25. April 2024

"Canceln finde ich erstmal schwierig"

Interview geführt von

Vor dem Kettcar-Konzert am 17. April im Leipziger Haus Auensee diskutierte ich mit Bassist und Co-Songwriter Reimer Bustorff über (Alltags)Rassismus, Gewissensbisse beim Morrissey-Hören und Altersmilde.

Seit 2001 überzeugen Kettcar das Feuilleton, begeistern ihre Hörerinnen und Hörer und ärgern Verächter ambitionierter Texte mit anspruchsvollen deutschsprachigen Lyrics.

Vor dem Kettcar-Konzert am 17. April treffe ich mich mit Reimer Bustorff im Leipziger Haus Auensee. Wir unterhalten uns gut 35 Minuten lang. Nicht jede meiner Fragen nimmt Reimer positiv auf. Doch es bleibt nicht nur ein interessantes, sondern auch ein respektvolles Gespräch. Zum Schluss bemerkt Reimer, dass meine Fragen "mal was anderes" gewesen seien, was er als gut empfunden habe. Ich freue mich über diese Anmerkung, kommt sie doch vom Co-Songwriter einer der wenigen deutschsprachigen Bands, deren Texte ich häufig nicht nur als klug, sondern auch im besten Sinne philosophisch empfinde.

Nach 23 Jahren Bandkarriere steht ihr mit "Gute Laune ungerecht verteilt" zum ersten Mal an der Spitze der deutschen Albumcharts. Wie erklärst du dir den Erfolg des neuen Albums?

Das ist schwierig zu beantworten. Wir arbeiten natürlich auch mit dem Label darauf hin, dass es chartmäßig funktioniert, und schauen, was man machen kann, Promokampagnen zum Beispiel. Ich denke, dieser Charterfolg hängt natürlich auch damit zusammen, was in der Woche sonst noch kommt. Ich hab in dieser Woche nochmal reingeguckt, diese Woche hätten wir es vielleicht nicht geschafft. Das ist immer auch ein bisschen Glückssache. Und so wichtig ist uns das nicht. Aber wir freuen uns natürlich schon ein bisschen.

Du hast gesagt, dass ihr auf den Charterfolg "hingearbeitet" habt. An welche Songs auf dem neuen Album denkst du da?

Beim Schreiben nicht, würde ich sagen. Das habe ich nur auf das Label und die Promokampagne bezogen. Als wir "München" geschrieben haben, wussten wir sofort, dass das die erste Single wird. Der Song war für uns ein gutes Statement. Wir haben natürlich auch, wenn man das so nennen kann, wahnsinnig Glück gehabt, dass es dann eine Situation gab, in der der Song wie Arsch auf Eimer gepasst hat.

Diese Konferenz in Potsdam.

Genau! Der Song wurde ja viel früher geschrieben, den haben wir letztes Jahr im Sommer irgendwann fertig gehabt. Und wir wussten damals schon, dass er die erste Single wird, weil er in seiner post-punkigen Attitüde für uns ein bisschen spezieller war, ein bisschen verstörender. Er sollte so einen Hallo-wach-Effekt auslösen. Und ich glaube, das haben wir ganz gut erreicht. Wenn man so die Kommentare querliest, hat man auch die Leute, die eher die "Balu"-Hörer sind, die die andere Facette von Kettcar gernhaben. Für die war der Song eher verstörend.

Ich komme später noch auf den Song zurück. Erst mal noch zum Albumtitel: Die Worte "ungerecht verteilt" kommen vielen Kettcar-Hörern noch bekannt vor.

Richtig!

Im Song "Pete" von Marcus Wiebuschs vorheriger Band But Alive gab es mal die Passage "Es ist ungerecht verteilt, das sieht jeder, der gut hinsieht", jetzt taucht sie in "Doug & Florence" in nur ganz leicht veränderter Form wieder auf. Es ist sicher kein Zufall, dass die beiden Worte "ungerecht verteilt" es auch in den Titel des neuen Kettcar-Albums geschafft haben, oder?

Soziale Gerechtigkeit ist etwas, was uns durch die musikalische Karriere begleitet. Wir, die wir durch den Punk sozialisiert worden sind und politisch denken, haben weiterhin gewisse Dinge auf dem Schirm und beobachten weiterhin Dinge, an denen sich nichts ändert.

Wahrscheinlich ist die Formulierung "ungerecht verteilt" jetzt auch mal abgefrühstückt, ich weiß nicht, ob Marcus die nochmal droppen wird. Mal gucken ... [lacht] Vielleicht, wenn sie mal perfekt passen sollte in einem anderen Kontext.

Wenn man textet, wiederholt man sich stellenweise, aber ich finde, man kann auf diese Weise eine Textstelle – wie in diesem Fall – in ein anderes Licht rücken, als Zeitdokument.

Im Opener "Auch für mich 6. Stunde" habt ihr eine bekannte Interview-Floskel eingebaut: "Unser politischstes Album seit ..." Ich persönlich hätte ja gesagt, euer bisher politischstes Album. Aber Marcus bricht mitten im Satz ab, wie das auch Frank Spilker von den Sternen gerne macht. Das macht er mit einem eindeutig sarkastischen Tonfall. Ich lese daraus, dass ihr genervt seid von Interviewfragen wie "Ist das euer politischstes Album?". Und ich glaube, dass ihr wegen der aktuellen politischen Lage in Deutschland auch gar keine andere Möglichkeit für euch seht, als euch in euren Liedern politisch zu äußern. Habe ich das richtig interpretiert?

Ja, würde ich auch so sehen. Wir stellen uns natürlich schon immer die Frage "Was regt mich gerade an zum Texten?". Und klar sind wir dieser Frage "Ist das jetzt euer politischstes Album?" müde. Ich finde, dass "Ich Vs. Wir" genauso politisch war. Wir haben auch jetzt wieder Beziehungslieder, wir haben Storytelling. Und wir hatten Songs wie "Sommer '89" oder "Mannschaftsaufstellung" auf der letzten Platte, politische Songs, die vielleicht auch so eine Punk-Attitüde mitgebracht haben. Insofern sehe ich die beiden Alben eher auf einer Ebene. Ich hab's jetzt nicht ausgezählt, aber …

Du hast mich überzeugt. Aber würdest du insoweit mitgehen, dass die letzten beiden Alben eure politischsten sind?

Ja. Und so eine Zeile [wie Marcus' sarkastisches "Unser politischstes Album seit …"] sollte man mit einem Augenzwinkern sehen. Wir beantworten solche Fragen natürlich gerne. Marcus wollte an der Stelle verdeutlichen, dass es für uns nicht wichtig ist, ob ein Album unser politischstes ist.

"Man muss immer darauf schauen, wer die Frage stellt und was die Frage bezwecken will."

Kommen wir zu "München". Der Text ist zumindest semi-autobiografisch geprägt. Du warst mit Yachi in einer Fußballmannschaft.

Genau. Wir haben in der B-Jugend in Hamburg-Niendorf zusammengespielt.

Der Song hat auf jeden Fall einen Text, der polarisiert. Die einen haben die Lyrics abgefeiert, die anderen haben das Gegenteil getan. Es gibt die Zeile "Wo bist du eigentlich hergekommen?", eine Frage, die die Mutter des lyrischen Ichs, das ich jetzt nicht mit dir gleichsetze, Yachi stellt und ...

Nicht so ganz. Die Mutter ist die, die ihm über das Haar streichelt. Die Mutter taucht eigentlich nur einmal auf in der ersten Strophe, sie kommt mit dieser gut gemeinten Geste und mit Sympathie zu ihm. Und trotzdem ist das wahrscheinlich das, was man "positiver Rassismus" nennt.

Aber der Text ist nicht insoweit autobiografisch, als ... ?

Das war nicht meine Mutter, nein.

Es gab sehr unterschiedliche Bewertungen der Zeile "Mein Herz ist ein totgeschlagenes Robbenbaby". Wie kamst du auf dieses Bild? Hast du einfach einen Reim gebraucht oder ... ?

Tatsächlich brauchte ich den Reim, das hast du gut erkannt. Ich brauchte einen Reim auf "Lady", was gar nicht so einfach war. Und das Bild ist so zustande gekommen, dass ich beobachtet habe, dass Yachi sich assimiliert, Teil einer Gesellschaft sein möchte, dazugehören möchte, und trotzdem irgendwie auf einer Eisscholle allein dahinschwamm. Es ist immer schwer zu erklären, wie solche Bilder im Kopf entstehen, aber das war meine Assoziation.

Also ist das Bild auch eine Metapher fürs Alleinsein, fürs Verlorensein zwischen den "Welten"?

Genau!

Und es gibt auch dieses Bild eines Inuks, der sich auf eine Eisscholle setzt und dann zum Sterben rausschwimmt. Das wollte ich rüberbringen, dieses Verlorensein, obwohl man eigentlich Teil dieses ganzen Gebildes ist – aber dann auch wieder nicht so richtig.

Wir sind uns einig darin, dass die Frage "Wo bist du eigentlich hergekommen?" vor allem aufgrund der Formulierung mindestens unhöflich ist. Nehmen wir an, die Frage wäre anders formuliert worden, etwa so: "Darf ich fragen, wo du deine Wurzeln hast?" Einige Personen haben in den letzten Jahren Shitstorms erlebt, weil sie solche Fragen mitunter stellen, Elke Heidenreich etwa hat vor ca. 2 ½ Jahren in der Talkshow von Markus Lanz das Stellen dieser Frage gegen den Vorwurf des impliziten Rassismus verteidigt. Sie kann nicht nachvollziehen, warum ihr aufgrund des Stellens dieser Frage Rassismus vorgeworfen wird.
Ist die Frage nach der geografischen Herkunft, wenn diese Herkunft vorher nicht thematisiert wurde, deiner Meinung nach rassistisch?

Die Frage nach der Herkunft ist für mich nicht per se rassistisch. Aber ich glaube, dass wir uns von dieser Frage lösen sollten, weil sie nicht mehr in unsere Gesellschaft passt. Was ich im Text versucht habe, ist, eine Geschichte zu erzählen von jemandem, der in München geboren wurde. Ich weiß nicht, welche Generation vor ihm wo hergekommen ist. Deswegen glaube ich, dass wir uns in unserer multikulturellen Gesellschaft von diesen Fragen lösen müssen.

Man muss die Frage im Kontext des Songs sehen. Ich hab natürlich auch Kommentare gelesen wie "Warum darf man nicht fragen, wo jemand herkommt?". Du kannst mich jetzt auch fragen "Wo kommst du her?" und ich sag dir dann "Ich komm aus Hamburg!". Dann fühl ich mich nicht ausgegrenzt oder beleidigt. Man muss immer darauf schauen, wer die Frage stellt und was die Frage bezwecken will. Wenn irgendwo ein Verbrechen begangen wird, werden diese Fragen doch andauernd gestellt.

Das ist richtig. Man muss nach Verbrechen nur mal Onlinekommentare lesen, zum Beispiel auf welt.de, da steht die Frage für die meisten User im Vordergrund.

Ganz genau! "Wo kam der Täter her?" Deswegen fasse ich den ganzen Text mit den Fragestellungen "Wo bist du eigentlich hergekommen?" und "Hätte man ihn dahin denn nicht zurückschicken können?" zusammen. Wir wissen doch, wer solche Fragen stellt, und darum geht's.

Die Zeilen "Und der Weihnachtsmarkt leuchtet / Hinter Legosteinen aus Beton" haben mich ehrlich gesagt irritiert. Der Text von "München" ist ja insgesamt ungewöhnlich direkt für Kettcar, auf die genannten Zeilen kann ich mir aber bis jetzt nicht wirklich einen Reim machen. Als "Legosteine aus Beton" wurden in den letzten Jahren vor allem in Boulevardzeitungen Poller bezeichnet, die seit dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz in Berlin als Schutzmaßnahme aufgebaut werden. Kannst du mir den Sinn dieser Zeilen im Songkontext erklären?

Für mich sind das Sinnbilder einer Gesellschaft, die sich und ihr Luxusleben abschottet: der Weihnachtsmarkt und vorher … [überlegt]

Das Riesenrad.

Genau! Es geht um die Frage, wie wir als Gesellschaft mit der Angst vor dem Fremden, das von draußen reinkommt, umgehen.

Aber ich will in meinen Texten auch nicht eindeutig erklären, sondern ich will, dass du stolperst in den Texten. Ich will es den Leuten nicht zu einfach machen.

Einmal möchte ich noch den Advocatus diaboli spielen. Auf der linken Seite des politischen Spektrums wird oft der Satz "Das könnte den Falschen in die Hände spielen!" genutzt, wenn dafür argumentiert wird, manche Geschehnisse in der westlichen Welt nicht tiefer zu analysieren oder gar überhaupt nicht zu thematisieren, weil die rechte Seite des politischen Spektrums ihre eigenen Schlüsse aus diesen Geschehnissen zieht und man diese Seite nicht aufwerten will.

Was würdest du einer Person erwidern, die glaubt, dass ein Song wie "München" den Falschen in die Hände spielen könnte? Und zwar denjenigen Nicht-Weißen, die keineswegs links oder liberal denken und sich in den Kokon einer "Identitätspolitik" zurückziehen, indem sie etwa – ein Beispiel aus dem Songtext – den Nichterhalt einer Wohnung ausschließlich mit ihrem Aussehen, ihrer Ethnizität erklären? Dass Songzeilen wie die mit der Wohnung unfreiwillig dazu führen könnten, dass weiße Linke eine solche Identitätspolitik nicht mehr kritisch hinterfragen?

Das ist mir natürlich zu krass. Der Text soll nichts entschuldigen, der soll nichts rechtfertigen. Natürlich gibt es Situationen, in denen Menschen eine Wohnung suchen, keine finden, und in denen das nichts mit deren Herkunft oder deren Aussehen zu tun hat. In dem Text geht es um eine Person, um Yachi, um seine Geschichte.

Ich kann jetzt nicht eine Textzeile aus einem Song herausnehmen und sagen "Ich hab hier ein Gegenbeispiel!". So kann man mit dem Text, finde ich, nicht umgehen. So ein großes Bild zu zeichnen, kann ich natürlich auch nicht leisten. Der Song erzählt eine kleine Geschichte einer Person, zeigt, wie Yachi aufwächst, und zeigt auch, dass es noch schlimmer hätte sein können.

Diesen Rassismus gibt es in unserer Gesellschaft, es gibt rechte Gewalt, es gab den NSU. Dazu hätte es auch führen können. Mehr will der Text nicht sagen und mehr kann ich auch nicht leisten in einem 2-Minuten-50-Text.

"Manchmal sind es Nuancen, die in Hinblick auf mein Gewissen entscheiden."

Kommen wir zum nächsten Song, "Doug & Florence". Der beinhaltet die schönen Zeilen "Du wüsstest auch gern, wie das ist / Einmal frei zu sein / Dann könntest du dir durchaus vorstellen / Mal liberal zu sein". Es gibt ja unterschiedliche Freiheitsdefinitionen, etwa die klassisch liberale. Und auf der anderen Seite gibt es die Freiheitsdefinition eines Karl Marx, der Freiheit erst einmal ausschließlich ökonomisch betrachtet hat und der Meinung war, dass man "wirkliche" Freiheit nur verwirklichen könnte nach einer grundlegenden Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Ihr scheint ja als Band eher bei Marx zu sein, oder?

In dem Text schon, ja. In dem Text geht es ja um Verteilung, um soziale Gerechtigkeit. Es geht darum, wie wir diese Schere zwischen arm und reich kleiner kriegen können. Der Text versucht, das schwächste Glied in der Gesellschaft zu sehen und von diesem schwächsten Glied aus zu denken.

Also von den Paketboten und Krankenschwestern her.

Das sind Beispiele aus unserer Zeit und auch der Coronaphase, also einer Zeit, in der zum Beispiel die Pfleger überlastet waren und dann immer als "systemrelevant" bezeichnet wurden. Und jetzt stellt man sich die Frage "Was hat sich jetzt geändert?".

Wenig.

Ja. Und die Pfleger werden im Text stellvertretend genannt, dort könnten auch andere Berufsgruppen stehen.

Was müsste deiner Meinung nach passieren, damit das Du im Songtext liberal sein kann? Müssten dafür einfach nur die Löhne der Paketboten und Krankenschwestern erhöht werden? Oder müsste dafür mehr passieren?

Das ist jetzt natürlich eine krasse Frage. Was kann so ein System leisten? Was kann unsere soziale Marktwirtschaft leisten? Reicht das aus? Oder sind wir jetzt schon so nah am Kapitalismus, dass man sich einfach damit abfinden muss, dass die einen so reich sind und die anderen so arm? Ich könnte mir zum Beispiel ein [bedingungsloses] Grundeinkommen vorstellen oder eine Deckelung des Vermögens. Das sind natürlich ein bisschen utopische Gedanken, aber ich finde, die muss man zulassen und nicht immer gleich draufhauen.

"Kanye in Bayreuth" ist ein Song über die Schwierigkeit, zwischen Künstlern und deren Kunst zu trennen. Was ich klasse finde, ist, dass in dem Song Argumente für und gegen einen privaten Boykott – oder eine Ebene weiter oben für und gegen das Canceln in der Öffentlichkeit – genannt werden. Gestern habe ich mir euer Interview mit Lilly Blaudszun angeschaut und war überrascht, als Marcus gesagt hat, dass mit dem Song in erster Linie die Mob-Bildung im Rahmen von Shitstorms kritisiert werden sollte.

Auch, ja. Wir haben in dem Text diese Dialektik, es wird keine klare Stellung bezogen, weil ich finde, dass in dieser Thematik jeder für sich selbst entscheiden muss. Kann ich Michael Jackson noch hören? Kann ich [Richard] Wagner noch hören? Diese Mob-Bildung, dieses Sich-auf-etwas-Einschießen und dieses Canceln finde ich erstmal schwierig.

Das heißt, dass die Zeilen "Vom Twitter-Gymnasium mit der Twitter-Empörung ("Das heißt jetzt X!") / Damit die Machtlosen auch mal die Macht spüren / Und dann den digitalen Mob / Schön in die Schlacht führen" deiner Meinung entsprechen?

Das ist eben easy target. Viele fühlen sich da sofort auf den Plan gerufen und müssen gleich draufdreschen. Ich habe da keine klare Antwort drauf. Wenn ich beim Friseur bin und dort "Billie Jean" läuft, dann denke ich erst mal: "Puh!" Das ist für mich erst einmal schwierig.

Für mich auch.

Und einerseits will ich das nicht, andererseits finde ich es auch nicht richtig, es zu canceln oder zu verbieten. Jeder muss in der Sache mit seinem eigenen Gewissen entscheiden. Wir setzen uns mit solchen Sachen auseinander. Da draußen gibt es aber auch ganz viele Leute, die haben weder die Möglichkeit noch den Geist noch die Zeit, sich mit so was auseinanderzusetzen. Die konsumieren einfach. Es stellt sich natürlich auch die Frage, ob man das von jedem erwarten kann. Und die Frage, wie die Radiosender damit umgehen sollen. Und vielleicht sollte sich ein Redakteur dann auch mal rechtfertigen müssen dafür, dass ein Michael Jackson noch gespielt wird. Ist ein schwieriges Thema. Ich meine, wer soll in der Hinsicht entscheiden, wer soll das bestimmen?

Ich hab auf jeden Fall meine eigene Position dazu und finde auch, wir sollten unterscheiden zwischen Michael Jackson und Morrissey. Manchmal sind das Nuancen, die da in Hinblick auf mein Gewissen entscheiden. Ich bin großer Morrissey-Fan gewesen, aber ... Ich kann das nicht mehr. Ich tu mich da ganz schwer. Vielleicht kann man sich noch mit Johnny Marrs Gitarrenspiel rechtfertigen dafür, dass man die Musik hört. [lacht]

[Summe Gitarrenmelodie von "This Charming Man"] Und dann Morrissey rausschneiden?

Ja, so ungefähr.

[Lachen]

Ich war mir zunächst sicher, dass die letzte Strophe und das Outro, die ja den Rest des Textes konterkarieren, eure Meinung widerspiegeln. Dass ihr den Song klassisch dialektisch aufgebaut habt, Gegenargumente ins Spiel bringt, dann aber zu dem Schluss kommt, dass man die Künstler alle canceln sollte. Aber das habt ihr ja, wie ich jetzt gelernt hab, ausdrücklich nicht im Sinn gehabt. Ihr wolltet stattdessen das Für und Wider aufführen und kommt zu keinem eindeutigen Ergebnis.

Ganz genau!

Lass uns auf einen älteren Song zu sprechen kommen, auf "Sommer '89"! Hast du das Gefühl, dass der Song bei Konzerten im Osten Deutschlands anders wahrgenommen wird als im Westen? Wird er zum Beispiel mit mehr Applaus bedacht?

Was wir gespürt haben, als der Song rauskam, ist, dass wir viel Feedback bekommen haben und wir hier plötzlich mehr Zuschauer hatten. Mittlerweile hab ich aber das Gefühl, dass der Song sich ganz gut durchkommuniziert hat.

Dass sich das also ausgeglichen hat?

Ja. Aber wir merken natürlich, dass der Song vielen Leuten was bedeutet, weil sie sich in ihm wiedererkennen können. Wir haben auch Geschichten gehört, die genau das erzählen. Dass man so einen Nerv trifft, ist schon schön. Wenn man bemerkt, dass sich Leute in so einem Song wiederfinden können und dieser Song ihnen etwas bedeutet, ist das großartig.

In "Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)" macht der 20-jährige Marcus Wiebusch dem heutigen Marcus Wiebusch ziemlich viele Vorwürfe – immer mit einem Augenzwinkern, klar, aber dennoch.

Besteht die Hoffnung, dass ein späteres, sagen wir mal in 25 Jahren erscheinendes Kettcar-Album mit einem versöhnlicheren Song enden wird, in dem der zukünftige Marcus einen positiveren Blick sowohl auf den 55-jährigen Marcus als auch auf unsere Welt werfen wird?

Das 20-jährige Ich ist natürlich in seiner Sturm-und-Drang-Phase. Wenn ich daran denke, wie wir früher waren ... Ich kenne Marcus ja auch schon ewig. Damals hatten wir natürlich noch ganz andere Auffassungen durch den Punk, wir waren viel vehementer. Natürlich merken wir auch, dass man milder wird und der Blickwinkel sich erweitert. Insofern glaube ich schon, dass ein Rückblick eines 80-jährigen Marcus, der auf sich mit 55 Jahren zurückblicken würde, nicht mehr so hart ausfallen würde.

Mit 20 war Marcus noch ganz anders drauf, da haben wir in besetzten Häusern gespielt. Das war eine ganz andere Zeit. Klar ändern sich Dinge. Ich glaube, das passiert bei jedem.

Und im Titel des Albums in 25 Jahren wird dann wahrscheinlich wieder die Formulierung "ungerecht verteilt" enthalten sein.

Vielleicht.

Reimer, vielen Dank für das Gespräch!

Gerne!

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