Der erweiterte Kreis der testcard-Herausgeber um Martin Büsser widmet einer der meistdiskutierten und missverstandensten Jugendkulturen ein ausführliches Porträt.

Mainz (mma) - Was ist Emo? Musikrichtung, Fashionstil, Lebenseinstellung? Indem die Herausgeber im Editorial ihr Handbuch als "nicht frei von Kritik an Emo, aber doch frei von Spott und Häme" ankündigen, nehmen sie vorweg, dass hier ein Begriff verhandelt wird, der dem Gros der Außenstehenden bis heute nicht selten haltlos bis lächerlich vorkommt. Die Ablehnung, die dieser jüngsten Jugendkultur sowohl in ästhetischen wie weltanschaulichen Fragen entgegenschwappt, ist in der Tat erstaunlich.

Produzenten zigtausender YouTube-Clips glauben, das Wesen des Emoseins parodieren zu müssen. In Mexiko-Stadt laden 800 Punks, Grufties und Metaller im Hass vereint zur Hetzjagd auf Emo-Cliquen. Und in Russland schickt ein aufgeschrecktes Bildungsministerium Mitteilungen an alle Schulen, der Traum jedes Emos sei es, "sich in einer Badewanne die Pulsadern aufzuschneiden und an Blutverlust zu sterben".

Bricolage als Ausdrucksmöglichkeit

Allerhöchste Zeit also für das erste deutsche Nachschlagewerk. Das "Porträt einer Szene" zeugt vom Bemühen, dem diffusen Begriff von verschiedenen Seiten ästhetisch wie konzeptionell auf die Schliche zu kommen. Dabei arbeiten sie zwei Faktoren heraus, die die Jugendkultur sowohl bei Älteren als auch bei Altersgenossen so unbeliebt machen.

Zum einen steht die Szene unter einem ständigen Authentizitätsdruck, weil sie in Kleidungsstil und Musik ganz auf Eklektizismus setzt, aus Punk, Goth, Hip Hop, Indie, Visual Kei und Rockabilly zitiert. Dabei übersehen die Kritiker, wie Ethnologiestudentin Annika Mecklenbrauck im Buch sehr schön herausstellt, dass Emos "durch die breit gefächerte Palette von Ausdrucksmöglichkeiten", durch Nietengürtel und rosa Haarschleife, dunkles Makeup und grellbunte HipHop-Caps "beides [verkörpern], Härte und Schwäche, Traurigkeit und Glück, Positivität und Negativität."

Nicht nur dem unterstellten Authentizitätsdefizit, auch dem Vorurteil der Depression begegnen Emos laut Lili Rebstock, Diplomandin zum Thema "Emo und Männlichkeit", zumeist mit Abgrenzungs- und Negierungsbemühungen nach außen - ohne jedoch nach innen positive Konstruktionsmerkmale benennen zu können, die über ein Zusammengehörigkeitsgefühl aufgrund von Mode und Musikgeschmack und einer gesteigerten "Emotionalität" hinausreichen.

Homophobe Anfeindungen

In jener "Emotionalität" allerdings finden sich die authentischen Hardcore-Wurzeln der Bewegung wieder, denn der Gefühlsausdruck in selbstverfassten Gedichten, Songtexten und Musikstücken unterscheidet den "echten Emo" von "Wannabe." Hier schimmert der Emocore-Gründungsmythos durch, der in Interviews mit u.a. Rites Of Spring/Fugazi-Sänger Guy Picciotto genauer beleuchtet wird.

Als zweite große Angriffsfläche attestieren mehrere Autoren den Angreifern eine unterschwellige bis offensiv ausgelebte Homophobie. Während man Emos einerseits dafür anprangert, im Widerstand gegen die Regeln der Gesellschaft nicht authentisch zu sein, wird andererseits der offensichtlichste "Bruch" mit den (heteronormativen) Normen als willkommener Anlass für Spott und Hasstiraden genommen. Bezeichnenderweise heißt der mexikanische Blog, der in engem Zusammenhang mit den handgreiflichen Attacken auf Emos in Querétaro steht, "Movimento Anti Emosexual". Ganz reaktionär-nationalistisch lautet dort eine Parole: "Unterstütze dein Vaterland, töte einen Emo!"

Musikjournalistin Jessica Hopper geht die wissenschaftliche Fixierung auf den emanzipatorischen Beitrag männlicher Emos unterdessen nicht weit genug. Deren feminines Äußeres, ihr Schwächebekenntnis sowie ihr Kokettieren mit Homo- bzw. Bisexualität breche zwar mit Geschlechterrollen. Weibliche Akteure - Emobands - existierten aber praktisch nicht. Derweil reproduzierten die männlichen Substitute in ihren Songs lediglich das Rock-Momentum von der Frau als bloßes Objekt romantischer Begierden.

Queer-subversive Lolitas

Frauen blieben darin immer substanzlose Zielobjekte ohne eigene Handlungsmöglichkeiten. Steffen Greiner, ebenfalls Popschreiber, rückt hingegen als einziger den Beitrag der "Emo-Lolitas" ins Licht, deren "Über-Affirmation des weiblichen Stereotyps der schönen, stets verfügbaren Frau queer-subversiv zu lesen" sei. "Ihr offener Blick in den Schminkspiegel verweist deutlicher als jede Theorie auf die Konstruiertheit von Geschlechterrollen."

Die selbst in der Hardcore-Szene aktive Andrea Kügler wiederum sieht Geschlechtergrenzen im sozialen Raum Emo längst komplett aufgelöst: "Somit ist es fragwürdig, inwiefern eine weibliche Rollenzuteilung überhaupt durchführbar ist, oder ob es sich nicht grundsätzlich um einen (…) existierenden Zustand von Ungeschlechtlichkeit innerhalb der Szene handelt."

Es bleibt festzuhalten, dass Büsser/Engelmann/Rüdiger das negative Bild der Emo-Kultur vor allem aufgrund der Androgynität seiner männlichen Protagonisten aufzupolieren vermögen. Fallen "schwuler" Look und Bejahung der Weichheit weg, zeigt sich der vermutliche Kern: Emo entpuppt sich letztlich als eine Jugendkultur ohne weltanschauliches Sendungsbewusstsein, die während der Pubertät emotionale Sicherheit und Gedankenaustausch bietet sowie eine breite Projektionsfläche für die Identitätsfindung. Darin unterscheidet sie sich von vielen Konkurrenzangeboten in nichts.

"Emo - Porträt einer Szene" ist im Mainzer Ventil Verlag erschienen und derzeit für ca. 17 Euro erhältlich.

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