laut.de-Kritik

Die Rückkehr in den Garten Eden des Pop.

Review von

Wäre diese Geschichte ein Märchen, man erzählte sie wohl folgendermaßen: Es war einmal ein schöner Prinz. Alle Mädchen fanden ihn ganz bezaubernd. Sein Hit "Baby, Baby" ließ die Polkappen schmelzen. Im ganzen Land herrschte Frieden und Eintracht, das Volk liebte ihn. Doch auf einmal stellte sich das Schicksal gegen ihn, seine Stimme änderte die Farbe, und seine Jünger suchten sich neue Götzen, die sie verehren konnten.

Der Prinz, nennen wir ihn Justin, verlor sich in Selbstmitleid, das sich in Trotz wandelte und irgendwann in Rebellentum umschlug. Jede Aktion rief: Bitte lasst mich in Ruhe, aber bitte beachtet mich! Es folgte die Verbannung aus dem Paradies … Auf den Tiefpunkt angekommen, kommt aber für gewöhnlich die Wende. So will es das Märchen, und Hollywood ebenso. Hier beginnt die Metamorphose des Justin Bieber. Sie ist geglückt, zweifellos. "Purpose" lässt mich, den Anti-Belieber, verdattert zurück, ohne Flachs.

Mühelos changiert Bieber zwischen langsamen und schnelleren Nummern, mal aufwändig arrangiert mit Skrillex, dann wieder aufs Wesentliche reduziert. Es fällt auf: Kein Song klingt nach jugendlicher Unbekümmertheit. Es schwingt etwas Zurückhaltendes, ich will es fast nicht sagen, aber … Verletzliches mit. Das Bild eines gereiften Künstlers verfestigt sich. Eines Künstlers, der die Dinge inzwischen differenzierter betrachtet.

Justin Bieber will sich von seinem Image als Kinderstar endgültig befreien. Houdini wäre es nicht besser gelungen. "Love Yourself" zum Beispiel veranschaulicht diesen Entwicklungsschritt ziemlich gut: "And I've been so caught up in my job, didn't see what's going on / And now I know, I'm better sleeping on my own."

Der Blick zurück zieht sich durch das gesamte Album, ohne verbittert zu klingen. Was für eine Beschreibung für einen 21-Jährigen! Dabei hat Justin Bieber mit seinen wenigen Lenzen wahrscheinlich mehr erlebt als der Papst, Barack Obama und das Krümelmonster zusammen. Straßenmusiker, YouTube-Sensation, umjubelter Kinderstar, gescheiterter Kinderstar, Bad-Boy mit Arschloch-Image, Seth Rogen nennt ihn 'piece of shit', und immer so weiter. Der Ritterschlag blieb bislang jedoch aus: Der Präsident hält sich mit Beleidigungen gegen ihn bedeckt. Um in den Status eines Yeezus aufzusteigen, erfordert es noch ein wenig mehr. Doch die nächste Preisverleihung kommt bestimmt.

Auf "Purpose" drückt sich die Verschiebung hin zu einer reflektierten Selbstwahrnehmung aus. Noch erstaunlicher als der Sinneswandel gerät allerdings das musikalische Konzept der Platte. Trotz der inhaltlich eher gedrückten Stimmung gelingt Justin Bieber ein von der ersten bis zur letzten Minute tanzbares Album. Alles klingt irgendwie wunderbar smooth. Die vorab unters Volk gebrachten Singles "What Do U Mean" und "Where Are U Now" springen einem da natürlich direkt ins Gesicht, aber auch kleine Perlen wie "Love Yourself" überzeugen mit minimalistischem Ansatz.

Kritisch wird es dagegen bei Themen, die sich Biebers unmittelbarer Erfahrungswelt entziehen. Besonders das entsetzliche "Children" brennt sich mir wohl unauslöschlich in mein auditives Gedächtnis ein. "Who's got the heart? Who's got it? / Whose heart is the biggest?" Ernsthaft? Der ultimative moralische Schwanzvergleich. Über plattitüdenhafte Beschreibungen kommt der Song nicht hinaus.

Mitunter drohen einzelne Nummern wie "Life Is Worth Living" unter dem Gewicht der übergroßen Popstar-Pose, hier in Form des gegeißelten Künstlers, einzubrechen. Allerdings fängt das harmonische Ganze solche kleineren Makel locker auf.

"Purpose" dürfte für Justin Bieber die Rückkehr in den Garten Eden der Popwelt bedeuten. In dieser Hinsicht glückt das Happy-End, wie es das Märchen vorsieht. Die Geschichte um den Kinderstar Justin Bieber mag ihr Ende gefunden haben. Das Album schlägt jedoch zugleich ein neues Kapitel auf. Der Kanadier hat seine Erfahrung mit dem Business gemacht, er ist älter und reifer geworden. Nun muss er liefern, um in der Welt der Erwachsenen zu bestehen.

Trackliste

  1. 1. Mark My Words
  2. 2. I'll Show You
  3. 3. What Do You Mean
  4. 4. Sorry
  5. 5. Love Yourself
  6. 6. Company
  7. 7. No Pressure (feat. Big Sean)
  8. 8. No Sense (feat. Travis Scott)
  9. 9. The Feeling
  10. 10. Life Is Worth Living
  11. 11. Where Are U Now (feat. Skrillex & Diplo)
  12. 12. Children (feat. Skrillex)
  13. 13. Purpose

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