für einige Wochen sogar in den Pop-Charts befand. Seitdem hielt sie Einzug in mehreren Fernseh- und Kinofilmen, etwa "La Grande Bellezza - Die große Schönheit" (2013).

Die Instrumentation liest sich zunächst üppig: Neben dem Sopran-Solo kommen vier Flöten, vier Klarinetten, vier Hörner, vier Posaunen, zwei Fagotte, zwei Kontrafagotte, Harfe, Klavier und Streicher zum Einsatz - mindestens sechzehn erste und vierzehn zweite Violinen sowie zwölf Bratschen, zehn Violoncelli und acht Kontrabässe schreibt die Partitur vor. Jedoch stehen vor allem schwelgerische Streichercrescendi im Mittelpunkt. Harfe und Piano haben demgegenüber nur akzentuierenden Charakter. Bläser hört man durchgehend in Form von Liegetönen. Sie dienen zur Verdichtung des Klangbildes.

Die Sinfonie besteht aus drei langen, äußerst gediegenen Sätzen, die in verschiedenen Moll-Tonarten erklingen und die sich bis zum Sopran-Einsatz fortlaufend in die Höhe schrauben, so dass man sich in einem steten Klangfluss befindet. Zum Schluss klingen sie kontinuierlich wieder ab.

Thematisch spiegelt das ausschließlich in polnischer Sprache gehaltene Werk den tiefen katholischen Glauben des Komponisten wieder. Der erste Satz stellt ein Klagelied Marias dar, das dem Kloster Heiligkreuz auf dem Berg Łysa Góra in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstammte und das ihre Trauer über den gekreuzigten Jesus zum Inhalt hat. Beim zweiten Satz handelt es sich um ein Gebet, das man an einer Gefängniswand des Gestapo-Hauptquartiers in Zakopane entdeckte. Der finale Satz basiert auf einem oberschlesischen Volkslied, das sich während der polnischen Aufstände verbreitete und das um die Emotionen einer Mutter kreist, die um ihren gefallenen Sohn weint.

Es ging aber Gorecki nicht nur um eine Auseinandersetzung mit Gefühlen wie Schmerz, Verlust und Wut, sondern darum, diese in ihrer reinsten und unverfälschtesten Form offen zu legen, während eine Düsternis über dem Werk schwebte, die in ihrer Schwere, die tief in der folkloristischen Tradition Polens wurzelte, schon ziemlich erdrückend anmutete. Als beeindruckendes Zeugnis sei die Aufnahme mit der grandiosen Joanna Kozłowska und der Warschauer Philharmonie unter Leitung von Kazimierz Kord genannt, die 1994 auf Philips erschien.

Die vorliegende Einspielung, gespielt vom Sinfonieorchester des Polnischen Rundfunks und gesungen von Beth Gibbons unter der Leitung von Krzysztof Penderecki, die man am 29. November 2014 im The National Opera Grand Theatre in Warschau aufzeichnete, reicht da natürlich nicht heran. Dennoch gibt sich Gibbons die größte Mühe, die tiefgreifende Emotionalität dieses Werkes einzufangen, was ihr nicht unbedingt immer gelingt.

Zumindest bereitete sie sich intensiv auf diesen Abend vor. Sie lernte den Text, obwohl sie kein einziges Wort Polnisch sprach. Weiterhin nahm sie zunächst Unterricht bei Caroline Jaya-Ratnam in England und später bei Anna Marchwinska in Polen, da sie für klassische Verhältnisse ein Alt besitzt, das noch eine Stimmlage unter dem Sopran liegt. Die letztgenannte brachte ihr auch die richtige Aussprache des Textes nahe.

Darüber hinaus hielt man sich bei diesem Konzert nah an der originalen Partitur. Nur kürzte man die einzelnen Sätze um mehrere Minuten, was jedoch den Klangfluss nicht stört. Man muss aber definitiv ein Faible für klassische Musik im Allgemeinen und die Stimme von Beth Gibbons im Speziellen haben, um der Aufnahme etwas abzugewinnen.

Die wartet gegenüber der Version auf Philips mit festlicheren Streichern und hellerem Piano- und Harfenspiel auf, wie schon "I. Lento - Sostenuto Tranquillo Ma Cantabile" verdeutlicht, wodurch sich der Klang etwas klarer und nicht ganz so bedrückend gestaltet.

Der Satz beginnt mit wogenden, sich steigernden Streichercrescendi. Die weichen ab der zwölften Minute einer kurzen Pianoeinleitung, die Raum für Gibbons' Auftritt schafft. Im Anschluss greifen sie das Ausgangsmotiv wieder auf und ebben kontinuierlich melancholisch ab.

Die Britin überzeugt überwiegend in den ruhigen Momenten, in denen ihre resignierende Stimmfärbung noch am ehesten an Portishead erinnert. Dadurch drückt sie der Sinfonie durchaus ihren eigenen Stempel auf. Je mehr sie sich nämlich dramatisch in die Höhe schwingt, um so mehr tritt zu Tage, dass sie gegenüber einer klassisch studierten Sopranistin wie Kozłowska, was Ausdruck und Gefühlstiefe betrifft, zwangsläufig den Kürzeren ziehen muss. Die vermittelt nämlich tatsächlich tiefe Trauer.

Dass Gibbons Mittel im Vergleich zu Kozłowska doch ziemlich begrenzt sind, macht sich vor allem im sehr gesangslastigen "II. Lento E Largo - Tranquillissimo" bemerkbar. Der Satz mutet anfänglich tragisch an, verfügt aber später über mehr Zuversicht, genau wie das Gebet. So lässt sich die Britin zwar von den taumelnden Streicherklängen treiben, verliert sich auch mitunter in ihnen, nur um kurze Zeit danach über ihnen zu schweben, aber richtige Gänsehaut möchte sich dabei nicht einstellen.

Gerade aus diesem Grund dürfte die Aufnahme ein weiterer Beweis dafür sein, dass es schon fast unmöglich erscheint, dass sich E- und U-Musik miteinander im Einklang bringen lassen. Da tut sich nach wie vor ein breiter Graben auf.

Trotzdem sollte man der Aufnahme auf jeden Fall eine Chance geben, zumal sich Beth ihre Individualität und Ausstrahlung bewahrt hat. Wenn man also das Bedürfnis hat, ihre Stimme mal im klassischen Kontext zu hören, kann man sich diese Neueinspielung in wohldosierten Mengen durchaus zu Gemüte führen. Am besten auf der beiliegenden DVD, die das Konzert in bildlicher Form festhält. Darüber hinaus bleibt die Leistung der Britin, was die Phrasierung angeht, makellos. Das muss man selbst als Klassik-Hörer anerkennen.

So stellt sich vor allem "III. Lento - Cantabile-Semplice" als unerschütterlich heraus, wenn sich nach einer langen folkloristischen Passage, die vermehrt Holzbläser durchziehen, die die schwermütige Stimmung unterstreichen, die Streicher behutsam nach vorne schieben, um sowohl der Verzweiflung als auch der religiösen Festlichkeit von Gibbons Vortrag noch mehr Ausdruck zu verleihen. Spätestens dann erreicht die Sinfonie ihren anmutigen Höhepunkt. Am Ende gibt es verdienten Beifall.

Dementsprechend muss man sich zwar auf diese Neueinspielung von Henryk Mikołaj Góreckis 3. Sinfonie op. 36 erstmal einlassen, wird aber hier und da belohnt, zumal sie nach vier Jahrzehnten nichts an Eindringlichkeit und atmosphärischer Geschlossenheit eingebüßt hat. Gerade im Hintergrund der Ereignisse in Christchurch mutet sie aktueller denn je an. Die traurigen Fernsehbilder hätte man nämlich kaum passender unterlegen können als mit diesem Werk.

Wer es trotz alledem nicht ganz so traditionell mag, sollte sich mal die äußerst ansprechende Neuinterpretation des kanadischen Saxofonisten Colin Stetson mit dem Namen "Sorrow (A Reimagining Of Gorecki's 3rd Symphony)" von 2016 anhören, die sich nicht unbedingt vom klassischen Kompositionsschema löst, aber dieses mit Elementen aus Metal, Ambient, Drone und Jazz auflockert. Übrigens spielt die wunderbare Sarah Neufeld (Ex-Arcade Fire) auf diesem Werk Violine.

Trackliste

  1. 1. I. Lento - Sostenuto Tranquillo Ma Cantabile
  2. 2. II. Lento E Largo - Tranquillissimo
  3. 3. III. Lento - Cantabile-Semplice

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