laut.de-Kritik

Brass-Punk gegen Rechts.

Review von

100 Kilo Herz ist eine Brass-Punk-Band, zu der man - in normalen Festivalzeiten - bestens den Becher in die Luft recken und die gemeinsame linke Haltung feiern kann. Steht man in der wild springenden Meute, könnte man schnell auf die Idee kommen, die Welt wäre eigentlich schon progressiver. "Ich will kein Teil von eurem Leben sein / Ich schenk' euch höchstens den Schierlingsbecher ein", krächzt Sänger Rodi in "Drei Jahre Ausgebrannt" in Richtung Rechts. Die Leute, die er meint: "Ihr kauft euch 'ne Bild und findet gut, was ihr dort lest / Ich könnte kotzen, wenn ihr im Supermarkt vor mir an der Schlange steht / Den besorgten Bürger könnt ihr auch ganz gut verstehen / Und geht ins Kino, um den neuen Til Schweiger-Film zu seh'n".

Die Leipziger zeigen harte Kante gegen Rechts. Der Schierlingsbecher ist ein mit Gift gefülltes Behältnis, das in der Antike für Hinrichtungen genutzt wurde. Dieses drastische Bild ist natürlich nicht unproblematisch, verweigert die Band damit auch konsequent den Dialog mit jenen 'besorgten Bürgern', die man vielleicht noch erreichen kann. Und so sprechen die zwölf Songs keinen an, der nicht sowieso schon ähnlich denkt.

100 Kilo Herz machen Musik in der Echokammer - mit der richtigen Attitüde, aber wenig Potential an den kritisierten Umständen tatsächlich etwas zu ändern (siehe auch Feine Sahne Fischfilet). Das ist sehr schade, denn abseits des Giftbecher-Bilds haben 100 Kilo Herz viele gute Anliegen, entlarven Alltags-Sexismen und kreiden Rassismen an.

In "Drei Vor Fünf Vor Zwölf" warnt die Band sarkastisch davor, sich auf Teilerfolgen auszuruhen: "Nach über 80 Jahren haben wir Applaus verdient / Wir haben den Echo abgeschafft und den Judenhass besiegt". Das funktioniert textlich bestens, auch wenn die Musik hektisch davon zu preschen droht. Wie der Albumtitel andeutet, geht es dazu häufig um das Aufwachsen auf dem konservativen Land und den Kontrast zur Großstadt, etwa in "An Ampeln" oder "Der Späti An Der Klinik".

An anderer Stelle wird Alkoholkonsum kritisch betrachtet, etwa in "Tresenfrist": "Dein Abend endet jedes Mal mit der Barkeeper-Schicht / Und du schluckst und schluckst und schluckst, bis dich der Tresen frisst". Dass der Gesang oft unter schrammelig verzerrten Powerchords verbuddelt wird, ist den Songs allerdings weniger zuträglich.

Zudem: Bläser machen auf Festivalbühnen sicher Stimmung und bringen die Menge zum Tanzen, auf Platte funktioniert das aber nicht zwangsläufig genauso gut. Hier wirkt der Einsatz eher erzwungen, so als würde die Band Sänger Rodi eingängige Refrains alleine nicht zutrauen, weshalb die Trompete noch ein simples Motiv nachschiebt, das jeder mitgrölen kann.

Diese Parts rauben den gesungen Hooks aber Momentum und wirken im Kontrast zu den unangepassten Lyrics doch sehr kalkuliert. So verfällt "Das Ist Ein Ende" in den Strophen immer wieder in uninspirierten Ska-Punk. "Stadt Land Flucht" ist unterm Strich ein textlich solides Album, das sich musikalisch aber zu sehr auf die Bläsersektion verlässt.

Trackliste

  1. 1. Drei Jahre Ausgebrannt
  2. 2. Tresenfrist
  3. 3. Drei Vor Fünf Vor Zwölf
  4. 4. Träume (Reprise)
  5. 5. An Ampeln
  6. 6. Das Ist Ein Ende
  7. 7. Nur Für Eine Nacht
  8. 8. Der Späti An Der Klinik
  9. 9. ...Und Aus Den Boxen ...But Alive
  10. 10. Sowas Wie Win Testament
  11. 11. Scheren Fressen Feat. Planlos
  12. 12. Wenn Es Brennt

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LAUT.DE-PORTRÄT 100 Kilo Herz

100 Kilo Herz aus Leipzig machen Brass-Punk, also Powerchords, die von Bläsern flankiert werden. Dazu krächzt Sänger Rodi kritische Texte. Es geht …

5 Kommentare mit 7 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    warum schierling, wenn man auch champagner haben kann. allerdings bin ich bei dem schierlingsbecher in guter gesellschaft. ich hörte, sokrates soll auch einen genossen haben

  • Vor 3 Jahren

    "Dieses drastische Bild ist natürlich nicht unproblematisch, verweigert die Band damit auch konsequent den Dialog mit jenen 'besorgten Bürgern', die man vielleicht noch erreichen kann." Die sollten vielleicht eher mal verstehen, daß die Welt sich nicht um sie dreht, und nicht jeder Mensch Lust hat, ständig auf diese Wirrköpfe zuzugehen- bei denen ist eh Hopfen und Malz verloren...die sollen mal schön weiter auf dem Holzweg in die Sackgasse marschieren- das ist ihr eigenes Problem. Ich habe keine Lust, ständig zu hören, daß man diese zurückgebliebenen Gestalten aus ihrem ideologischen Bällchenbad abholen sollte- die können gerne bleiben, wo der Pfeffer wächst.

  • Vor 3 Jahren

    Das größte, moderne, linke Problem ist meiner Meinung nach die Blasenbildung.
    Klar will man keinen Dialog. "Ihr seid schlecht, wir haben Recht" ist eine verdammt gemütliche Haltung. Klare Kante gegen alles und jeden, da braucht es keine Selbstreflexion.
    So verhärten sich die Lager mehr und mehr, aber das ist etwas, was sich Leute die seit fünf Jahren irgendwas mit Nazis punchen in der Twitter-Bio stehen haben, nur wünschen. Schön auf die Fresse und die Arbeiterklasse bleibt einheitlich und elitär. Bringt zwar nichts im Kampf gegen das große Ganze, aber laut denen liegt jedes Problem sowieso bei weißen Rassisten.

    Erinnert mich ein gutes Stück an Alt-Righter und Wutbürger, die auch alles was nicht in den Kram passt aus ihrer kleingehaltenen Szene rausfiltern und ihr Feindbild auf ein- bis zwei Gruppen da draußen beschränken. Bei den einen ist es eine weiße Vorherrschaft die die Welt fest in ihrem Griff hält, bei anderen die Juden und/oder Muslime.

    • Vor 3 Jahren

      ja. aber wir haben lustige frösche und memes von männern mit großen nasen, die sich die hände reiben

    • Vor 3 Jahren

      Ich würde dem gar nicht widersprechen wollen, finde es aber total hanebüchend das auf dem Feld der Musik zu kritisieren, so als wäre dort der passende Raum für differenzierte Betrachtungen oder gar Ambivalenz.

      Nicht, dass es das nicht gibt, aber seit wann muss ein guter politischer Song so funktionieren, dass er die Antithese gleich mit integriert. So nach dem Motto: "Ja gut, Slime, wichtiger Punkt, aber jetzt noch eine Strophe, die zu Bedenken gibt, dass der Schwarze Block manchmal auch einfach unnötig profoziert."

    • Vor 3 Jahren

      Falls du gedacht haben solltest, dass Andere Nazi-Code nicht lesen können, sie können; ich auf jeden Fall.

      Wer in seinen user name "Blood & Hono(u)r Adolf Hitler Adolf Hitler" packt, hat sich bereits ab dort komplett disqualifiziert. Schön aber, dass du die Selbst-Disqualifierung mit modiösem Geblubber, Fixstrukturen, Generalisierungen und vorgefertigten Klischees bestätigt hast. Und die Arbeiterklasse hat auch noch reingepasst! Super! So braucht niemand zu zweifeln; ich jedenfalls nicht.

  • Vor 3 Jahren

    Inhaltlich zu wenig links, musikalisch Schrott!

  • Vor 3 Jahren

    "Der Schierlingsbecher ... dieses drastische Bild, ist natürlich nicht unproblematisch ... Und so sprechen die zwölf Songs keinen an, der nicht sowieso schon ähnlich denkt."

    Tja, so ist das, vor allem bei Filmen und Musik. Sie werden mit Blick auf eine bestimmte Zielgruppe gemacht und verfolgen in aller Regel nicht das Ziel, die wie auch immer gestrickten 'Anderen' zu missionieren oder zu bekehren. Bei nicht-kommerzieller Musik, Nicht-Main-Stream-Rotz, kommt dazu, dass Bands & Interpret*innen auch eine ernst zu nehmende Weltsicht mittransportieren. Wenn sie damit die Zielgruppe ansprechen, was ließe sich dagegen einwenden?

    Die Vorhaltung, die Band verweigere "konsequent den Dialog mit jenen 'besorgten Bürgern', die man vielleicht noch erreichen" könne, zeugt ungeachtet des "vielleicht" von - wenn auch liebenswerter - Naivität, ist undurchdacht und nicht begründbar. Insbesondere deshalb nicht, weil das explizierte Ideal des Dialogs eine Illusion ist. Auch wenn in einem Film dutzende oder hunderte Dialoge vorkommen, ist und bleibt ein Film als Solches ein Monolog, weil ein Dialog mit fiktiven Protagonist*innen auf einer Leinwand / einem Monitor faktisch nicht möglich ist. So verhält es sich auch mit Gesang. Mit jemanden, die/der auf einer Bühne ist und singt, lässt sich kein Dialog führen, viel weniger dann, wenn die Mucke auf Konserve kommt.

    Genauso illusorisch wie das Dialog-ideal ist die Erwartungshaltung, die Band möge sich doch bitte mehr Potential zulegen, um "an den kritisierten Umständen tatsächlich etwas zu ändern". Liedtexte können bestensfalls ein Impuls sein, der zu Bewusstmachung oder Reflexion beiträgt, noch besserenfalls zu einer Einstellungs- oder Verhaltensänderung - aber ein Umstände-Änderungsmittel sind sie nicht. Noch nie gewesen. Ergo ist der in der Erwartung enthaltene Subtext, der Rezensent wisse besser als die Bandmitglieder, was 'das Richtige' und also zu tun sei, nicht nur anmaßend, sondern geradezu abstoßend.

    Alles in allem sagt die Rezension mehr über den Rezensenten als über das Album, auch dann, wenn es um seinen vordergründig ins Feld geführten Musikgeschmack geht, tatsächlich aber wiederum um seine persönliche Erwartung, wie Musik zu sein habe. Weil aber gilt: Le goût et les couleurs ne se discutent pas, endet das posting an dieser Stelle.