laut.de-Kritik

"The brothers gonna work it out"? Aber hallo!

Review von

Den Anfang macht (wieder einmal) ein Kraftwerk-Sample. Von "Ohm Sweet Ohm" klauen sich die Brüder ihr allseits bekanntes Startsignal, ehe mit "Leave Home" eine Club-Hymne losbollert, wie sie die Welt bis dahin nicht kannte. "The brothers gonna work it out"? Aber hallo! Der langhaarige Proto-Zottel und der in Lysergsäure getränkte Club-Homie nicken sich beim gemeinsamen Abhotten auf der Tanzfläche wissend zu. Schon die Covergestaltung verdeutlicht, dass man es hier nicht mit einem konventionellen Elektro-Album zu tun hat: Keine spacigen Landschaften, kein psychedelischer Kokolores, sondern ein fast schon romantisches Bild eines Hippie-Pärchens aus den 70ern, das eine Straße entlang schlendert.

Man lehnt sich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man dem Debüt-Album der Chemical Brothers Legendenstatus attestiert. Manches auf "Exit Planet Dust" mag einem heute relativ konventionell vorkommen, aber wir reden hier über ein Album, das 1995 das Licht der Welt erblickte. Eine Fusion von Rock und Elektro war damals ungefähr so gang und gäbe wie heutzutage eine Kollabo der Beatsteaks mit Dieter Bohlen.

Es muss dann auch im Sommer 1995 gewesen sein, als ein Kommilitone mit der simplen Frage "Kennste Chemical Brothers?" nichts weniger als den Umsturz des eigenen Musik-Wertesystems einläutete. Dem Metal-Jüngling mit (noch) wallendem Haupthaar war zu jener Zeit nichts mehr zuwider, als plumpe Bumsbeats aus der Konserve. Was sollten da schon zwei bleichgesichtige Engländer zu bieten haben? Jede Menge.

Die elf Tracks dieses Opus' gehen durchaus als Blaupause für kommende Heldentaten durch. Nicht umsonst grüßt Norman Cook aka Fatboy Slim die Brothers auf seinem Debüt "Better Living Through Chemistry" in den Linernotes. All das, was dereinst als Big Beat durch die Clubs wummern sollte, geht auf "Exit Planet Dust" zurück. Und nicht nur das. Die Acid House-Welle brach gerade in sich zusammen und aus den Clubs kam außer Jungle noch nichts Neues und Spannendes nach. In dieses Vakuum setzten Tom Rowlands und Ed Simons ihr monumentales Gebilde.

1994, als die Dust Brothers, wie sie sich vorher nannten, im Albany Pub in London auflegten, avancierten sie rasch zu Lieblingen der musizierenden Kollegenschaft. Die Britpop-Elite ging dort ein und aus. Remix-Aufträge für Primal Scream, die Charlatans, Manic Street Preachers und vor allem The Prodigy ("Voodoo People") rückten den Namen des Duos immer weiter in den Fokus der Öffentlichkeit. Ein Album war zunächst gar nicht angedacht und widersprach auch dem Arbeitsethos der elektronischen Frickel-Fraktion, die sich eher aufs DJing und das Produzieren einzelner Tracks verlegte.

Das erste Ergebnis des Schaffens für "Exit Planet Dust" stammt noch aus dem Jahre 1992: "Song To The Siren", das ein Rückwärts-Loop des Dead Can Dance-Tracks "Song To Sophia" beinhaltet, spielt im Verlauf des Albums eine zentrale Rolle. Der Track steht nämlich genau in der Mitte eines Medleys, das sich über sechs Nummern und 25 Minuten hinzieht und mit einer wahren Achterbahnfahrt aufwartet, die so ziemlich alles in Grund und Boden bombt, was damals an elektronischer Musik aus den Boxen schallerte.

Acid-Effekte, Distort-Alarm, Basslines, so fett, dass man sie kaum umarmen kann und eine Beat-Orgie samt Ghostnote-Attacken und monströsem Bass-Wumms betteten Rowlands und Simons in ein Instrumental. Ähnlich wie "Leftism" umarmte man alles, was für den Sound nützlich erschien. War es bei Leftfield noch Hip Hop, Dub und Techno, heißen die Brüder im Geiste bei den Chemical Brothers Acid House, Rock und Rave.

Auf Albumlänge gehen die Songs bis zur Verschnaufpause "Chico's Groove" nahtlos ineinander über, so dass man die Platte getrost in zwei Teile einordnen kann. Part one: Gib ihm! Part Two: Machma ein bissel langsamer. Während die Chemical Brothers einem zunächst kaum eine Millisekunde zum Luftholen lassen, geht es im zweiten Teil etwas gemächlicher und mit einem funky Anstrich vonstatten.

Wie ein DJ-Set en miniature gestaltet sich die Dramaturgie des ersten Parts. Einem temporeichen Beginn ("Leave Home") folgt die groovige Fortsetzung ("In Dust We Trust"). Spätestens wenn in "Three Little Birdies Down Beats" polternde House-Beats das Zepter übernehmen, tanzt sich die Meute in eine komplett-selige Ekstase.

"Life Is Sweet" mit Charlatans-Fronter Tim Burgess am Mikro legt final noch einmal einen Zacken zu und nimmt die "Setting Sun" vorweg, die Liam Gallagher anno 1997 auf "Dig Your Own Hole" scheinen lässt. "Alive Alone" läutet dann einen grandiosen Kehraus ein, bei dem Beth Orton am Mikro brilliert. Etwas schräg und nicht immer sicher in der Intonation rundet sie das Meisterwerk der Chemical Brothers stimmig ab.

Den Chemical Brothers gebührt mit "Exit Planet Dust" das Verdienst, die beiden spinnefeindlichen Parteien Rocker und Clubber aus ihren Schützengräben geholt zu haben. Sie traten 1995 den Beweis an, dass die Übergänge zwischen den Schubladen fließend sind und dass Genres ohnehin fürn Arsch sind. "The brothers gonna work it out?" Aber hallo!

In der Rubrik "Meilensteine" stellen wir Albumklassiker vor, die die Musikgeschichte oder zumindest unser Leben nachhaltig verändert haben. Unabhängig von Genre-Zuordnungen soll es sich um Platten handeln, die jeder Musikfan gehört haben muss.

Trackliste

  1. 1. Leave Home
  2. 2. In Dust We Trust
  3. 3. Song To The Siren
  4. 4. Three Little Birdies Down Beats
  5. 5. Fuck Up Beats
  6. 6. Chemical Beats
  7. 7. Chico's Groove
  8. 8. One Too Many Mornings
  9. 9. Life Is Sweet
  10. 10. Playground For A Wedgeless Firm
  11. 11. Alive Alone

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12 Kommentare

  • Vor 10 Jahren

    Ich finde ja das Nachfolgealbum "Dig your own hole" noch eine Spur besser, aber dieses Album hat sich wahrlich den Meilensteinstatus verdient, weil es das erste seiner Art war und eine Welle losgetreten hat.
    Das Album-Intro mit "The brother's gonna work it out" war bei mir damals Dauerohrwurm. :-)
    BTW: sehr schöne, absolut treffende Review.

  • Vor 10 Jahren

    Hmm, fand die Chemical Brothers nie so geil wie meinetwegen Fatboy Slim, Prodigy oder Apollo 440. Wobei CB den Style schon sehr früh geprägt haben, deshalb geht der Meilenstein wohl in Ordnung. Habe aber nur die Singles Collection von denen... ;)

  • Vor 10 Jahren

    ich habe nur 'surrender'. fatboy slim oder prodigy wuerde ich mir nie ausserhalb von party/club/festival geben, die brothers auf jeden fall! behalte ich im hinterkopf..

  • Vor 10 Jahren

    @heyday (« so what!?
    ..ihr werdet immer mehr wie der NWE..Alben die keiner versteht und nur Kritiker lieben...das wahre Album der CB ist und bleibt "Dig your own hole".. »):

    Das 13. Gebot lautet: Red Kein Blech!

  • Vor 10 Jahren

    Würdigt endlich mal "Massive Attack" mit "Mezzanine"!

  • Vor 10 Jahren

    @JaDeVin (« Würdigt endlich mal "Massive Attack" mit "Mezzanine"! »):

    Als Portisheads' "Dummy" den Meilenstein bekam, wurden in den Kommentaren die Stimmen wieder laut, die sich für "Mezzanine" einsetzten. So auch meine.
    Die Red. hat kurz darauf gesprochen und "Blue Lines" den Meilenstein gegeben - mit verhaltenen Reaktionen.
    Dennoch sagte es dort schon jemand: Bei Bands/Künstlern mit einem solchen Backkatalog ist's eher müßig, sich über den jeweiligen Meilenstein zu streiten - wichtig ist, dass solche Künstler hier überhaupt bedacht werden, finde ich.