Der unscheinbare Lenker im Hintergrund, der auf Pressefotos alle anderen überragte: Ein Nachruf auf den Ego-Bezwinger bei Depeche Mode.

London (mis) - Andy Fletcher ist tot. Die Nachricht wirkt vier Tage nach Bekanntwerden noch immer surreal. Wie kann jemand gestorben sein, der sich sämtlichen Popstar-Exzessen zeitlebens verweigerte? Der unscheinbarste Mann der britischen Popband, der auf Pressefotos trotzdem alle anderen überragte? Der Mann, den sie Fletch nannten? Sie hätten einen Freund mit "goldenem Herzen" verloren, der "immer da war, wenn man Hilfe brauchte", formulierten es Depeche Mode in ihrem unter Schock verfassten Statement. Eine ungewöhnliche wie vielsagende Beobachtung nach über 40 Jahren Karriere, in der aus einer Vorort-Schülerband eine der bekanntesten Gruppen der Welt wurde. Wenn Musiker Hilfe brauchen, gehen sie in der Regel nicht zu ihren Bandkollegen, die sind viel eher der eigentliche Grund für Zwietracht und Verdruss. Bei Depeche Mode indes lief vieles von Beginn an anders als bei anderen Bands.

Mit dem Handy jeden Morgen an die Hotel-Rezeption

Der in Nottingham geborene Fletcher war ein Paradebeispiel an stiller Disziplin und Selbstkontrolle, der früh bemerkte, was Depeche Mode ausmacht: Martin Gores Songs und Dave Gahans Stimme. Er selbst war vor allem Teil der Band, weil er Ende der 1970er Jahre in der tristen Trabantenstadt Basildon genauso musikverrückt war wie seine Schulfreunde Gore und Vince Clarke, Chefkomponist der ersten Songs, darunter der Evergreen "Just Can't Get Enough". Nach dessen Abgang schulte Gore zum Songwriter um und Fletcher definierte für sich eine neue Rolle. Wie Gahan hegte er keinerlei Songwriting-Ambitionen und erkannte die administrative Lücke im Bandgefüge. Als hätte er seine Ausbildung als Versicherungskaufmann nie abgebrochen, studierte er jahrelang nach Konzertschluss Bilanzen und kümmerte sich um Presseanfragen. Es ging schließlich um die eigene Zukunft. Mitte der 80er Jahre besaß Fletcher als einer der ersten ein Handy und besuchte jeden Morgen die Hotel-Rezeption, um die eingehenden Faxe abzuholen. Damals waren Depeche Mode wohl die einzige Pop-Band, deren Manager mit auf die Bühne durfte. Dort hatte Fletcher den besten Überblick, denn der Motor im schnelllebigen Musikgeschäft musste schnurren.

Er strahlte hinter seinen Keyboards als Mann des Volkes

Depeche Mode live, das war in den Augen der internationalen Rockpresse lange Zeit ein Möchtegern-Rod Stewart und drei Typen hinter Keyboards. Der stoische Gleichmut, mit dem die Gruppe diese Vorwürfe an sich abprallen ließ, personifizierte niemand so gut wie Fletcher. Vorne zog Gahan als maskuliner Zampano im weißen Unterhemd alle Blicke auf sich, für zwei Songs pro Abend zelebrierte der geschminkte Balladensänger Gore in Frauenkleidern und skurrilsten Fetischkombinationen eine abseitigere Popstar-Existenz. Alan Wilder sorgte als ausgebildeter Pianist dafür, das alte Playback-Vorurteil elektronischer Bands obsolet zu machen und Fletcher stand meistens nur da, strahlte hinter seinen Keyboards als Mann des Volkes, drückte begeistert mit zwei Fingern auf den Tasten herum und blickte ansonsten staunend und klatschend ins Publikum. Dabeisein ist alles.

Dass Außenstehende über seine Eignung als Bandmitglied rätselten, war er gewohnt und kommentierte seine wenig glamouröse Rolle in Interviews mit nüchterner Klarheit. Kein Wort darüber, dass es vor allem seiner Stressresistenz und Diplomatie zu verdanken war, dass die Band auch in schwierigen Momenten wie 1985 nicht auseinander gebrochen ist. Nach der Best-Of-Scheibe "The Singles 1981-1985" und der von allen Beteiligten als mittelprächtig angesehenen Single "It's Called A Heart", dachten sowohl der gefrustete Gore als auch Gahan erstmals über eine Trennung nach. Nachdem Gore eine Woche lang verschwunden war, erinnerte ihn Fletcher an dessen zugewiesene Rolle: Songs schreiben. Es folgt "Black Celebration" und der eigentliche Beginn der Depeche Mode-Weltkarriere. Als er auf der desaströsen Tournee zum Album "Songs Of Faith And Devotion" 1994 wegen eines Nervenzusammenbruchs und einer Depression vorzeitig die Zelte abbrach, ersetzte ihn Roadie Daryl Bamonte auf der Bühne. Der lernte Fletchs Parts nach Angaben von Wilder in weniger als einer Woche.

Mediator zwischen Gahan und Gore

Auch intern war seine Rolle nicht unumstritten. Vor allem Wilder bereitete das streng demokratische Bandkonstrukt Probleme, in dem sich der keinerlei musikalische Beiträge einbringende Fletcher dennoch heraus nahm, Ideen der Kollegen oder Verhaltensweisen zu kritisieren. Laut Band-Biograph Steve Malins war Fletcher an sämtlichen physischen Auseinandersetzungen der Band beteiligt. Auf der "Music For The Masses"-Tour kritisierte er Gahan für dessen Partyverhalten abseits der Bühne, was sich negativ auf die Stimme auswirken würde. Sänger Andy McCluskey von der Support-Band OMD nahm es staunend zur Kenntnis: "Wir waren schockiert, denn normalerweise ist der Sänger einer Band derjenige, der sagt wo es lang geht." Seine Sandkastenfreundschaft zu Gore, dessen verschlossene Art Fletcher innerhalb der Gruppe wie eine bessere Hälfte verbalisierte, mag kurzfristig für Spannungen gesorgt haben, in letzter Konsequenz sicherte sie der Band das Überleben. Wie es auch hätte enden können, lässt sich exemplarisch am Beispiel der Smiths im Jahr 1987 ablesen, die nach Johnny Marrs Ablehnung weiterer Management-Tätigkeiten zugrunde gingen.

Anfang des Jahrtausends waren seine Mediatorenkünste noch einmal gefragt. Gahan forderte im Zuge seines Soloalbums öffentlich Songwriting-Mitspracherecht bei künftigen Aufnahmen ein. Gore, ein Freund erprobter wie erfolgreicher Strukturen, sah es mit Sorge. Fletcher musste es nochmal richten, der mit Weitsicht gesegnete Kapitän eines Ego-Tankers. Er kommentierte die Wünsche seines Sängers zunächst gewohnt trocken ("Dave Gahan schwebt auf einer Wolke") und setzte sich anschließend mit beiden Parteien an einen Tisch. Es braucht nicht viel Vorstellungskraft, um zu erahnen, wer sich in dieser Konstellation um den erfolgreichen Fortbestand der Gruppe mit vier weiteren Studioalben am meisten verdient gemacht hat.

Späte Karriere als Labelchef

Zu dieser Zeit promotete Andy Fletcher gerade sein frisch gegründetes Label Toast Hawaii, benannt nach dem Sandwich, den er im Jahr 1984 in der Kantine des Berliner Hansa Studios kennen und lieben gelernt hatte. Mittlerweile in seinen Vierzigern, wollte sich der Mann mit dem Faible für Elektronik und Zahlen noch einmal herausfordern und warb als Labelboss für sein erstes und einziges Signing Client. Letztlich kam ihm dann sein eigenes Talent in die Quere, denn aufgrund der wiederhergestellten Bandharmonie bei Depeche Mode musste er wieder in Studios und Konzerthallen, wo selbst Fletcher keine Zeit mehr für Labelarbeit aufbrachte. 2003 hielt er auf der Kölner Musikmesse Popkomm eine anekdotenreiche und mit trockenem Humor gespickte Rede über seine Erfahrungen nach 22 Jahren Musikbusiness und danach wusste man, von welchem Bandmitglied man einmal eine Autobiografie lesen wollte. Dazu ist es leider nicht mehr gekommen.

Fletcher lebte als einziges Depeche Mode-Mitglied noch in London, mit seiner Jugendliebe Grainne und zwei Kindern, trank als letzter noch Alkohol und schien sein eskapadenfreies Leben vollständig und bei bester Gesundheit zu genießen. Auch deshalb erschütterte die Nachricht seines Todes Kolleg*innen und Fans gleichermaßen. Die Associated Press will erfahren haben, dass der 60-Jährige eines natürlichen Todes gestorben ist. 2018 wurde Fletcher nach dem besten Moment seiner Karriere gefragt und antwortete: "Schwer zu sagen. Ich könnte jetzt das Rose Bowl-Konzert nennen, aber eigentlich ist es am unglaublichsten, dass ich nach 37 Jahren hier in diesem Interview sitze."

Fotos

Depeche Mode

Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm) Depeche Mode,  | © laut.de (Fotograf: Björn Buddenbohm)

Weiterlesen

laut.de-Interview Andy Fletcher

Anders als seine Kollegen Martin Gore und Dave Gahan steht der bekennende Nicht-Musiker Fletcher selten im Rampenlicht. Auf der Kölner Popkomm sah das mal anders aus: Der Depeche Mode-Keyboarder und Jung-Labelchef hielt eine Rede zum Thema "A Lifetime In Music".

laut.de-Porträt Depeche Mode

"To go from nothing to that in seven years was amazing". Bis heute denkt Labelboss Daniel Miller gerne an den Tag zurück, an dem Depeche Mode, die er …

7 Kommentare