4. März 2005

"Green Day und Good Charlotte sind genau das Gegenteil von Punk"

Interview geführt von

Zur Veröffentlichung ihres neuen Albums treffen wir die beiden Protagonisten in Köln, die so gar nicht blutig und böse erscheinen. Fast schon ein wenig schüchtern wirken Jamie (Hotel) und Alison (VV) in ihrem Hotelzimmer. Zunächst. Doch kaum im Gespräch, sprudeln sie vor rebellischer Energie. Zumindest Jamie kann gar nicht mehr aufhören, über Kunst, das böse Musikbusiness und die surrealen Supermarkt-Single-Treffs in Amerika zu sprechen. Alison hat anfangs etwas Schwierigkeiten, sich gegen den philosophierenden Mann durchzusetzen, aber schon bald fühlt auch sie sich in dem kleinen gemütlichen Hotelzimmer wohl und lästert u.a. über ihr Heimatland Amerika.

Was ist für euch das Wichtigste auf der Welt?

Jamie: Kunst und Tod (lacht). Kunst über alles.

Und was ist deine größte Leidenschaft?

Jamie: Hm, meine größte Leidenschaft ist nicht so interessant für andere Leute ... Ich denke, The Kills ist meine größte Leidenschaft. In meinem ganzen Leben hatte ich immer eine Band, doch man hat sich oft gegenseitig behindert. Diesmal bringen wir unser ganzes Leben in eine Band. Als ich VV traf, hatte ich das erste Mal das Gefühl, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben. Wir sind auf dem absolut selben Niveau, was Kunst und Musik angeht. Wir bringen die gleiche Energie in unsere künstlerische Tätigkeit. Ich kenne keinen anderen Weg, als jeden Tag 24 Stunden lang mit Kunst und Musik Geld zu verdienen. Wir haben entschieden, dass die Band unser Leben ist. The Kills sind eine Art Roadmovie. Sehr romantisch und sehr idealistisch, wie Bonnie und Clyde in einer Band. Wir wandern von einem Platz zum nächsten, sind immer unterwegs, halten nie an. Wir möchten in jeder Stadt einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Bonnie und Clyde sind am Ende in einer Schießerei ums Leben gekommen ...

VV: Das werden wir wahrscheinlich auch (lacht).

Habt ihr eine Definition von Rock'n'Roll?

VV: Oh ... ich weiß nicht. Ich denke nicht, dass ich eine wirklich passende Definition habe ...

Jamie: Rock'n'Roll ist ziemlich tot, oder? Wie kann etwas aus den 50er Jahren heute noch relevant sein? Es gibt diese Energie, die durch die Generationen weiter getragen wird. Ich denke, wir haben Angst davor, eine Definition für etwas anderes zu finden. Heutzutage haben die Leute Angst davor, was Neues zu machen. In den 50er Jahren hatte Rock'n'Roll eine wichtigere Bedeutung. Heutzutage sind die Leute es gewohnt, dass sich ständig etwas ändert in der Musik. Irgendjemand möchte jeden Tag wieder etwas einzigartig Neues machen. Allerdings ist der Rock'n'Roll von damals noch heute populär. Die heutige Musik ist vergänglicher ...

VV: Terroristenmusik!

Terroristenmusik?

VV: Irgendjemand hat das kürzlich zu uns gesagt. Unsere Musik höre sich an wie Terroristenmusik. Wir sind also eine Terroristenband. (lacht)

Gibt es denn noch eine rebellische Einstellung in der heutigen Musik, im Rock'n'Roll?

Jamie: Je rebellischer man heutzutage ist, desto unbekannter ist man in diesem Business. Das ist genau der Punkt, wenn du als Band einen Plattenvertrag bekommst. Die Rebellion wird vermarktet und alles wird kommerzieller.

Was denkst du über Billy Childish?

Jamie: Billy Childish ist leider nicht sehr bekannt. Er ist auf jeden Fall unbeachtet. Billy's kicking against the pricks, anyway. Wenn er mehr in der Öffentlichkeit stehen würde, würde er sich vermutlich verstecken. The White Stripes haben ihn zu "Top Of The Pops" eingeladen, um auf der Bühne zu malen, aber er wollte es nicht. Es ist schon komisch, dass Billy jetzt wegen den White Stripes etwas bekannter ist und nicht wegen seiner Band The Headcoatees.

Es gibt also keine Zukunft für diese Musik?

Jamie: Doch, die Leute haben nur den Kontakt zur Zeit verloren. Damals war Rock'n'Roll genau in der Zeit. Die Jugendlichen haben sich mit der Kunst, mit der Musik identifiziert. Das machen sie heute nicht mehr so intensiv. Ich denke, dass die heutigen Plattenfirmen Marketingstrategien von vor zehn Jahren benutzen. Viele Bands pflegen einen Stil oder haben ein Image, das 30 oder 40 Jahre alt ist. Ich denke, die einzige Person, die nach der Zeit greift, ist Lawrence Bell von Domino Records, und deshalb haben wir uns für sein Label entschieden. "Old School Rock'n'Roll" ist heutzutage nicht mehr relevant. Es gibt eine Zusammenarbeit in der Musikindustrie, alles steril zu machen. Heute gibt es mehr Nihilisten als Rebellen.

Hat das mit Punkrock angefangen? Nihilistische Musik war ja von Anfang an in der Musik. Ist das am Ende nicht selbstzerstörerisch?

Jamie: Das größte Problem mit Punk ist, dass man die Punkmusik-Leiche seit 30 Jahre mit sich rumschleppt. Es war eine Jugendbewegung, die nur zwei Jahre gedauert hat, aber einen lange anhaltenden Eindruck hinterlassen hat. Der Eindruck auf manche Leute war so massiv, dass sie diese Bewegung nicht sterben lassen wollen. In den Zeitungen liest man über Punkbands, Good Charlotte und Green Day, aber die sind genau das Gegenteil von dem, was Punk ursprünglich mal war. Punk ist Style. Mode und Kunst war ein großer Teil dieser Bewegung. Wenn man eine Punk-Compilation hört oder ein Buch darüber liest, dann hört und liest man, dass die Ramones sich ganz anders anhören als die Talking Heads. Die Einstellung damals war es, Mode und Kunst zu vereinen.

VV: Kunst und Mode war damals alles. Heutzutage haben die Leute diese Bedeutung vergessen. Das Image ist kommerzieller, verkäuflicher. Du kannst das Image in einem normalen Laden kaufen. In den Läden findest du Kleider, die ein bisschen punkig aussehen und dann laufen eben alle so herum. Aber Punk ist genau das Gegenteil davon.

Jamie: Die Leute wollen heute einen Eindruck hinterlassen, suchen aber nur nach einer Verbindung zur Vergangenheit. Das soll nicht heißen, dass ich keine Verbindung zur Vergangenheit haben will, ich will nur nicht mit irgendwas aus der Vergangenheit assoziiert werden. Ich meine das nicht arrogant, aber ich denke, diese Leute haben keinen Respekt vor Punk, Rock oder Blues und Elektronikmusik.

Obwohl ihr all diese Musikaspekte in eurer Musik integriert ...

Jamie: Yeah. Punkmusik hat einen Eindruck auf mich hinterlassen, genauso wie elektronische Musik. Wir haben vor diesem neuen Album "No Wow" sehr viel alte Elektronikplatten gehört, wie zum Beispiel Cabaret Voltaire, Richard Kurk, Suicide, Can ... Ich habe eine große Verbindung zu diesen Bands. Sie machen diesen Minimalsound. Viele Kritiker haben unsere erste Platte als eine "Feier des Rock-Blues" oder als "Garagenband- Platte" bejubelt. Ich bin ein ganz normaler, bürgerlicher, weißer Mann aus England. Ich habe keinen Blues in mir. (lacht)

Das hat Mick Jagger auch nicht gehindert.

Jamie: Stimmt, aber ich habe es nicht in meiner Seele. Meine Einflüsse sind ein Mischmasch aus allen genannten Musikrichtungen. Meinen Einfluss ziehe ich durch ältere Bands und Platten. Ältere Leute haben mir Platten von Bands gegeben, die es nicht mehr gibt oder die gestorben sind und einmal legendär waren. Ich hatte das Gefühl, das sind ganz mysteriöse Bands, als würde man über Velvet Underground oder Punkmusik lesen. Ich war nicht interessiert an aktuellen Bands. Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen und dort ist nie eine Band aufgetreten.

Wo genau bist du aufgewachsen?

Jamie: In Newbury, im Süden von London. Und dann bin ich nach London gezogen.

Ist Newbury nicht bekannt für Pferderennen?

Jamie: Ja, und auch für Baumterrorismus. Sie wollten eine Autobahn direkt durch die Stadt bauen und viele Leute sind aus Protest von ihren Häusern auf Bäume gezogen, weit weg von der Autobahn. Mein Vater hat Tee gekocht für die Menschen auf den Bäumen. Die Nuklearbasis von Greenham Common war auch direkt daneben. Es ist eine Stadt der Rebellen ... und Pferderennen ... Wetten. Das ist es, was ich mein ganzes Leben lang gemacht habe. Ein gutes Ding, wenn man in der Kleinstadt wohnt. Wenn du allerdings mehr als 20 Pfund in der Tasche hast, bist du sofort weg.

Woher kommst du, VV?

VV: Ich bin aus einer sehr kleinen Stadt, Miro Beach in Florida. Ein sehr deprimierender Ort. Da passiert gar nichts. Keine Musik, keine Veranstaltung, fast keine Jugendliche. Dafür tausende Rentner, die Cadillacs fahren.

Jamie: Und Golf spielen, dadurch bekommen sie eine gesunde Hautfarbe.

VV: Yeah, überall "Winkleies" (alte Leute mit sehr vielen Falten im Gesicht, die zu lange in der Sonne waren).

Jamie: Ich muss sagen, dass ich Florida mehr hasse, als jeden anderen Ort in der Welt.

VV: Es ist ziemlich ekelhaft dort.

Und jetzt wohnt ihr beide in London?

VV: Ja.

Inwieweit ist London wichtig für Musik und Kunst?

Jamie: Wir sind nicht so oft zu Hause. Wir hatten große Pläne, verschiedene Standorte in London zu belagern. Wir haben zum Beispiel eine Galerie in London gekauft und gedacht, dieser Ort würde das künstlerische Zentrum. Wir waren dort dann für eine Woche und hatten nichtmal die Zeit auszupacken. Wir mussten sofort auf Tour. Seitdem waren wir kaum zu Hause.

Wird die Galerie auch ein Ort für Ausstellungen sein?

VV: Ja.

Jamie: Wir möchten dort unser eigenes Studio aufbauen, ein Fotolabor, ein paar Ausstellungen und Parties machen. Wir haben sehr viele Fotos gemacht und ich schreibe auch sehr viel. Es gibt nie genug Platz auf einem Plattencover, um all diese Sachen zu verwerten. Oder es gibt nicht genug Zeit, während eines Auftritts unsere gesamte Kunst zu zeigen. Vielleicht machen wir demnächst auch ein gemeinsames Buch.

Habt ihr schon etwas vorbereitet, gibt es generell Pläne?

Jamie: Ja, es kommt bald ein Film heraus.

VV: Unser Freund Morgan aus New York hat einen Film über unsere Tour gedreht. Er hat uns eine Woche lang in Paris gefilmt und dann hat er alles zusammen geschnitten und daraus wurde eine sehr schöne Dokumentation. Fast eine Stunde lang. Die meisten Szenen bestehen daraus, dass wir uns gegenseitig filmen.

Jamie: Morgan hat viele kleine Interviews mit uns gemacht. Er war ziemlich schlau und hat uns nie zusammen interviewt. Unglaublich, dass wir dennoch viele ähnliche Sachen gesagt haben. Wir hatten zuerst keine Ahnung, was das für ein Film werden sollte. Wir wollten nur einen 15-Minuten-Kurzfilm über unsere Erfahrungen in Paris machen. Am Ende waren es dann doch fast 60 Minuten über Hass und Liebe, Wachsen und Sterben. Der Film heißt "I Hate The Way You Love".

VV: Ich denke, der Film erscheint zur selben Zeit wie die Platte.

Jamie: Wir würden gerne eine öffentliche Filmvorführung machen, wo wir dann auch live spielen. Aber wir haben leider im Moment keine Zeit dazu. Es gibt ein ganz tolles Independent-Kino, "The Dalston Rio", in der Nähe unseres Hauses, vielleicht können wir es dort machen.

Wenn das funktioniert, wollt ihr dann auch mit dem Film auf Tournee gehen?

Jamie: Das ist eine gute Idee.

VV: Zuerst müssen wir mal mit der Platte auf Tour gehen, sonst werden wir getötet.

Jamie: Es gibt sehr viel Material über unsere Platte in diesem Film. Da kommen auch Szenen von den Aufnahmen zu "No Wow" vor, in denen wir viel darüber sprechen. Die meisten Plattenfirmen haben keine Vorstellung davon, dass man auch mal einen Film oder etwas anderes machen könnte. Sie benutzen immer dasselbe Format: Man macht eine Platte, geht auf Tournee, bringt ein Video raus, gibt Interviews. Lauter solche langweiligen Sachen.

VV: Plattenfirmen bekommen Panik, wenn sie die Worte Buch oder Film hören ... Das war bei unserem Label auch so.

Jamie: Es ist schwer, ein Label zu überreden, einen Film heraus zu bringen und eine zusätzliche Kinotour zu machen. Das Label sagt dann: "Moment, wenn du das vorhast, dann musst du mit deiner musikalischen Karriere Pause machen." Darauf antworte ich: "Was für eine Karriere, ich bin in einer Band." (alle lachen)

VV: Yeah, was für ein Job?

Das Problem ist, dass die Plattenfirmen nicht wissen, wie sie diese Produkte vermarkten sollen, oder?

Jamie: Alle sind schuldig. Die Plattenfirma weiß nicht, wie sie das vermarkten soll und das Publikum kann auch nichts damit anfangen. Wahrscheinlich endet es in einem Desaster.

Finanziell könnte es ein Desaster werden, aber als Kunst ist es doch wunderbar.

Jamie: Ja, genau. Desaster hinterlassen immer den größten Eindruck.

Ist es nicht gut, Kunst zu erschaffen und auch noch ein wenig Geld damit zu verdienen?

VV: Jamie und ich geben jeden Cent für solche Sachen aus. Für Dinge, an die wir wirklich glauben. Wir werden das immer machen. Unser Hirn kann nicht anders funktionieren. Es spielt keine Rolle, wie viel Geld es kostet, wir machen es einfach.

Jamie: Das Musikbusiness kannst du auch mit deinen Eltern vergleichen. Ich habe immer Musik gemacht und nie gewusst, ob ich davon meine Rente zahlen kann. Die Eltern sagen, du musst dir einen richtigen Job suchen, um richtig Geld zu verdienen: "Fang an, endlich an deine Zukunft zu denken." Und dann hat die Band plötzlich einen Plattenvertrag, man sieht sie im Fernsehen und in Musikzeitschriften. Sie bekommen Geld und können ein Haus kaufen und dann sagen meine Eltern:"Yeah, das ist wunderbar. Wir waren immer dabei und haben dich immer unterstützt." Plattenfirmen sind genauso. Wenn die Firmen keinen Gewinn bekommen, dann hat es keine Relevanz für sie. Wenn man nicht kommerziell ist, dann hat man versagt und man ist ein Loser.

Wie war die Studioarbeit zu eurem neuen Album?

Jamie: Wir hatten diesmal nur vier Wochen Zeit. Es gab viele Diskussionen. Damals machten wir die beste Kunst und Musik in zehn Minuten. Die Ideen kamen wie aus der Pistole geschossen. In diesen vier Wochen haben wir nun unsere eigene kleine Welt für unsere Inspiration gebraucht. Und plötzlich hatten wir elf Songs geschrieben. Wir hatten gar keine Zeit zu überlegen.

Hilft es denn nicht auch, unter Zeitdruck zu arbeiten?

Jamie: Jein, es ist nicht die ideale Methode. Man sollte sicher sein, welche Art von Platte man machen will. Man kann nicht ins Studio gehen und sagen, hmm, nehmen wir dieses Stück oder doch lieber das andere? Man muss sich auf einen Song konzentrieren. Es ist irgendwie klaustrophobisch, aber man benutzt seine Instinkte. Die ursprüngliche Idee war, eine Keyboard-Platte zu machen.

Ich habe gehört, dass du gerne einen Moog benutzen wolltest?

VV: Wir konnten den Moog nicht benutzen, weil er nicht repariert war.

Jamie: Viele Gitarrenlinien waren für die Orgel geschrieben. Wir wollten es mit dem Moog umsetzen und damit herum experimentieren. Die Gitarre sollte wie ein Keyboard klingen, das Schlagzeug wie eine komische Drummaschine ...

Könnt ihr uns etwas über "Myers Supermarket" erzählen?

VV: Wart ihr schon mal in einem Wal-Mart? Das ist ziemlich ähnlich.

Jamie: Es gibt einen Wal-Mart in Dortmund.

VV: Erzähl' die Geschichte.

Jamie: Der Wal-Mart in Dortmund ist der erste Single- Treff der Welt. Das Motto dort ist sozusagen "Shopping For Love". Man bekommt Wein, trifft die anderen Einkäufer und sie überreden dich ... Es ist verdammt schrecklich. Eine ganz seltsame Idee.

VV: Es ist so traurig.

Jamie: Myers ist ein bisschen wie Wal-Mart. Als wir unsere Platte in Benton Harbour, in der Nähe von Detroit, aufnahmen, gab es da diesen Myers Supermarkt. Da ist nichts los. Nach den Detroit Riots in den 60er Jahren hat sich die Stadt nicht wieder erholt. Es ist ein sehr armes Gebiet mit hoher Arbeitslosigkeit. Detroit haben sie zwar neu aufgebaut, aber der Stadtteil Benton Harbour wurde vernachlässigt. Man sieht viele Leute auf der Straße und weiß nicht, ob sie obdachlos sind oder nicht. Die ganze Population ist sehr tragisch.

VV: Es gibt dort für Jugendliche nichts zu tun.

Jamie: Für niemanden, außer für Myers Supermarket. Er hat 24 Stunden lang geöffnet, und es treffen sich dort alle Kids, um den ganzen Tag abzuhängen. Die Mädchen sind sehr aufgemacht, mit hohen Absätzen und viel Schminke im Gesicht, in der Hoffnung, dort einen Jungen fürs Leben zu treffen. Es ist wie in einem Club. Supermarkt statt Club oder Diskothek.

VV: Wir waren auch jeden Abend dort, allerdings um Bier zu kaufen oder etwas zu essen. Das ist wirklich der einzige Ort, wo man hingehen kann.

Jamie: Es ist surreal. Diese Jugendlichen bummeln gemeinsam mit den normalen Einkäufern, die eine Generation älter und ganz dick sind, durch den Laden. Die Älteren schieben ihren Trolly vor sich her. Wenn du das so beobachtest, wird dir die Verbindung zwischen den beiden Generationen klar. Vielleicht waren die älteren, dicken Leute damals genauso wie die Kids heute. Frustriert und gelangweilt zogen sie damals durch Myers und haben dort ihren Freund oder ihre Freundin getroffen. Dann kam der schnelle Fick hinter der Shell-Tankstelle und fünfzehn Jahre später gehst du dort wieder mit deinem Kind einkaufen und sitzt abends vor der Glotze und frisst dich fett. Es ist eine ganz komische Welt, sehr beängstigend.

VV: Im Mittleren Westen in Amerika ist es überall so. Dort gibt es gar nichts. Und ganz viele Leute ziehen nie von ihrem Geburtstort weg.

Jamie. Ich möchte zu diesen Jugendlichen nur sagen: "Hey, das ist eine Warnung, schaut euch diese älteren Leute an, so könntet ihr auch enden. Passt auf!Verlasst lieber jetzt eure Stadt und zieht an einen anderen Ort."

VV: Ein Problem ist die Armut, das andere ist der christliche Glaube und der amerikanische Stolz. Niemand will seine Heimat verlassen und was Neues entdecken. Sie denken, es lohnt sich nicht, nach Frankreich zu gehen. Amerika ist sehr rassistisch. Die Leute denken, ihre Heimat ist das Beste und sie müssten nicht woanders hingehen. Wenn du so erzogen wirst und nichts anderes kennst, dann ist klar, wieso diese Leute so denken.

Jamie: They get stuck! Das Problem, von einem Ort weg zu gehen, ist nicht nur finanziell bedingt, sondern auch psychologisch. Ich hatte niemals Geld, aber es hat mich auch nie daran gehindert, meinen Heimatort zu verlassen. Wenn du in einer Falle steckst, dann ist es egal, in welcher Falle. Du musst dich befreien. Es gibt viele Beispiele für Leute, die kein Geld hatten, aber trotzdem die Energie, den Ort zu wechseln.

VV: Es ist nur eine Frage des Mutes.

Ich habe mal gelesen, dass Shopping Malls die neue Kirche in Amerika sind, ein großer neuer Treffpunkt?

VV: Nee, ich wünschte das wäre so. Aber es gibt noch viele Kirchen in Amerika. Fast an jeder Ecke. Es ist beängstigend.

Das sind wohl die Leute, die Bush wählen.

VV: Ja, christliche Fundamentalisten. Die sind überall. Amerika macht im Moment keinen Spaß.

Bist du deshalb nach London gezogen?

VV: Ja, so kann man das sagen. Ich war immer frustriert. Aufgewachsen in dieser Kleinstadt. Mit 14 Jahren bin ich auf Tournee gegangen und hatte so die Chance, etwas anderes zu sehen, die ganze Welt. Bevor ich 17 war. In einer größeren Stadt war ich auf einer Kunstschule und dennoch gab es da noch diese Grundstimmung, von wegen "ah, ich muss hier weg". Den Heimatort zu verlassen war das Aufregendste und Beste was ich machen konnte. Nach London zu kommen, Hotel zu treffen und Musik und Kunst zu machen, das war es. Ich weiß nicht, wo ich gelandet wäre, wenn ich diese Möglichkeit nicht genutzt hätte.

Jamie: Myers!

VV: Nein, niemals. Wahrscheinlich wäre ich nach New York gegangen, obwohl es dort gerade auch sehr langweilig ist.

Was denkt ihr über die englische Musikpresse wie NME, Q oder Mojo?

Jamie: Ich denke, die sind okay. Sie sind zwar blöd, aber die waren schon immer blöd.

VV: Es macht keinen Sinn, erst etwas zu hypen, um es dann später zu killen.

Jamie: Sie werden immer an der Idee festhalten: "Was ist dieses Jahr cool und was ist nächstes Jahr nicht mehr cool". Und dann dauert der Hype noch nicht mal ein Jahr, sondern nur eine verdammte Woche.

VV: Sie erfinden blöde Namen für eine neue Szene und werfen verschiedene Bands in eine Schublade.

Jamie: Doch um ehrlich zu sein, der NME war bis jetzt immer gut zu uns. Es ist schade, dass es die einzige relevante, wöchentliche Musikzeitschrift in England ist. Aber was sollen wir dagegen tun? Motzen bringt nichts! Der Vorteil dieser Zeitschrift ist, dass es immer aktuell und frisch ist. Der Nachteil ist, dass man jede Woche eine neue Szene hat und es einfach zuviel wird. Ich habe schon oft in anderen Ländern gehört, dass die englische Presse einen ganz schlechten Ruf hat.

Aber es war nicht immer so. Früher gab es noch Sounds und Melody Maker.

VV: Damals hatten die Zeitungen noch Konkurrenz. Es ist eine Schande. Man braucht eine Konkurrenz, damit es eine Balance geben kann.

Jamie: Viele dieser Zeitschriften achten nur auf ihre Verkaufszahlen und warten darauf, von einer größeren Firma gekauft zu werden. Einige Musikzeitschriften sind inzwischen pleite und dementsprechend reagierte der NME. Sie wurden größer und schreiben seitdem nur noch Blödsinn, genauso wie Smash Hits (Die englische BRAVO, Anm. d. Red.). Sie nehmen sogar Britney Spears aufs Cover, nur um noch mehr Exemplare zu verkaufen. Das ist ganz mies.

VV: Das ist so, als würde es MTV als Zeitschrift geben. Man sieht es ja auch bei MTV. Sie zeigen weniger Videos und dafür mehr von diesen Reality-TV-Shows.

Jamie. So ist es jetzt. Darauf haben sie hingearbeitet und ich genieße es auch, diese Sachen zu gucken. Ich weiß, es ist dumm, aber es ist seichte Unterhaltung.

Ja, wie etwa "Pimp My Ride". Das ist meine Lieblingssendung.

Jamie: Meine auch. Die Leute sind zwar dumm und blöd, aber das ist unsere heutige Gesellschaft, und deshalb ist es eine gute Dokumentation.

Das Interview führten Jasmin Lütz und Paul J. Greco.

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