13. November 2017

"Meine eigene Vergänglichkeit war damals kein Problem"

Interview geführt von

Ein Vierteljahrhundert ist es her, dass R.E.M. nur ein Jahr nach dem Longplayer "Out Of Time" mit "Automatic For The People" nachlegten und damit ihren Status als eine der wichtigsten Bands der 1990er-Jahre endgültig zementierten.

Auf Erwartungserfüllung hatte die Band um Frontmann Michael Stipe seit jeher wenig Lust. Nachdem sie bei "Out Of Time" das Tempo drosselten und bei "Automatic For The People" in Sachen Melancholie noch eins drauflegten, ging es mit "Monster" 1994 wieder in eine ganz andere Richtung.

2011 lösten sich R.E.M. auf, es gab zum Kanon nichts mehr hinzuzufügen. Diese Entscheidung verteidigen Stipe, Mills & Co bis heute vehement. Reunion-Gedanken? Fehlanzeige. Für Jubiläen und Re-Issues lassen sich die Musiker dann aber doch wieder auf die Promo-Couch bitten. Wie eben bei der Wiederveröffentlichung von "Automatic For The People", das in mehreren Packages – unter anderem mit dem einzigen Live-Konzert dieser Ära, "Live At The 40 Watt Club" sowie zahlreichen Demos sowie einem zusätzlichen Mix in Dolby Atmo wiederveröffentlicht wird. Wir trafen Michael Stipe und Mike Mills zum Gespräch in Berlin.

Ihr habt in den 1990ern in nur vier Jahren drei bemerkenswerte Alben veröffentlicht, "Out Of Time", "Automatic For The People" und "Monster". Wenn ihr an diese Zeit zurückdenkt, was kommt euch da als erstes in den Sinn?

Mike Mills: Nun, diese drei Alben sind sehr unterschiedlich. Das ist gut, genau das wollten wir: Uns nicht wiederholen, uns herausfordern, neue Wege finden, um Songs zu schreiben, die wir interessant finden. Die Diversität dieser drei Alben ist schon beachtlich.

Michael Stipe: Da stimme ich zu. Wir haben uns selbst etwas bewiesen – und das die ganzen 1980er Jahre lang. Wir tourten durchgehend, nahmen pro Jahre eine Platte auf. Es war an der Zeit, das Tempo zu verändern, uns Hindernisse in den Weg zu stellen. Wir haben tatsächlich versucht, uns selbst ein Bein zu stellen. Peter [Buck, Gitarrist, Anm. d. Red.] vor allem: Er wollte ein E-Gitarrist, aber niemals ein Gitarrengott sein. Er wollte in seinem ganzen Leben kein einziges Solo spielen. Er wollte sich selbst herausfordern, indem er verschiedene Instrumente spielt. Was wir am Ende dabei herausbekommen haben: Drei völlig unterschiedliche Platten, die von dem weggehen, wofür wir bekannt waren. Drei auch untereinander verschiedene Alben. Leider wird das dritte eher verschmäht, "Monster" ist nicht die beliebteste Platte von uns. Aber darum kümmern wir uns dann, wenn wir dazu kommen [zur Jubiläumsausgabe, Anm. d. Red.]. Es ist übrigens die Lieblingsplatte von Courtney.

Du meinst Courtney Love, nehme ich an?

Stipe: Genau. Ich weiß auch nicht warum, sie liebt die Platte.

Also würdet ihr sagen, "Monster" ist generell unterbewertet?

Mills: Ich würde es mal so formulieren: Nach "Out Of Time" und "Automatic For The People", die sich so ausgezeichnet verkauft hatten, wollten die Leute mehr vom Gleichen. Daran hatten wir aber kein Interesse und machten eine 180-Grad-Wendung – mit einer Glam-Rock'n'Roll-Platte. Die Millionen Menschen, um die wir unseren Fankreis mit den letzten beiden Alben erweitern konnten, wollten das bekommen, für das sie gekommen waren. Als wir ihnen etwas anderes gaben, meinten viele, dass das nicht das sei, was sie gewollt hätten.

Stipe: Dazu kam, dass zu dem Zeitpunkt, als die Achtziger ein Ende nahmen und die 1990er begannen, viele Leute das Gefühl hatten, sie hätten ihre kleine Lieblingsband verloren, die bis dahin so etwas wie ihr Geheimnis gewesen war. Die Band, die sie liebten, war zu einem Mainstream-Act herangewachsen und so waren viele an uns nicht mehr interessiert. Das ist absolut legitim, so ging es mir beispielsweise mit Blondie. Als die "Heart Of Glass" veröffentlichten, dachte ich: Was für Sellouts, ich bin hier raus! Fertig! Heute schaue ich auf "Heart Of Glass" zurück und weiß, dass es ein verdammt noch mal brilliantes, waghalsiges Album ist. Sie sind ein Risiko eingegangen. Aber ich war ein Teenager und konnte das nicht sehen.

"Automatic For The People" war eine Veränderung in vielerlei Hinsicht: Geschwindigkeit, Instrumentierung, Stimmung. Erzählt doch mal, wie ihr damals musikalisch so getickt habt.

Mills: Unser Hauptgedanke damals war, dass wir nicht nach R.E.M. klingen wollten. Wenn du dir die Demos der Songs anhörst, die es nicht auf die Platte geschafft haben, dann könntest du den Eindruck bekommen, dass sie auf einem früheren R.E.M.-Album hätten drauf sein können. Alles, was damals zu sehr nach R.E.M. klang, haben wir auf die Seite geschoben. Wir wollten wachsen, uns entwickeln, die Richtung ändern. Wenn du "Mike's Pop Song" oder "Peter's Guitar Song" hörst, das hätte auf den Alben der 1980er-Jahre sein können. Aber danach suchten wir eben nicht.

Kannst du etwas über die Demo-Sessions erzählen? Ihr sollt damals oft Instrumente getauscht haben, während Michael nicht anwesend war.

Mills: Wir haben das oft gemacht – auf "Automatic For The People" spielte Peter Bouzouki Mandoline, ich spielte viele Keyboards während des Schreibprozesses. Wenn du beim Schreiben nämlich ein anderes Instrument benutzt als das, das du üblicherweise spielst, schreibst du in eine andere Richtung. Du verlierst deine alten Gewohnheiten und genau das strebten wir an. Wenn du ein anderes Instrument in die Hand nimmst, musst du gar nicht erst versuchen, die Dinge in eine neue Richtung zu lenken, weil sie sich da ganz von allein hinbewegen. Manchmal war Michael beim Schreiben da, aber wir arbeiteten wirklich jeden Tag mehrere Stunden – es hätte für Michael gar keinen Sinn ergeben, anwesend zu sein, während wir versuchten, die einzelnen Teile in fertige Kompositionen zu verwandeln.

"Ich habe die Plage überlebt, habe mich nicht umgebracht."

Die Lyrics sind introspektiv, melancholisch, handeln von Tod, Vergänglichkeit. Michael, was hat dich zu dieser Zeit beschäftigt?

Stipe: Ich habe damals viel über den Tod, über Veränderung nachgedacht. Über Übergänge, über Dunkelheit. Das ist in den Songs sehr präsent. 'Jugendlicher Eskapismus' hat es jemand kürzlich genannt. Ich bin in den 1960ern geboren, jede Dekade ist für mich etwas gänzlich Neues. Die 1980er waren meine Zwanziger, die 1990er meine Dreißiger. Ich habe meine Zwanziger überlebt. Ich habe die Plage überlebt, ich habe mich nicht umgebracht, ich bin an keiner Überdosis gestorben. Als ich in meinen 30ern war, war ich eine ganz andere Person. Ich hatte eine ganz andere Perspektive, man schaut zurück auf den, der man mal war – ohne zu sentimental oder nostalgisch zu sein.

"Nightswimming" entstand zum Beispiel aus diesem Gedanken heraus. Ich bin nicht vom Tod besessen, aber es ist eben ein Teil des Lebens, mit dem keiner etwas zu tun haben möchte. Es ist für mich sehr schwer, für Amerikaner generell, das ist ein kulturelles Ding. Wir sind mit dem Tod nicht wirklich vertraut. Aber es fühlte sich kathartisch an, durch die schrecklichen 80er mit Reagan, Bush und Aids zu kommen und mich auf eine sehr persönliche Ebene mit dem Tod befassen. Meine eigene Vergänglichkeit war damals kein Problem, aber meine Großeltern waren gestorben, ich hatte einen kranken Hund, um den ich mich kümmerte. Wer hätte wissen können, dass in diesem Jahrzehnt eine Person nach der anderen, die ich liebte und verehrte, sterben würde?

Es gab da eine Ebene, die ich nicht kommen sehen konnte. Ich habe diese Dunkelheit in mir, die habe ich von meinem Vater geerbt. Aber ich bin auch ein Optimist. Sich diesen Dingen in einer ruhigen, bedachten Phase zu stellen, kann zu mehr Akzeptanz, zu mehr Weisheit führen – im Gegensatz zu Phasen, wenn es nicht ruhig, sondern turbulent und schrecklich ist. Und das ist eben auch Teil eines langen Lebens: Andere Menschen gehen zu sehen. Das ist Fluch und Segen. Das wurde jetzt echt schwermütig, entschuldige bitte.

Ihr habt damals "Drive" als erste Single erkoren – ein toller Song, aber vielleicht aus Plattenfirmen-Perspektive nicht die allererste Wahl, oder?

Stipe: Es gibt da einen logistischen Gedanken: Im Jahr 1992 veröffentlichte man nicht jenen Song als erstes, von dem man überzeugt war, dass er zu einer Hitsingle würde. Man brachte zuerst einen Warm-Up-Song raus, um alle wissen zu lassen, dass man ein neues Album veröffentlicht – und dann schlägt man mit der zweiten Single ein. Das kommt von der Plattenfirma, das war die Strategie. Diese Strategie haben wir ihnen beim Vorgängeralbum schon ziemlich versaut. Denn da brachten wir einen Warm-Up-Song namens "Losing My Religion" raus – und der war ein wenig mehr als nur eine Aufwärmübung. Vielmehr hat er die Welt aus den Angeln gehoben. Danach wussten wir nicht, was wir machen sollten.

Bei "Drive" wussten wir, dass das Radio und MTV es spielen würden – einfach, weil sie das mussten. Ich habe extra ein Video gemacht, das nach nichts aussah, was ich zuvor gesehen hatte. Mir war seit Mitte der 1980er-Jahre klar, dass MTV uns spielen würde, ganz egal, was wir ihnen vorsetzten. Wir konnten die Sprache oder den Dialekt von Musikfernsehen und Musikvideos verändern, indem wir etwas so Unverschämtes, Andersartiges machten. Kein Lip-Synching, elf Jahre lang, quer durch die 80er, das war schon radikal.

Mills: Wir waren immer Querdenker. Wir wussten, dass wir das Spiel spielen mussten – aber wir bestanden darauf, es nach unseren Regeln zu spielen. Wir wussten, dass unsere Plattenfirma eine Strategie hat, nicht den poppigsten Song als erstes zu veröffentlichen – und das hätten wir ohnehin so gemacht.

Stipe: Ja, Querdenker ist ein Wort, das nicht viele Leute mit R.E.M. verbinden. Wir hören oft, dass wir integer sind, brillant natürlich (lacht) ... Jetzt mal im Ernst: Wir sind Nonkonformisten, jeder von uns hat seine ganz eigene Art. Aber als gebündelte Kraft hielten wir uns gegenseitig davon ab, von einer Klippe zu springen. Wenn wir alle davon überzeugt waren, dann kam dabei etwas Unerwartetes heraus.

Ich denke, dass das Adjektiv 'integer' in diesem Fall das Nonkonformistische irgendwie impliziert.

Stipe: Ja, das mag sein. Man spielt das Spiel, aber ändert die Regeln. Es gibt in 30 Jahren R.E.M. einige Dinge, bei denen ich als Repräsentant der Band die Linie etwas überschritten habe. Bei der Wahl von Regisseuren, visuellen Elementen – aber das würde jetzt zu weit führen.

"Wir hatten keinen Masterplan"

Kurt Cobain hat mal gesagt, ihr hättet euren Ruhm wie Heilige gemeistert. Wart ihr Euch damals schon bewusst, welchen Einfluss ihr auf die Popkultur habt?

Stipe: Ich glaube, keiner hätte es kommen sehen, dass Bands wie Nirvana, Coldplay, sogar U2 und ganz sicher Radiohead nach uns kamen und ihre Entscheidungen nach unserem Vorbild getroffen haben. Denn das taten sie. Und wir fühlten uns sehr geschmeichelt.

Mills: Wir wussten einfach, was wir nicht tun wollten. Wir hatten keinen Masterplan, wie wir das alles durchziehen würden – aber wenn eine Entscheidung anstand, dann war uns immer klar, was sich falsch anfühlte. Das Spiel nach den etablierten Regeln zu spielen, nach der Vorgabe der Plattenfirma und der Industrie. Wenn wir an solche Weggabelungen kamen, wollten wir immer das tun, das so noch nie gemacht worden war. Das fühlte sich für uns richtig an – und wir waren gut genug, dass wir damit auch durchkamen und allen beweisen konnten, dass man auch Erfolg haben kann, ohne nach den alteingesessenen Regeln zu spielen.

Stipe: Dinge aus dem Äther kommen und fliegen manchen Leuten zu – und manche davon werden zur Speerspitze einer Bewegung. In dieser Situation fanden wir uns mehrmals wieder.

Eine letzte Frage, da zur Zeit ja Reissue nach Reissue ansteht: Genießt ihr es, zurück zu blicken?

Stipe: Lass es mich so formulieren ... historisch gesehen: Nein. (lacht) Aber ja, es fühlt sich gut an, 25 Jahre später zurückzublicken und zu sagen 'Heilige Scheiße, wir haben dieses Ding gemacht als wir so jung waren, schau mal was wir kreiert haben'. Darauf stolz zu sein und jene Dinge gehen zu lassen, die man anders gemacht hätte – an den Alben, den Videos, der Art wie ich mich angezogen und präsentiert habe – einfach zu sagen: 'Weißt du was? Das ist 25 Jahre her und es ist vorbei'. Es ist jetzt ein Teil der Geschichte von jemand anderem.

Mills: Es ist etwas, das wir nicht tun würden, wenn wir nicht anlässlich der Re-Releases darum gebeten worden wären. Wir würden nicht rumsitzen und unsere Vergangenheit analysieren und sagen 'Wow, das war eine gute oder eine schlechte Idee'. Aber so bringen wir unsere Musik vielleicht auch einer neuen Generation von Hörern näher. So können wir den Leuten vielleicht auch erklären, warum sie sich das anhören sollten. Hier habt ihr unser Zeug, wir glauben, es ist gut – schaut mal, ob ihr euren Weg rein findet.

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LAUT.DE-PORTRÄT R.E.M.

Als R.E.M. am 5. April 1980 ihr erstes Konzert in der Kirche ihrer Heimatstadt, Athens/Georgia, geben, hört die Band noch auf den Namen Twisted Kites.

7 Kommentare mit einer Antwort

  • Vor 6 Jahren

    Sehr schönes Interview. Diese Band hat wirklich vieles nachhaltig verändert. Für mich öffnete sich durch REM eine Musikwelt mit der ich mich bis dahin noch nie beschäftigt hatte. Gut, ich war auch erst 16 als Out of Time heraus kam und 17 bei AFTP. Aber in den frühen 90ern gabs halt auch die Technowelle und wie ich es gerne bezeichne "billig Pop". Die Welle nahm ich mit bin aber bis heute dankbar dass eine Band wie REM kam und mich ein bisschen aus dieser Spirale befreit hat. Es erweiterte einfach den Horizont und die intelligenten Texte taten ihr übriges. Als ich dann das 80er Werk der Band entdeckte war ich vollends bekehrt. REM wurde neben den Pet Shop Boys eine der wichtigsten Bands meines Musiklebens. Dass die Jungs keine Reunion planen find ich gar nicht Schade. Es stimmt, was sollte man dem Kanon denn noch hinzufügen. REM haben alles gesagt und gemacht was man sagen und tun konnte. Das einzige was mich freuen würde wäre wenn Sie irgendwann nochmal auf Tour gehen würde. War einmal Live dabei und es war grandios. Sowas hätte nochmals seinen Reiz. Bis dahin aber Danke REM. Ihr seid mit die Grössten.

  • Vor 6 Jahren

    Tolle Band, die den schwierigen Spagat zwischen Kunst und Mainstream bra­vou­rös meistern konnte.