Porträt

laut.de-Biographie

Tomasz Stanko

Mit seinem rauen, aber lyrischen Trompetenspiel legt der Pole Tomasz Stanko Mitte der 60er-Jahre das Fundament für den Jazz europäischer Prägung. Mehr als sechs Jahrzehnte lang bleibt der Weltbürger, der abwechselnd in Krakau, Warschau und New York lebt, offen für neue Entwicklungen. Mit "Balladyna", seiner ersten Platte für ECM, avanciert er 1976 "auf beiden Seiten des Atlantiks zur Ikone".

Tomasz Stanko - Matka Joanna Aktuelles Album
Tomasz Stanko Matka Joanna
Mysteriöser Avantgarde-Jazz für verlorene Seelen.

Tomasz Stanko erblickt am 11. Juli 1942 in Rzeszów das Licht der Welt und verbringt seine Kindheit und Jugend in einem künstlerisch geprägten Elternhaus. Als Kind eines Geigers bekommt er schon früh Klavier- und Violinen-Unterricht.

Die Radiosendungen des Senders Voice Of America lassen ihn nach und nach in die Welt des Jazz' eintauchen. 1958 besucht er ein Konzert von Dave Brubeck. Nach der Schule studiert er zusätzlich Musik an der Akademie in Krakau.

Mit seiner Band Jazz Darings, die sich stark am Free Jazz von Ornette Coleman orientiert, wagt er 1962 seine ersten Gehversuche als Trompeter. Die Formation geht 1963 aus einem Amateurwettbewerb als Sieger hervor, der Pole aus der gleichen Veranstaltung als bester Musiker. Schnell spricht sich in seinem Land herum, er spiele "feurig und zugleich lässig".

Deswegen erhält er im selben Jahr eine Einladung zum Jazz Jamboree in Warschau, dem dienstältesten Musikfestival Polens, das alljährlich im Oktober stattfindet. Dort stellt er sich dem Pianisten Krzysztof Komeda vor, der sich zuvor auf die Suche nach dem Trompeter begeben hatte. Am nächsten Tag treten die beiden gemeinsam auf.

Danach schließt sich Stanko dem Komeda Quintet um Musiker wie Altsaxofonist Zbigniew Namyslowski an. In einer dreitägigen Session vom 5. bis 7. Dezember 1965 nimmt es das Avantgarde-Jazz-Meisterwerk "Astigmatic" auf, auf dem sein von Miles Davis inspiriertes, klares, dunkles Trompetenspiel erstmalig in voller Blüte erstrahlt.

1967 verschlägt es Komeda nach Hollywood. Dort komponiert er wegweisende Soundtracks für die Roman Polanski-Filme "Tanz Der Vampire" und "Rosemaries Baby". Über seinen Förderer sagt Stanko: "Ich spiele im Grunde genommen nur meine eigene Musik, die einzige Ausnahme ist die von Komeda. Er war mein erster Held, und wir haben beide das gleiche Verhältnis von Lyrik, Melodik und Simplizität."

Trotzdem verfolgt der Pole mit seinem Tomasz Stanko Quartet um Zbigniew Seifert und Bronislaw Suchanek, das er noch im gleichen Jahr aus der Taufe hebt und das zu den besten Modern-Jazz-Bands in Europa zählt, unbeirrt eigene Wege. Sein Studium beendet er 1969 erfolgreich.

Nachdem Komeda an den Folgen eines falsch diagnostizierten Hämatoms im selben Jahr auf tragische Weise ums Leben kommt, erweitert Stanko sein Quartett kurzerhand zum Quintett und bringt mit "Music For K" 1970 sein erstes Album als Band-Leader heraus. Darüber hinaus steigt er bei dem Globe Unity Orchestra um Pianist Alexander von Schlippenbach als Mitglied ein und arbeitet 1971 mit bekannten Musikern wie Krzysztof Penderecki und Don Cherry zusammen. Sein Quintett löst er nach der Veröffentlichung von "Purple Sun" 1973 auf.

Seitdem reift er mit jeder weiteren Platte als Komponist und Trompeter. Als einer der ersten europäischen Jazz-Musiker experimentiert er auf "Fish Face" (1973) mit elektronischen Elementen. Außerdem legt das Werk den Grundstein für seine jahrelange Zusammenarbeit mit dem britischen Free Jazz-Drummer Tony Oxley.

Als besonders herausragend erweist sich sein impressionistischer Geniestreich "Twet" von 1974, der oftmals an die Feinfühligkeit polnischer Romantiker wie Frédéric Chopin erinnert. Zugleich wirken auf der Scheibe erstmalig Saxofonist Tomasz Szukalski und Drummer Edward Vesala mit.

Dies ruft das Münchener Qualitätslabel ECM auf den Plan. Gemeinsam spielen die drei Musiker mit Bassist Dave Holland in Ludwigsburg unter der Obhut des Produzenten Manfred Eicher im Dezember 1975 "Balladyna" ein. Mit diesem von Wildheit, Leidenschaft, aber auch Fragilität geprägten Album erlangt der Trompeter weltweit Bekanntheit.

Ein melancholischer Nachfolger erscheint 1979 mit "Almost Green", zugleich das letzte gemeinsame musikalische Zeugnis des Dreamteams Stanko-Szukalski-Vesala. Weiterhin stellt Palle Danielsson seine feinfühligen Fähigkeiten am Bass auf dem in Helsinki entstandenen Werk eindrucksvoll unter Beweis.

Folglich gehört Stanko eine Zeit lang keiner festen Formation an. Er begibt sich 1980 nach Indien und kommt mit der Soloplatte "Music From Taj Mahal And Karla Caves" zurück. In dieser Dekade versucht er sich als Sideman von Slawomir Kulpowicz und lebt mit seinen Ensembles C.O.C.X. und Freelectronic seine Vorliebe für Fusion-Klänge aus. Mit der letztgenannten Band bestreitet er einen Auftritt beim Jazz Festival in Montreaux.

1991 veröffentlicht Stanko die Suite "Tales For A Girl, 12, And A Shaky Chica". Wenig später agiert er für das kammermusikalisch geprägte "Bluish" aus dem selben Jahr mit den Norwegern Arild Andersen und Jon Christensen in einer Trio-Konstellation. Seine Arbeit verlagert er die nächsten Jahre nach Oslo.

Im Anschluss formiert er mit den zwei Norwegern Bobo Stenson (Piano) und Anders Jormin (Bass) sowie Tony Oxley ein internationales Quartett, das mit "Bosonossa And Other Ballads" 1993 zunächst ein balladeskes Album auf den Markt bringt. Mit "Matka Joanna" erreicht es zwei Jahre später seinen künstlerischen Zenit. Mit der von Manfred Eicher produzierten Scheibe kehrt der Trompeter nicht nur zu seinen avantgardistischen Wurzeln zurück, sondern zugleich zu ECM. Zusätzlich folgt 1997 mit "Leosia" ein letztes, ungleich ruhigeres Werk des Vierers.

"Litania - Music of Krzysztof Komeda" aus dem selben Jahr widmet Stanko seinem Förderer. Auf dem Album schwört er immer noch auf die virtuosen Fähigkeiten Stensons. Überdies gewinnt er neben Palle Danielssen und Jon Christensen Saxofonist Bernt Rosengren und Gitarrist Terje Rypdal für die Platte. Auf "From The Green Hill" (1999) kooperiert er unter anderem mit Saxofonist und Klarinettist John Surman und dem Bandeoneon-Spieler Dino Saluzzi.

Zu Beginn der Nullerjahre stampft er mit den Musikern des Simple Acoustic Trios, Marcin Wasilewski (Piano), Slawomir Kurkiewicz (Bass) und Michael Miskiewicz (Drums) ein rein polnisches Quartett aus dem Boden, das zwischen 2002 und 2006 im Zwei-Jahres-Takt die drei Geniestreiche "Soul Of Things", "Suspended Night" und "Lontano" herausbringt. Mit diesen Scheiben beschreitet der Trompeter vermehrt zugänglicheres Post-Bop-Terrain, während er sein markantes, jedoch ungemein poetisches Spiel immer weiter perfektioniert.

Obendrein baut er sich als Filmkomponist ein zweites Standbein auf. 2005 schreibt er die Musik für die Eröffnung des Museums zum Warschauer Aufstand 1944. Sie erscheint im gleichen Jahr unter dem Namen "Freedom In August" auf dem kleinen Label FiRe. Mittlerweile findet Stanko in den Studios La Buissonne an der Cóte d'Azur optimale Aufnahmebedingungen.

Dort entsteht mit unter anderem Gitarrist Jakob Bro und Pianist Alexi Toumarila sein nächstes ECM-Album "Dark Eyes" (2009), das etwas dunkler ausfällt als die Platten mit Wasilewski, Kurkiewicz und Miskiewicz. "Terminal 7" aus dieser Scheibe kommt sogar als Hintergrundmusik der amerikanischen Erfolgsserie "Homeland" zum Einsatz.

Seine letzten Werke, "Wislawa" (2013) und "December Avenue" (2017), nimmt der Pole in New York mit dem Tomasz Stanko New York Quartet um die Virtuosen David Virelles (Piano), Gerald Cleaver (Drums) und Thomas Morgan (Bass) auf. "December Avenue" bezeichnet das britische Magazin The Guardian als "eine Tondichtung, die Gänsehaut erzeugt".

Tomasz Stanko schließt 2018 in Warschau für immer die Augen. Er erliegt am 29. Juli einem Krebsleiden. Bis zuletzt ging er zuvor noch mit einem neuen Quintett um Trompeter Enrico Rava auf Tournee. Mit seiner Musik hinterlässt er im Jazz eine große Lücke, die nun spätere Generationen mit Neugier, Lebendigkeit und einer Prise romantischer Schwermut füllen müssen.

Alben

Surftipps

  • Offizielle Website

    Ästhetisch ansprechende, übersichtliche Homepage.

    http://www.tomaszstanko.com/
  • Labelseite

    Künstlerprofil auf ECM.

    https://www.ecmrecords.com/artists/1435045841/tomasz-stanko

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