11. März 2021

"Das Album handelt von Isolation"

Interview geführt von

Im Zoom-Interview spricht die US- Musikerin über zwei Jahre in Isolation, ihre Ungeduld und mögliche Boygenius-Songs.

Natürlich bin ich nicht der erste, dem Julien Baker Rede und Antwort steht. Schon ihr Debütalbum "Sprained Ankle" fand großen Anklang in der Fachpresse, folgerichtig ist die Musikerin seit 2016 gerngesehener Interview-Gast. Auch jetzt, in diesem seltsamen Winter 2021, hat sie sich schon perfekt an Zoom-Interviews angepasst. Mit ihren gigantischen Overear-Kopfhörern und dem Mikrofon-Arm sieht sie aus, als würde sie nachher noch einen Podcast moderieren. Aber davor hat sie noch 20 Minuten Zeit, mir ein paar Fragen zu beantworten ...

Hi Julien, wie geht es dir?

Mit geht es gut, danke. Wie geht's dir?

Danke, mir geht es auch ganz gut, glaube ich. Ich bin nur ein kleines bisschen nervös.

Da fühle ich mich geschmeichelt, aber das brauchst du wirklich nicht zu sein!

Ich probiere es. Wie waren denn die letzten Tage nach dem Release von "Little Oblivions" für dich?

Es war ziemlich erleichternd. Einfach nur das gesamte Album in die Welt gebracht und die allermeisten Interviews erledigt zu haben. Insgesamt wird gerade alles wieder ein bisschen langsamer. Es fühlt sich einfach so an, als sei mir eine Last von den Schultern gefallen.

Wie war die Erfahrung, ein Album unter diesen "ungewöhnlichen" Umständen zu veröffentlichen?

Es war (überlegt) schwierig. Es ist einfach nervig, all diese Vorfreude, oder besser gesagt Intensität, zu haben und alles läuft nur über virtuelle Kanäle. Die ganze Arbeit um ein Album herum, Interviews, Live-Shows, alles findet in virtuellen Räumen statt und wenn ich damit fertig bin, gehe ich einfach nach Hause. Auch wenn ich noch nie so lange nicht auf Tour war, ist es für mich immer noch nicht normal. Ich bin nicht gewöhnt, auf diese Art ein Album zu promoten. Es fühlt sich sehr steril an, meine Möglichkeiten zur Interaktion mit Anderen und Fans ist einfach sehr eingeschränkt, ich bekomme die Reaktionen auf das Album kaum mit. Das ist definitiv schwierig, aber hey, so ist alles andere gerade auch ...

Hat die Unmöglichkeit, Liveshows zu spielen und Songs vor dem Release während Liveshows weiterzuentwickeln, die Songs stark beeinflusst?

Nun, das Album war bei Beginn der Pandemie schon in den letzten Schritten von Mixing und Mastering. Das Gefühl um das Album herum hat sich geändert, seit ich weiß, dass ich das Album in diese Welt veröffentliche. Es hat sich anders angefühlt, als ich mit den Aufnahmen fertig war. Ich hatte ja schon 2019 eine Pause eingelegt, und als Konsequenz habe ich mehr als jemals zuvor an einem Album gearbeitet. Ich hatte den Raum sehr sorgfältig zu arbeiten und mehr zu experimentieren. Das war unglaublich aufschlussreich, im Hinblick auf das Endergebnis, wie sich die Songs entwickelt haben. Sie fühlen sich jetzt anders an. Als ich das Album fertiggestellt hatte, haben sie sich unmittelbar und etwas wütend angefühlt. Jetzt klingen sie für mich eher traurig, denn das Album handelt von Isolation und erscheint jetzt in einer isolierten Welt.

Wusstest du etwas, das wir nicht wussten?

(Lacht) Nein. Aber es war bizarr. Ich hatte schon das Jahr vor 2020 isoliert in meinem kleinen Mikrokosmos aus Freund*innen verbracht, mich von Menschen zurückgezogen. Dann, als ich das Gefühl hatte, wieder an einem gesünderen, stabileren Ort zu sein, wieder Beziehungen aufbauen und auf Tour gehen wollte, schloss sich die Welt. Daraus ergab sich dann ein weiteres Jahr in Isolation mit noch mehr Veränderungen, und als Konsequenz musste ich noch mehr über das Album nachdenken. Was hätte ich sonst machen sollen? Ich glaube aber, dass mir diese Zeit für mich selbst gutgetan hat. Ich bin zugegebenermaßen eine sehr ungeduldige Person, auch mit meiner Musik. Ich nehme einen Song auf und möchte ihn sofort veröffentlichen, um diese Intensität des Moments einzufangen. Für beinahe zwei Jahre jetzt auf diesen Songs zu sitzen, hat die Wege, wie ich über sie rede, verändert. Dafür bin ich wirklich dankbar, denn es ist ein schwieriges Album, um drüber zu reden.

"Ich konnte wieder meine kindliche Obsession für Musik ausleben"

Ich habe auch in einem deiner Interviews gelesen, dass du dich auf YouTube gestürzt hast, um neue Produktionstechniken zu lernen. Während die meisten von uns auf YouTube nach Ablenkung vom Home Office gesucht haben, hast du sogar dort noch produktiv gearbeitet.

Das ist ein bisschen seltsam. Ich habe generell Probleme mit dem Konzept der "Produktiven Zeit". Mein Job ist eigentlich, Musikerin zu sein. Ich denke immer wieder an Freund*innen, die Bauarbeiter*innen oder Pfleger*innen sind. Ich denke immer, die können jeden Tag sehen, was sie in ihrem Job geleistet haben. Bei mir ist das anders. Ich promote monatelang mein Album und weiß dann trotzdem nicht, welchen quantifizierbaren Einfluss das auf die Welt um mich herum hat. Während ich jetzt die ganze Zeit zuhause und nicht auf Tour war, sind auch ganz viele unmittelbare Aufgaben weggefallen. Equipment aufbauen, Show spielen, Equipment abbauen, Weiterfahren, das ist alles weggefallen. Stattdessen ist Musik für mich wieder eine Ablenkung geworden, falls das Sinn ergibt. Ich übe immer noch obsessiv meine Songs, habe aber auch die Zeit, fünf Stunden lang mit der Akustikgitarre zu experimentieren. Ok, dafür bin ich zu ungeduldig. Aber ich kann diese Fähigkeiten pflegen, weil ich nicht mehr das Gefühl habe, dass ich immer etwas Besseres oder Produktiveres machen könnte. Sounds interessieren mich wahnsinnig und ich kann wieder meine kindliche Obsession für Musik ausleben, ohne dabei ständig an meinen Job zu denken.

Ich finde, man merkt dem Album diese Experimente an. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass die akustischen Landschaften und das Album insgesamt deutlich unordentlicher und ausufernder klingen. Hattest du einen Heureka-Moment von wegen "Ich mache ein viel komplexeres Album" oder war der Prozess organisch?

Ich denke schon, dass es ein organischer Prozess war. Ich habe, oh Gott, das ist schon zwei Jahre her, circa 20 Songs in einem Rutsch aufgenommen. Normalerweise schreibe ich einen Song, nehme ihn auf und so klingt der Song dann. Dieses Mal konnten wir nur eine Handvoll dieser Songs nehmen oder an einem Song arbeiten, während ich über ein Jahr verteilt schrieb. Dadurch konnten wir herausfinden, was ein spezifischer Song braucht und wie wir diesen einen Song wirklich zur Erfüllung bringen konnten. Das wirkt etwas seltsam, weil das Album nicht thematisch organisiert ist oder so unorganisiert ist, wie ich es mir selbst vorstelle. Aber ich denke über das Album mehr als Ansammlung von Songs nach, die für sich selbst existieren und für sich selbst entwickelt wurden. Es gab keine Schlagzeug-Woche, in der wir alle Schlagzeug-Parts aufgenommen haben und dann Gitarren-Parts und dann Vocals und so weiter. Stattdessen haben wir jeden Song als individuellen Prozess aufgenommen und nicht von vorneherein beschlossen, wie das Album klingen würde. Dadurch konnten Calvin (Lauber, Anm.d.Red.), der mit mir an dem Album gearbeitet hat, und ich einfach Sounds aufnehmen, die gut klangen. Ohne sie gleich zu kategorisieren oder auf ein Genre festzunageln. So unter dem Motto 'Wir nehmen jetzt ein Folk-Album auf und deshalb klingen die Gitarren jetzt so, oder wir machen jetzt ein Pop-Album und deshalb klingt das Schlagzeug jetzt so, oder ein Rock-Album'. Ich denke, dass diese Prozess, jeden Song einzeln aufzunehmen, mir sehr geholfen hat, mich nicht auf ein Genre festzulegen und dann von diesem eingeengt zu werden.

"Alle meine Überzeugungen haben sich geändert"

Aber trotzdem habe ich das Gefühl, dass der Inhalt des Albums und seine Form unzertrennbar verbunden sind. Es klingt nämlich nicht nur komplexer, es fühlt sich auch nach einem emotional komplexeren, unordentlicheren Album an.

Da gebe ich dir total Recht. Es ist auf eine Art ein Zirkelschluss. Mein emotionaler Zustand, während ich die Songs geschrieben haben, änderte sich so häufig, und all meine Überzeugungen auch. Meine Überzeugungen bezüglich der Welt, aber auch spezifisch meine Perspektive auf Musik, meinen Platz in der Musik und die Rolle von Musik als mein Job. All diese Dinge änderten sich zur vielleicht richtigen Zeit, damit ich dieses Album so aufnehmen konnte. Ich habe oft versucht, die bestmögliche Musikerin zu sein, wusste aber nicht, was das bedeutet. Ich wusste auch nicht, was es bedeutet, in meinen eigenen Lieder Erfüllung zu finden, abseits meiner Identität als Performerin.

In Verbindung mit dieser emotionalen Komplexität kam mir auch deine Perspektive als Songwriterin verändert vor. Auf "Sprained Ankle" und "Turn Out The Lights" schienst du von vergangenen Erfahrungen zu singen, von denen du etwas Abstand gewonnen hast. "Little Oblivions" fühlt sich mehr an, als würdest du alles genau jetzt erleben. Hat es sich verletzlicher angefühlt, diese Songs aufzunehmen.

Um ehrlich zu sein, schien es mir nicht so verletzlich, die Songs zu veröffentlichen. Ich tendiere dazu, Songs als Übung zu nutzen, um meine eigenen Gedanken und Gefühle zu erforschen. Gleichzeitig fühlte ich mich verletzlich, etwas zu veröffentlichen, das eine wirklich dunkle Zeit in meinem Leben dokumentiert, die so nah an der Gegenwart ist. Ich frage mich manchmal, inwiefern das Chaos des Albumsounds und die Offenheit der Lyrics mit meiner Distanzierung von mir selbst als Musikerin verbunden sind. Dass ich dadurch offener war, diese Dinge zu erzählen, auch aus meinem Privatleben. Gleichzeitig habe ich mich Sounds geöffnet, die nicht im traditionellen Sinne schön klingen, sondern experimentell, aggressiv und dissonant sind.

Zum Abschluss des Interviews muss ich dich noch nach Boygenius (Baker formt die Band Boygenius gemeinsam mit Phoebe Bridgers und Lucy Dacus) fragen. Gibt es da schon Zukunftspläne?

Naja, wir werden auf jeden Fall wieder zusammen Musik schreiben und aufnehmen. Wir sind alle immer noch enge Freundinnen und haben da große Lust drauf. Letztes Jahr haben wir alle an unseren individuellen Projekten gearbeitet, und durch die Pandemie ist es deutlich schwer, gemeinsam an Musik zu arbeiten. Es gibt also keine konkreten Pläne, nächstes Jahr an einem Album zu arbeiten, aber es wird irgendwann neue Boygenius-Musik geben. Ich weiß, dass das keine zufriedenstellende Antwort ist ...

Damit hatte ich auch schon gerechnet. Trotzdem hatte ich eine klitzekleine Hoffnung auf einen Knüller. Vielen Dank für deine Zeit, es war mir eine gigantische Freude mit dir zu reden.

Danke an dich!

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