19. Januar 2023

"Ich fühle mich wie ein Hund ohne Leine"

Interview geführt von

Interviews sind immer einfacher, wenn man kein Superfan ist. Zumindest kommt mir das so vor, als ich im Berliner Hotel auf der Wartebank für meinen Gesprächs-Slot sitze und diese ganzen zuckersüßen Goth-Redakteure an mir vorbeiwandern, für die Ville Valo und HIM quasi ein Säulenheiliger ist. Ihnen steht die Ehrfurcht und die helle Freude ins Gesicht geschrieben und ich habe selten so viel kindliche Euphorie in den Gesichtern der dunklen Szene gesehen.

Wenn sie rauskommen, dann teilen sie alle einen Eindruck, den ich sehr bald selbst machen soll: Dieser Ville Valo ist ein schweinenetter Kerl. Wirklich überaus liebenswürdig. Ganz der Profi darin, eine entspannte Atmosphäre aufzubauen, aber dann doch zugänglicher Nerd darin, sich über alles mögliche zu beweisen. Nachdem man einmal akklimatisiert damit ist, dass dieses komische Augen-Tattoo aus seinem Ausschnitt zu einem hochschaut, ist das Gespräch eine reine Freude. Denn der Mann kann reden und hat viel zu erzählen, von seinen Philosophen-Freunden, von Worldbuilding, Sigillen und den Vorzügen davon, nach vielen Jahren HIM nun endlich mal ein Solo-Album ganz nach eigener Regie an den Start zu bringen.

Na, wie fühlt es sich an, nach der HIM-Auflösung das erste Mal wieder auf Pressetag zu sein?

Es fühlt sich vertraut an, aber auch echt seltsam. Ich bin froh, wieder hier zu sein und die Leute um mich machen alle gute Arbeit, da fühlt man sich willkommen, wieder. Das darf man ja echt nicht für selbstverständlich nehmen, dass so ein Altrocker wie ich nach all der Zeit noch groß jemanden interessiert.

Denkst du zur Zeit viel darüber nach, wie die Rockmusik altert und ob du noch in die Szene passt?

Ach, naja. Meine Eltern haben mir beigebracht, mich nicht immer für den Größten zu halten, und man kann die Dinge und sich selbst ja auch mit einem gewissen Humor sehen. Man muss sich nicht so ernst nehmen und kann die Musik dabei trotzdem sehr ernst nehmen. Aber sonst? Weiß nicht, wie ich mich sortieren sollte. Ich denke, ich bin ein Musikfan. Professioneller Musikfan. Manchmal fühle ich mich wie ein Eindringling in dieser Rockwelt.

Wie kommst du darauf?

Na ja, vielleicht einfach deswegen, weil ich so viele meiner Idole in meinem Leben treffen durfte. Aus so einer reinen Fan-Perspektive, ist das nicht ... (denkt nach) cool?

Schüchtern dich Musiklegenden immer noch ein, manchmal?

Ach, sowas ändert sich nie! Es geht immer weiter. Ich glaube auch, dass die besten Musiker auch immer gleichzeitig Fans sind. Also, ich will jetzt nicht sagen, dass ich zu den Allerbesten gehöre. Aber es ist ja auch gesund, zumindest über sich sagen zu können, dass man etwas gerissen hat. Ich mag diesen Satz, dass wir auf den Schultern von Riesen stehen, nicht, weil er so ein Klischee ist...

...aber manche Klischees existieren halt nicht grundlos.

Ja, definitiv. Es ist auf jeden Fall etwas dran und spontan fällt mir nichts wortgewandteres ein. Ich will nur sagen, dass es wahrscheinlich nie Musiker gab, die so richtig das Rad neu erfunden haben, selbst die verdammten Beatles, denen das so gerne nachgesagt wird, waren Fans von vielen amerikanischen Bands. Sie haben es nur auf eine Weise interpretiert, die neu war, und die Leute haben es geliebt. Genau so war's mit Led Zeppelin und Black Sabbath und all den anderen Bands, die mir die Welt bedeutet haben, als ich jünger war.

Apropos Bands: Fühlst du dich in der Interview-Situation heute eigentlich anders, jetzt, wo du nicht mehr für eine ganze Band sprichst?

Na ja, ich habe nie das Gefühl gehabt, dass ich für eine Gruppe spreche, ich habe immer nur gedacht, dass ich für meine Person sprechen und durch meine Linse reflektieren kann, was mit unserer Band so passiert ist. Dieses Mal waren das nur ich und meine anderen Persönlichkeiten. Das war die Band. Aber es war anders, klar. Ich stand alleine da, es gab niemanden, mit dem man brainstormen konnte - und das ist eigentlich wichtig für den kreativen Prozess. Man will ja über Dinge reden, nicht mal unbedingt nur Musik, um die kreativen Areale im Gehirn zu wecken. Ich habe das immer die Jackson Pollock-Technik genannt. Einfach mal an die Wand werfen, was so gehen könnte.

Verstehe ich, für mich funktioniert Denken auch immer so, dass ich Gedanken in diesem halb-abstrakten Urschlamm im Kopf habe, sie sich aber oft erst im Gespräch materialisieren.

Das ist unglaublich interessant: Mit Musik - weiß nicht, ob das schon erforscht wurde - aber es gibt diesen Moment, an dem du glaubst, dass der Song jetzt super klingt. Dann fragst du jemanden, ob die den Song jetzt gut oder schlecht finden, du musst es einfach nur vor jemandem anmachen, und plötzlich hörst du jeden einzelnen Fehler. Das ist so komisch. Weiß nicht, woran das liegt. Es muss nur jemand da sein, er muss das nicht mal artikulieren, es verändert nur die Perspektive.

Es wird dadurch von einem Monolog zu einem Dialog, gewissermaßen.

Ja, aber es braucht ja nicht mal dieses Dialogische! Es ist ziemlich komisch.

Wenn du mit deinen Gedanken allein bist, dann finden sie unter Ausschluss von potentiellen Hörern statt. Aber sobald jemand den Raum betritt, dann wird es dialogisch, weil ein Gegenüber deine Perspektive verschiebt. Aber es hat ja kreativ bestimmt etwas für sich, diese Sachen lange in sich aufzubewahren, genauso wie es die ganze Zeit im Dialog zu haben interessant sein kann, oder?

Hm, es ist eben einfach anders, weißt du? Ich würde sagen, diese beiden Vorgehen haben verschiedene Nutzen, aber auch das wäre nicht ganz richtig. Musikmachen ist wie eine Petrischale. Ein Experiment. Es gehen so viele Elemente, Umstände, Sachen da rein und man lässt sie marinieren, bis etwas Neues herauskommt - und das passiert ja schon ohne die Kommunikation darüber! Vielleicht ist es das, im eigenen Kopf konstruiert man eine eigene Welt, die ein bisschen aus einem Vakuum entsteht. Und dieses Prozesshafte kann von zu viel Dialog sogar ein bisschen bedroht werden.

Im eigenen Kopf kommst du auf jeden Fall auf Ideen, die du durch reguläre Kommunikation nicht erreichen würdest. Nehmen wir mal an, man hätte so einen kleinen Stoner-Moment und vergräbt sich ganz in sich selbst - also, ich nehme keine Drogen, aber mal angenommen - man will ja wissen, wie weit dieser Gedankengang einen führen kann, oder? Es ist ein reaktiver Prozess. Man hat eine Idee, die deine Ohren kitzelt und man will sie so raffinieren, dass sie es noch mehr tut. Es ist ein Push-and-Pull.

Es hat mich total interessiert, es dieses Mal so zu machen. Auch, wenn es mein Leben lang nie meditiert habe, kam es mir ein bisschen so vor, wie ich mir das vorstellen würde. Es hat mir zwar auch viel Zeit gekostet und ich habe mich in vielen, seltsamen Momenten verrannt, weil ich so konzentriert auf sie war. Aber dafür war auch nichts da, was diesen Fokus unterbrochen hätte. Es war seltsam, aber ich glaube, es hat sich gelohnt. Man weiß ja nie, wann es genug ist, bis man es übertrieben hat, oder?

Stimmt schon, dass man sich so überhaupt keinem Kompromiss stellen müsste, theoretisch, wie man es in einer Band tut.

Aber das ist ja auch ein wunderbarer Kompromiss, den man da schließt! Es ist wichtig, es ist Zusammenarbeit, das ist immer etwas Schönes, weil es die Sache, an der man arbeitet in eine andere Richtung schiebt, als man es sich am Anfang ausgemalt hätte.

"Ich mag Künstler, die ihre Vision zu einer Welt ausbauen."

Was ist der haptische Unterschied zwischen deinem neuen Album und einer klassischen HIM-Platte?

So Prozess-mäßig?

Nein, im Gegenteil. Für mich als Hörer, was ist auf diesem VV-Album da oder nicht da, was es davor so nicht gegeben hat?

Gute Frage. Die einfache Antwort wäre natürlich: Es ist jetzt alles viel besser. Das ist aber auf jeden Fall eine große Stärke. Es ist die pure, uneingeschränkte, kompromisslose Vision einer Person. Aber ich finde nicht, dass es das besser oder schlechter macht, es ist eben anders, jetzt. Der Hörer kommt näher daran, was mich gerade beschäftigt, was in meinem Kopf so passiert.

In Sachen Stimmung und Gefühl ist anders, dass es das alles nicht so eilig hat. Es gibt schnelle Songs, aber das Grundgefühl ist ruhig. Ich versuche nicht, mich den Ohren der Hörer aufzudrängen. Ich erkläre eine Situation, eine Welt und lade jeden darin ein, der sich darauf einlassen möchte. Ich weiß nicht, ob man das so klar darin hören kann, wie ich es darin höre. Aber ich finde, es lässt mehr Platz. Es ist nicht aggressiv, es drängt sich nicht auf.

Es springt dem Hörer nicht ins Gesicht.

Ja, das könnte man so sagen. Es hat aber auch eine innere Spannung, die sich fokussierter ausdrückt. Ich habe keine Eile, loszuwerden, was ich sagen will, weil ich weiß, dass ich Zeit habe, mich auszudrücken. Mir war es dieses Mal wirklich wissen, die Songs für sich sprechen zu lassen und auf sie zu hören, wie lange sie tragen und wie viel sie sprechen wollen. Manchmal ging das zu weit, dann habe ich es wieder eingegrenzt, vorwärts, rückwärts, und ich hatte die Zeit, diesen Prozess auszukosten. Und deswegen trägt das Album zumindest in meinen Ohren eine gewisse Ruhe in sich.

Ich würde dir zustimmen, das Album hat etwas Behagliches. Man hat das Gefühl, du hattest weniger Druck. Als wäre der einzige Druck, dein eigener Anspruch, eine gewisse Notwendigkeit, diese Musik zu machen.

Ja, das ist ein bisschen die selbe Sache! Wenn diese Gefühle sich im Album transportieren, dann ist das super. Ich kann nicht ganz einschätzen, ob das so rauskommt, dafür bin ich zu tief drin. Aber gerade das Behagliche ist mir wichtig; ich will Musik wie eine tiefe Umarmung. Ich mag Künstler, die ihre Vision zu einer Welt ausbauen.

Worldbuilding wäre da das Stichwort, oder?

Ja, genau! Ich bin mit einem Philosophen befreundet, der in mehreren Situationen bereits über ähnliche Dinge geschrieben hat und mit dem ich wirklich sehr, sehr gut reden kann.

Wie heißt er denn?

Pekka Himanen.

(In einem Ton, als hätte ich irgendeine Ahnung, wer das ist:) Ahja.

Das ist ein finnischer Kerl, der gerade an einer Universität in San Franzisco lehrt. Er arbeitet im Jussiparikka- und im Dignity-Projekt. Er macht auf jeden Fall wichtige Arbeit und kennt sich mit vielen Sachen aus, wir haben uns vor vielen Jahren schon kennengelernt, weil er sich eben auch für Musik interessiert.

Und dann habt ihr auch über Worldbuilding aus einer Musik-Perspektive geredet?

Hm, jein. Wir haben über Wort- und Worldbuilding gesprochen. Über die Frage, wie weit man damit gehen kann und wie weit man damit gehen sollte, aber auch, was es mit der Person macht, die es betreibt. Er geht da natürlich viel tiefer rein, weil das seine Welt ist. Er geht so mit der Welt um, ich gehe auf meine Art durch Musik mit der Welt um, er macht es mit Worten, ich mache es nonverbal. Es gibt einen Song namens "Threnodia", der ist nach einem alt-musikalischen Begriff für "Lamento" benannt.

Ich habe den Begriff genommen und ein neues Wort daraus abgeleitet. Die Utopie der traurigen Lieder; wenn ein Song eine Welt sein kann, dann kann er überwältigend und behaglich gleichzeitig sein, bittersüß und melancholisch, das ist das Threnodia, in das man sich bewegt. In den Lyrics sage ich dazu "getting high on the dying sun", wenn das Sinn ergibt.

Hast du den Vorsatz gehabt, einen utopischen traurigen Song zu schreiben oder bist du einfach an Musik gesessen, die sich plötzlich als dieser zu identifizieren gegeben hat?

Ich glaube, man folgt den Dingen einfach. Ich liebe Wörter, ich liebe Wortspiele, ich lese gerne, schaue viele Filme. Ich glaube nicht, dass ich einer kohärenten Logik folge, ich habe mehrere Songs, in denen ich mir eigene Worte, eine eigene Sprache ausdenke, ich fühle mich selbstbewusst darin, das zu tun.

Ja, ich habe ein paar Wörter auf dem Album gegoogelt und war mir hier und da nicht ganz sicher, wo es herkommt oder was es heißt.

Ja, aber gerade das finde ich interessant! Manchmal muss es eben ganz neue Wörter und Gedanken geben!

Genau damit macht man neue Räume auf.

Ja! Ich bin zum Beispiel richtig beigeistert von Sigillen. Also im Sinne vom Okkulten, Fantasy-mäßigen. Ich glaube, oft kommt der Impuls hinter solchen Themenkomplexen daher, dass Leute Realität verändern oder entkommen wollen. Das finde ich überhaupt nicht interessant daran. Warum will man die Dinge verändern? Ich will Dinge verstehen! Ich will sie wertschätzen. Ich will nicht nehmen, ich will geben.

Weißt du, woran mich das auf eine ganz komische Art erinnert? An Rapper, die sich Slangwörter ausdenken; das ist ja auch auf seine Art und Weise ein Aufnehmen von Realität, die man der eigenen Community beschreibbar macht.

Ja, stimmt, das ist wirklich so. Das ist alles Worldbuilding.

"Du findest mehr Wörter für Traurigkeit."

Fühlst du dich inzwischen freier als Worldbuilder?

Ich fühle mich wie ein Hund ohne Leine. Alle Methoden habe ihre Grenzen und Schwächen, aber natürlich bin ich jetzt derjenige, der sich selbst die Regeln setzt. Der Begriff von Freiheit ist da tricky. Ich weiß eben einfach nicht, warum ich Dinge tue oder welches Ziel ich damit verfolge. Es gibt kein Szenario oder kein Endgame damit. Ich folge einfach dem Prozess, wohin er auch leiten mag.

Es ist interessant, deine Fans können ja über die Jahre diese Veränderung in den Welten total mitverfolgen. Das ist witzig, weil ich bis letzten Freitag noch nie ein ganzes HIM-Album gehört habe. Ich wusste von euch, habe ab und zu einen Song gehört, aber war sonst eher im Bilde, dass ihr einflussreich für die Rockszene wart ...

...es ist ja auch witzig, weil wir diese Crossover-Geschichte haben, dann kurzzeitig mal ein Pop-Act gewesen zu sein! Und egal ob Rock oder Pop, ich hab mich nie ganz richtig einsortiert gefühlt.

Ich habe mich dann auf jeden Fall mal durch die Diskographie durchgehört und war super unterhalten davon, an einem Wochenende eure Karriere im Zeitraffer erleben zu können. Was denkst du, wenn wir über Worldbuilding reden, stellen wir uns den HIM-Ville Valo-Kosmos doch mal als diese kleine Planetenkugel vor, die sich vor meinen Augen im Zeitraffer gedreht hat. Was hat sich da visuell verändert?

Ach, das ist cool, dass du das so erlebt hast. Okay. Am Anfang war ich glaube ich einfach zu jung, ich hatte nicht so richtig die Kapazität im Kopf, etwas Größeres als das Fragment einer Stimmung zu konstruieren. Das war das dann auch oft: Eine einzelne Stimmung, ein Gefühl. Aber über die Jahre hat sich das Vokabular verändert. Das ist, was mit dem Altern passiert: Du findest mehr Wörter für Schnee. Du findest mehr Wörter für Traurigkeit.

Könntest du den Finger auf Momente deiner Karriere legen, in denen dein Vokabular sich verändert hat?

Ich weiß gar nicht, ob sich das für einen Hörer so direkt fassen lässt, ob diese kleinen und großen Veränderung sich in Musik ablesen lassen. Zumindest so konkret. Musik kommt eben nicht aus einer super-rationalen Ecke, manchmal kann ich mich rückblickend nicht einmal mehr ganz erinnern, was oder warum ich etwas geschrieben habe.

Ich war eben oft nicht ganz klaren Verstandes und oft habe ich den kreativen Prozess auch in den Sand gesetzt. Das verwischt die Spuren. Aber wenn ich einen Finger drauflegen müsste, würde ich sagen, dass wir 2003 unsere Stimme gefunden haben. Da dachte ich das erste Mal wirklich, dass wir wie wir klingen. Es hat sich real und organisch angefühlt. Richtig. Das war das Album, bei dem wir das erste Mal das Herz-Logo der Band aufs Cover genommen haben, quasi als Zeichen unserer Absicht, das erste Mal unsere Identität abgegrenzt zu haben. Und die hat sich seitdem natürlich verändert. Halb wie ein Chamäleon, wir wollten Dinge ausprobieren.

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