laut.de-Kritik

Die Quintessenz einer physischen Erfahrung durch Musik.

Review von

Einige meiner Freunde gründeten im frühen Sommer 2019 einen Hexenzirkel für dieses Album. Es war ein sonniger, aber windiger Juni und wir prokastinierten Tagejobs und Uni-Aufgaben mit dem Versuch, die perfekten Settings für perfekte Alben zu finden. Meistens war das nicht besonders schwer: "Loveless" von My Bloody Valentine? Zur Geisterstunde im Keller der Uni. Easy. "Melodrama" von Lorde? Ein Hügel bei Sonnenuntergang. Klaro. "Tago Mago" von Can? Im Auto, auf einer Landstraße in Richtung Osten. Alles einfach, alles machbar. Nur "Space Is The Place" von Sun Ra war das unmögliche Album. Gleichzeitig war es das, das wir am meisten wollten.

Lasst mich also, bevor ich euch von diesem Album erzähle, von dem einen Abend berichten, an dem ich für Sun Ra Teil eines Hexenzirkels war. Der Plan sah folgendermaßen aus: Wir haben uns auf einem Waldstück getroffen, zu Fuß etwa eine Stunde von Tübingens Nordseite entfernt. Der Vormittag war klar, kühl und aus dem Wald roch es nach Disteln. Die Sound-Anlage spielte per Batterie mehrere Stunden. Wir legten den Opener und Titeltrack "Space Is The Place" auf Repeat auf und begannen, zu tanzen. Eine Freundin hatte uns von einer französischen Stadt erzählt, in der christliche Pilger bis tief in die Nacht zu hunderten das selbe Gebetslied sangen. Das sollte unsere Inspiration sein. Also stellten wir uns auf der Wiese im Nirgendwo im Kreis auf, bewegten uns unbeholfen um die Box und begannen die Vocals des Songes mitzusingen, erst leise, flüsternd, dann immer lauter, grölender. "Space is the place" als Frage, "space is the place" als Antwort zurück, "yeah, yeah, yeah" als Adlib, wenn man wollte. Nach einer halben Stunde lagen wir lachend am Boden und fanden mit unserem Scheitern ab. Wir waren schlechte Hexen und sahen wie die letzten Idioten aus. Wir ließen das Album zu Ende laufen, sahen dabei in den Nachmittagshimmel und trugen schließlich die Box mit halbem Akku nachhause.

Ich halte diese Erinnerung in großer Ehre, allem voran, weil ich sie vollumfänglich und gänzlich erfunden habe. Nichts davon ist je passiert. Aber eine Frage kann ich euch beantworten: Warum "Space Is The Place"? Es wäre wirklich das eine Album, das ich für diese Situation am meisten wollen würde. In meinen Augen ist es ein perfektes Album, möglicherweise das beste, das je aufgenommen wurde. Die nackten Daten sehen folgendermaßen aus: Es ist ein experimentelles Jazz-Album, das als Begleitstück für Sun Ras psychedelischen Film des gleichen Namen aufgenommen wurde und Teil seiner letzten großen Arbeitsphase ist, in der er in Kalifornien lebte, an einem College über den schwarzen Mann und den Kosmos lehrte und sich langsam darauf vorbereitete, diese Erde wieder Richtung Saturn zu verlassen. Technisch gesehen vermengen sich die letzten Reste seiner Chicago-Bebop-Sozialisierung mit einem ideologischen Kind des New Things, Free-Jazz-Improvisationswände treffen auf John Coltranes Spiritual Jazz-Kosmologie. Es ist die Sorte Scheiße, mit der Jazz-Kenner ihre Kinder erschrecken. Es ist ein Wink mit der Unhörbarkeit.

Das alles interessiert mich nicht. Sun Ra selbst war kein Avant-Gardist, er war ein humorvoller Mann, der sein Arkestra in campy DIY-Science-Fiction-Roben mit ägyptischem Dekor gesteckt hat. Auf dem CD-Rücken der Platte steht der Satz, "wenn jeder Marine ein Schütze ist, dann spielt jedes Mitglied des Arkestras auch Percussion". Bedeutet kurzum: Wir ziehen uns an wie Cyber-Pharaonen und kloppen auf unseren Instrumenten und Stimmbändern herum, bis wir uns auch entsprechend fühlen. Das ist urkomisch, und kann in seiner Komik nur noch getoppt werden, wenn selbiges von einem Haufen deutscher Lappen in einem schwäbischen Wald versucht wird. Das ist irgendwo, was "Space Is The Place" ist; ein Stück konservierte Fantastik, ein monolithischer Musikkörper, der durch seine reine Haptik an einen Ort transportierte, der die Frage hinfällig macht, ob er real ist oder nicht. Wie kann ein Ort fiktiv sein, den man so einfach erreichen kann?

Zentrum dieser Reise markiert natürlich der titelgebende Opener. "Space Is The Place" ist ein zwanzigminütiges Jazz-Opus, auf dem Hörner schreien wie bei Albert Ayler, dazwischen Trommeln prasseln und ein desorientierender, vielstimmiger Gospel-Chor die selbe Mantra in die Unendlichkeit singt. "Space Is The Place" als Frage, "Space is the place" als Antwort, im Hintergrund brüllt jemand ein "Yeah, yeah, yeah", dann die Wiederholung.

Laut offiziellen Daten hören wir hier die Stimmen von fünf Menschen, aber ist man in dem Song, dann könnten es auch Tausende sein. Wieder und wieder regen sich die selben Motive, aber die Energie der Session ist so hoch, dass kein Takt dem anderen gleicht, jeder Darsteller nähert sich mit jedem Ton einen Fußbreit weiter dem endgültigen Kollaps – und wie der Plattenrücken sagt, ein jeder hier spielt reine Percussion. Es ist ein Lärmteppich mit minimalem Melodiefragment im Herzen, einzig und allein darauf ausgelegt, dir diese eine Weisheit mitzuteilen: Space ist in der Tat the place. Fünf Menschen und Dutzende Instrumente werden ein stehendes Heer, ein Kollektiv, nur um diese Logik zu vermitteln. Der Song schwillt an und kippt ein, er kommt und geht in Wellen und Schüben, die zwanzig Minuten fühlen sich an wie eine Stunde, die in fünf Minuten vergangen ist.

"Images" gibt eine kurze, marginal traditionellere Verschnaufpause, die die Lebenslinie zum Cool Jazz und Bebop klarer aufleuchten lässt, bevor diese auf "Discipline 33" und "Sea Of Sound" wieder in der völligen Ekstase versinkt. Würde man Menschen fragen, was der emotionale Kern von "Space Is The Place" ist, würden sie verdutzt nachdenken, was sie dabei empfunden haben. Die Antwort ist: Ekstase. Ist Ekstase eine Emotion? Es gibt auf jeden Fall ein emotionales Gegenstück zu Ekstase, es ist das Gefühl, das jemanden packt, der vor den Pyramiden in Gizeh steht, oder vor einem Space Shuttle, auf den Ruinen eines altgriechischen Tempels wandert oder in einer gigantischen Menschenmenge versinkt. Es ist so etwas wie Lovecraftscher Horror, der mit einem Bein im irrealen Bewusstsein steht, dass all das aus uns Menschen hervorgeht, aber – holy fuck, sind wir als Kollektiv manchmal nah daran, mit dem Kosmos zu verschmelzen.

"Space Is The Place" ist die Quintessenz einer physischen Erfahrung durch Musik. Es ist kein Album, sondern ein Initiationsritus, der durch Läuterung, Überforderung und kollektiven Einklang und Vielklang feuertauft. Es ist eine Unhörbarkeit mit System, die größer als ihr Medium scheint. Deswegen auch mein imaginärer Hexenzirkel, den Sun Ra selbst vermutlich ziemlich beschissen gefunden hätte. Aber das ist mein Versuch einer Annäherung, diesem monolithischen Album den Raum zu geben, den es wirklich einnehmen sollte, die Stimmen hinzuzufügen, die ich ohnehin schon darin höre, die Dauer nicht mehr in Wellenform abzumessen. Vielleicht misst die Distanz zwischen mir und dieser Session von Sun Ra und seinem Arkestra 1972 genauso weit, wie die zwischen ihm und seiner Erfahrung der Pyramiden in Gizeh und der Aliens, die er auf dem Saturn getroffen hat. "Space Is The Place" ist ein anstrengendes, wüstes Dickicht von einem Album, aber eines, das sich zu erkunden lohnt. Manchmal höre ich es spät nachts, sehr laut über Kopfhörer und fühle mich wie ein Grenzgänger, denn weiter nach da draußen hat mich noch kein Album dieser Erde geschickt. Und was weiß ich schon, aber manchmal, wenn die quietschenden, rumpelnden Saxophone auf "Rocket Number 9" das Ächzen und Beben von Raketentriebwerken emulieren, dann fühle ich mich jener Rakete nahe, in der Sun Ra jetzt gerade auf dem Weg in Richtung seines Heimatplaneten fliegt.

Übrigens: Meine Erzählung ganz am Anfang war nicht völliger Bullshit. Es gab diesen Moment, an dem ich realen Freunden von meinen Hexen-Ambitionen und von "Space Is The Place" erzählt habe, und sie sich meines Bullshits erbarmt haben. Es war ein milder Oktoberabend 2020, wir waren vier Leute aus zwei Haushalten mit einer Bluetooth-Box unter einen Apfelbaum an einen Hügel hinter ihrem Dorf. Der Sound war schlecht und das Album schaffte es in seiner blechernen mp3-Haftigkeit kaum, die nahe Landstraße zu übertönen, aber ein paar Takte haben wir immer wieder das Mantra mitgesummt. "Space is the place" als Frage, "Space is the place" als Antwort, "Yeah Yeah Yeah", dann haben wir in den Nachthimmel hinter den Apfelbaumzweigen geschaut. Ich weiß nicht viel in meinem jungen Leben, aber ich bin mir inzwischen mit einer Sache fundamental sicher: Space ist in der Tat the place.

Und irgendwann vielleicht, da verstehe ich auch, was Sun Ra uns damit eigentlich mitteilen wollte.

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Space Is The Place
  2. 2. Images
  3. 3. Discipline 33
  4. 4. Sea Of Sound
  5. 5. Rocket Number Nine

Videos

Video Video wird geladen ...

3 Kommentare mit 8 Antworten

  • Vor 3 Jahren

    wun-der-voll. ich wünschte, die geschichte wäre wahr. sie sollte es sein.

  • Vor 3 Jahren

    Schönbuch feinstes Stück Wald, yo. Mit Mukke auf Abruf, die eine oder andere Sommernacht drin herumzuhampeln, -chillen oder meinetwegen auch -hexen lohnt sich heftig, ma sagen.

    • Vor 3 Jahren

      Ich halte Niedersachsen in vielerleit Hinsicht für das langweiligste Bundesland, insofern habe ich jedes Verständnis der Welt, da mal weg zu wollen. Aber was zur Hölle hat dich denn ausgerechnet zu den Schwaben getrieben? :suspect:

    • Vor 3 Jahren

      Ernsthaft, Gleep? Was hat Dich da hingezogen? Oder stimmt die Info nicht? Das Schwabenland ist zwar wirklich hübsch, allerdings auch der ödeste Ort, an dem ich meine Zeit verbringen durfte. In Stuttgart ist ungefähr so viel los wie in einer 500-Seelen-Gemeinde einer beliebigen anderen Region.

    • Vor 3 Jahren

      @Kubi:
      Naja, eben. War halt die Option, die am weitesten weg war. :-D
      Zu meiner Verteidigung möchte ich aber noch anfügen, dass ich damals noch nicht wusste, was ein Schwabe ist.

    • Vor 3 Jahren

      Und das mit dem wenig los sein relativiert sich an der Einwohnerzahl gemessen in einer Studentenstadt auch - wenn man Landei ist, sowieso.

    • Vor 3 Jahren

      Na, solangs gefällt. Ist bei mir jetzt auch schon zehn Jährchen her. Fand die Stadt damals sehr deprimierend. Ab 20 Uhr waren die Bügersteige leer, und am Wochenende wars auch nicht viel besser. Und dann war sie auch noch konservativ genug, um absolut keine Freiräume wie z.B. Zeckenzentren zuzulassen. Vielleicht lohnt sich mittlerweile aber ein Besuch wieder.

    • Vor 3 Jahren

      Zugegeben habe ich natürlich vor allem die günstige Gelegenheit gewittert, gegen zwei Regionen auf einmal zu stänkern :koks: Tatsächlich war ich noch nie in Tübingen, finde schwäbisch als Dialekt eigentlich ganz sympathisch und landschaftlich hat BaWü sicher auch einiges zu bieten. Gewisse Vorbehalte ggü. der sog. Mentalität kann ich aber tatsächlich nicht ganz leugnen ;)

    • Vor 3 Jahren

      Owacht vor de Gelbfiaßler, sollte klar und oberste Bürgerpflicht sein.

      Selbst in den (noch) nicht zu BaWü gehörenden auserkorenen und heutzutage als mindestens teilbesetzt zu betrachtenden Speckgürtel-Teilen des Ländles sind die unermüdlichen Bestrebungen, den Menschen am schwäbischen Wesen genesen zu lassen, bereits weit mehr als nur ein alltägliches Ärgernis für einzelne Abweichler im öffentlichen Raum, sondern müssen inzwischen tatsächlich als die schlimmste Bedrohung für eine friedlich-pluralistische Weltgemeinschaft auf Weltraumerkundung gleich nach Pandemien aller Art und menschengemachtem Klimawandel angesehen werden!

      (aus: Propagandamaterial für die aktuelle Kampagne "Souveränes Bayern in einem freien Europa: Warum Bayern und Deutschland getrennte Nationen werden sollten")

    • Vor 3 Jahren

      Was für ein Fund! :D

      Btw.: Könnte man außerhalb Bayerns Parteien wählen, die die bayrische Unabhängigkeit propagieren, hätten sie schon bei der nächsten Wahl die absolute Mehrheit sicher.

  • Vor 3 Jahren

    K-Pop-Koryphäe Yannick rezensiert Weird Jazz. Es ist grossartig. Und "Es ist die Sorte Scheiße, mit der Jazz-Kenner ihre Kinder erschrecken" kann man sich locker ins Regal der besten Oneliner in laut.de - Rezensionen stellen. Hut ab.