25. Oktober 2022

"Mir tun die leid, die Angst vor der Zukunft haben"

Interview geführt von

Für die Präsentation seines neuen Albums "Oxymore" in Berlin lud Jean-Michel Jarre nicht etwa in eine renommierte Musikvenue — sondern in einen Kinosaal einer großen Kinokette. Das hatte einen nachvollziehbaren Grund; schließlich wurde "Oxymore" im binauralen 3D-Surround-Sound konzipiert, und da macht eine Präsentation im mit der notwendigen Surroundanlage bestückten Kino durchaus Sinn. Eine Höranweisung gab es vor Ort von Monsieur Jarre höchstpersönlich: Die anwesenden Hörer und Hörerinnen wurden ersucht, die Augen zu schließen — für die bessere Rezeption.

Übrigens lässt sich der binaurale 3D-Sound nicht nur im Kino, sondern auch über ganz normale Kopfhörer genießen — und auch eine reguläre Stereo-Version ist erhältlich.

"Oxymore" ist zweifellos eine Besonderheit im Werk von Jean-Michel Jarre, beinhaltet es doch Soundschnipsel des 2017 verstorbenen Komponisten Pierre Henry. Eine Zusammenarbeit mit Henry — einem Pionier der Musique Concrète — war zwar geplant, leider sollte es dazu aber nicht mehr kommen. Überraschenderweise bekam Jarre aber nach dem Tod Henrys einen Anruf von dessen Witwe, die ihm mitteilte, der Komponist habe ihm Klangfragmente zur freien Verwendung hinterlassen. Dabei handelt es sich um Geräusche und abstrakte Klänge, die Jarre in "Oxymore" einfließen ließ — sparsam, so wie Gewürze beim Kochen, wie Jarre erklärte.

Jarre hat aber noch andere Sachen im Ärmel. Zum Beispiel eine eigene virtuelle Stadt im Metaverse namens "Oxyville". Worum es sich dabei genau handelt, erklärt der französische Elektronik-Pionier — neben anderen Themen — im Interview, für das wir ihn am Tag nach der Listening Session in Berlin treffen.

Jean-Michel Jarre, worin lag für Sie als Komponist und Sounddesigner der Unterschied, mit diesem riesigen, binauralen 3D-Surround-Sound zu komponieren — eben mit Klängen, die aus allen Ecken und Ecken kommen können, anstatt nur aus einer Stereoquelle?

Das war für mich gleichzeitig eine Erleichterung und ein absoluter Gamechanger. Ich war immer an der Beziehung zwischen Musik und Raum interessiert. Selbst als ich "Oxygene” gemacht habe, habe ich versucht, das Gefühl von Raum mit dem Stereoeffekt zu verstärken. Mit der Technologie, die uns heutzutage zur Verfügung steht, kann man damit aufhören, diese Art von Foto-Beziehung zur Musik zu haben. Plötzlich kann man durch den Einsatz der 360-Grad-Technologie Objekte in den Raum rund um einen herum stellen. Das ist so, als würde man von der Malerei zur Bildhauerei übergehen. Es erlaubt einem als Musiker, neue Gebiete zu erforschen und neue Wege der Orchestrierung zu finden, die möglicherweise relevant sind.

In welchem Setting erarbeiten Sie einen solchen Sound?

In puncto Setting ist das eigentlich einfach. Man benötigt eben viele Lautsprecher um sich herum. Nicht zwei, wie normalerweise, sondern in meinem Fall an die 30 Speaker beim Mixing. Mit Dolby Atmos können Sie Grad für Grad alle Geräusche um sich herum platzieren. Ich hatte zunächst etwa sieben Lautsprecher, damit konnte ich schon mit der Idee von diesem Surround-Ergebnis im Kopf komponieren.

Sie meinten, diese Art der Raumgestaltung sei die Zukunft der Musik — und dass künftig auch Punkrock so erklingen wird.

Mit der Funktion eines neuen Raumes zu schreiben, ist ja nicht mit einer speziellen Musik verbunden. Wenn Sie auf einer Leinwand malen, können Sie figurative Gemälde erschaffen, abstrakt malen, Mangas kreieren — was auf die Leinwand kommt, ist ja nicht vom Pinsel abhängig. Genau das gleiche gilt auch für den 360-Grad-Klang.

Mit "Oxyville" haben Sie eine Stadt in der Virtuellen Realität erschaffen — es zieht Sie also ins vieldiskutierte Metaverse. Erklären Sie uns doch, worum es hier genau geht.

Während der COVID-Pandemie habe ich mich mehr und mehr für VR interessiert. Ich begann, mit der Idee zu liebäugeln, meine eigene Umgebung zu erschaffen, in der ich auftreten kann, in der ich neue Bühnenbilder und neue visuelle Ideen erforschen kann — und in der ich vielleicht in Zukunft auch andere Künstler zu Auftritten und Meisterkursen einlade oder vielleicht auch mal Fans treffe. Ich dachte, es wäre ziemlich interessant, diese Art von Musikdorf zu schaffen.

Sie interessieren sich ja nicht erst seit gestern für VR, haben 2021 ein virtuelles Konzert in der Pariser Kathedrale Notre-Dame gespielt.

Ich interessiere mich schon ziemlich lange für Virtual Reality. 2018 arbeitete ich für die Veröffentlichung von "Equinox Infinity" mit zwei interessanten VR-Firmen zusammen. Wir haben damals eine Performance gemacht, bei der die visuelle Performance nicht wirklich mit dem Live-Sound verbunden war. 2019 habe ich ein französisches Start-up getroffen, VRrOOm. Wir haben die erste Live-Performance für den Tag der Musik in Frankreich am 21. Juni 2019 gemacht, für die wir meinen ersten Avatar erstellt haben. Ich habe live von meinem Studio aus im Metaverse gespielt. Dann habe ich diese Idee mit Notre-Dame VR entwickelt — ein viel ehrgeizigeres Projekt, bei dem wir tatsächlich 360 Grad live waren. Etwa 75 Millionen Menschen haben das damals verfolgt, das war erstaunlich. Das zeigt, wie viel Potenzial darin steckt, wenn sich Menschen verbinden wollen — das ist ein sozialer Aspekt in der Virtuellen Realität, über den wir nicht genug sprechen. Menschen, die isoliert sind —aus gesundheitlichen, sozialen oder geografischen Gründen — können zur gleichen Zeit an einem Ereignis teilnehmen.

"Mein erster Synth sah aus wie eine Telefonzelle"

Sie haben einen sehr interessanten Satz über VR gesagt — ich paraphrasiere das mal: Sie meinten, dass wir für die Virtual Reality noch sehr primitive Mittel zur Verfügung haben, aber eben mit dem arbeiten müssen, was da ist. Ich frage Sie mal als "Mann der Zukunft": Hatten Sie bei der Produktion von elektronischer Musik auch dasselbe Gefühl — nämlich, dass sie es mit primitiven Produktionsmitteln zu tun haben?

Eine interessante Frage, obwohl ich mich gar nicht so als Mann der Zukunft sehe. Aber es ist doch so: Wann immer man am Anfang eines Genres steht, das in Zukunft wichtig werden wird, arbeitet man stets mit primitiven Werkzeugen. Das ist schon fast schon ein Oxymoron zu behaupten, dass man die Zukunft nur mit primitiven Werkzeugen erobern kann — weil am Anfang alles primitiv ist. Die erste Violine war primitiv, der erste Synthesizer war primitiv. Mein erster Synth sah aus wie eine Telefonzelle. Heute sind wir noch im dunklen Zeitalter des Metaversums und genau deswegen ist es so interessant. Ich bin überzeugt, dass grobe Limitierungen eine sehr gute Art sind, seine eigene Kreativität anzuspornen. Man steht vor einer Mauer, man muss die Grenzen verschieben. Wenn Sie plötzlich alles an möglicher Technik vor sich hätten, würde Ihnen schwindelig werden und Sie würden sich gewissermaßen verlieren. Wenn Sie nur wenig Möglichkeiten haben, müssen Sie dauernd kreativ sein, um zum Resultat zu kommen, das Ihnen vorschwebt. Das ist eine sehr poetische Situation, die ich interessant finde.

Was ich an Ihrer Karriere spannend finde: Was sie machten, war durchaus cutting-edge, aber sie feierten damit immense kommerzielle Erfolge. Hat Sie das überrascht?

Immer. Ich fühle mich übrigens immer noch wie ein echter Anfänger. Ich stehe nicht auf Nostalgie — und dieses Projekt fühlt sich an wie mein erstes Projekt. Ich habe es mir vor kurzem angehört und wusste gar nicht mehr, wie ich gewisse Teile erstellt habe. Das ist typisch, wenn man neue Wege erkundet. Da gibt es einen Link zwischen"Oxymore" und "Oxygene", der gar nichts mit der Ähnlichkeit der Worte zu tun hat. Als ich mit den Arbeiten an "Oxygene" begonnen habe, gab es keinerlei Druck von einer Plattenfirma. Keiner kannte mich. Keiner machte damals diese Art von Musik — also habe ich einfach erkundet, was ich erkunden wollte. Ohne Bezug zur Vergangenheit, weil es diese nicht gab. Bei "Oxymore" war das ähnlich, als ich die 360-Werkzeuge erkundet habe. Da gab es für mich keine Referenzpunkte. Ich habe mich mit einer fast teenagerhaften Unschuld an die Arbeit gemacht. Für mich macht das "Oxymore" sehr speziell — weil ich weiß, dass ich bei meiner nächsten Arbeit bereits die Referenz von "Oxymore" haben werde. Da Ganze wird dadurch weniger jungfräulich — und somit komplizierter.

Würden Sie sagen, dass diese Neugierde die Grundvoraussetzung für ein Werk wie das Ihre ist?

Ja, absolut. Neugierde ist das wichtigste Werkzeug für Künstler.

Haben Sie manchmal nach dem Schaffensprozess Schwierigkeiten, gewisse Schritte zu rekonstruieren?

Ja und genau das ist die Herausforderung für die Liveshows. Ich musste sogar eigene Werkzeuge erfinden. Ich arbeite mit einer Firma zusammen, die sehr interessante Touchscreens entwickelt, die man etwa in einen Desk, in Perkussionssioninstrument oder Keyboard umwandeln kann. Ich arbeite mit vielen Samples — und mit dem Tool kann ich die Samples live bearbeiten. Ich musste für "Oxymore" sogar meine eigenen Bühneninterfaces entwickeln. Ich lerne immer dazu und experimentiere gerade viel.

Für "Oxymore" haben Sie Klang-Versatzstücke des Komponisten und Elektronikpioniers Pierre Henry verwendet, die er Ihnen hinterließ. War das für Sie als ehemaliger Student der Musique Concrète eine Art Nachhausekommen — oder vielleicht besser formuliert, ein Kreis, der sich schloss?

Es war ein absolutes Privileg, seine Klänge verwenden zu dürfen. Ich bemerkte, wie modern und avantgardistisch sein Werk auch heute noch ist. Normalerweise ist Avantgarde ja etwas, das schnell zur Klassik wird. Was vor 30, 40 Jahren noch als Avantgarde galt, wird heute ganz anders gesehen. Im Fall von Pierre Henry und Pierre Schaeffer ist das anders. Sie hatten einen ganz wesentlichen Einfluss darauf, wie wir heute Musik machen. Sie vermengten den Klang der Straße mit Percussions, Vogelgesang mit Chören. Das war ein "naughty boy"-Zugang zur Musik. Sie brachen mit Dogmen. Egal, ob wir Hip Hop machen, Rock oder Techno: Wir sind alle die Kinder oder Enkel dieser beiden Herren.

"Wichtig ist, die Gegenwart zu akzeptieren"

Dass Sie das Album in Berlin vorstellen, passt eigentlich gut — denn eine gewisse Hommage an den Technoklang dieser Stadt ist auf "Oxymore" an manchen Stellen durchaus zu hören, oder irre mich da?

Da besteht für mich sogar eine große Verbindung. Zunächst einmal wissen wir als Deutsche und Franzosen, dass die elektronische und elektroakustische Musik aus unseren Ländern kommt. Sie hat nichts mit den USA zu tun, sie hat nichts mit Pop-Rock, Jazz oder Blues zu tun. Es ist etwas, das aus dem Erbe der klassischen Musik stammt. In dieser Geschichte der Computermusik, der europäischen Elektronik, ist Techno wesentlich. Es gibt eine Verbindung zu dieser Art von Rohheit, diesem Brutalismus, den man in der Musique Concrète hören kann, ebenso wie im frühen Techno. Mein Track "Brutalism" ist eine Hommage an die Anfänge des Techno, verbunden mit dem Fall der Berliner Mauer.

Ich habe Sie vorhin als "Mann der Zukunft" bezeichnet, woraufhin Sie erwiderten, dass Sie sich selbst gar nicht so sehen würden. Darauf würde ich nochmal gerne zu sprechen kommen.

Wissen Sie, es ist eher so: Mir tun diejenigen leid, die Angst vor der Zukunft haben. Das ist zwar in der menschlichen DNA verhaftet — dieser Gedanke, dass gestern alles besser war und dass morgen alles schlechter wird. Aber das ist natürlich falsch. Was für mich als Künstler viel wichtiger ist, ist, die Gegenwart zu akzeptieren. Ich will nicht zu philosophisch werden, aber die Gegenwart zu akzeptieren bedeutet auch, die Zukunft willkommen zu heißen. Als Künstler ist das eine tolle Möglichkeit, wie ein Schwamm alles aufzusaugen und die Gelegenheit wahrzunehmen, etwas Neues zu erschaffen. Ich bin nicht von der Zukunft besessen, aber ich interessiere mich einfach nicht für Nostalgie.

Damit müssen Sie als einer der Pioniere der jüngeren elektronischen Musik wohl leben: dass man Ihnen eben immer einen gewissen Hang zur Zukunft unterstellt

Ich möchte mich wirklich nicht mit den Künstlern vergleichen, die ich jetzt nennen werde — aber Picasso oder Miles Davis waren natürlich immer offen für die Zukunft. Aber ich glaube, sie haben einfach nie darüber nachgedacht. Sie taten einfach, was ihnen richtig vorkam. Ich habe vor kurzem ein Interview mit Björk gehört, in dem sie meinte, dass ihr beim Erschaffen ihrer Musik nie im Kopf rumschwirrt, ob das jetzt 30 oder 30 Millionen Menschen hören werden. Sie macht einfach das, was sie gerade fühlt, und ich glaube, das ist ein sehr gesunder Zugang. Man experimentiert einfach — und manchmal greift man auch daneben. Und wenn man dann sieht, dass der Weg nirgendwo hinführt, dann geht man eben in eine andere Richtung!

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1 Kommentar mit 3 Antworten

  • Vor einem Jahr

    So sehr ich JMJ für einige seiner Werke schätze, so war und ist er auch immer ein Laberkopp und hat so manches mal tief ins Techno-Klo gegriffen (Fairlight, Avatar-Quark als "Live"-Auftritt).

    Von auf Glasfächen projizierten Touch-UIs Samples abspielen ist vielleicht optisch ganz nett, aber musikalisch so sinnvoll wie die ähnlich bekloppte Laser-Harfe.

    "Ich stehe nicht auf Nostalgie"? Oxygen in your Living Room war nix anderes und leider geil.

    • Vor einem Jahr

      Um den musikalischen Aspekt ging es bei der Laserharfe ja auch nie wirklich.

    • Vor einem Jahr

      @nils:
      Nun ja, daß er manchmal ins Klo gegriffen hat, würde ich unterschreiben, andererseits hat es ihm auch nie wirklich viel ausgemacht, eine eingeschlagene und teilweise von ihm überschwänglich gelobhudelte Route wieder zu verlassen und sich anderen, zum Teil drastisch anderen Ideen zu widmen. Verbuche ich mal unter "spricht für ihn". Ich hab' auch keine Probleme damit, daß er sich für oft innovative Ideen und Klänge begeistern kann, auch wenn einiges davon eher akustische Perlen vor die Säue sind.

      "Oxygene In Your Living Room" habe ich nicht als nostalgisch begriffen, sondern eigentlich eher als komplett anderen Ansatz. Der kleinen Jean Michel hat sich irgendwann einen Haufen teilweise fabrikneuer Synthis in die Wohnung gestellt, daran so lange rumgedreht und -geregelt, bis Klänge rauskamen, die ihm gefallen haben, dann hat er daraus im Alleingang im Overdub-Verfahren "Oxygene" zusammengeschraubt, wohl wissend, daß er nicht imstande sein müßte, diese Sachen vor Publikum zu reproduzieren. Der erwachsene Monsieur Jarre, einer von denjenigen, die direkt und indirekt 30 Jahre lang die Entwicklung von elektronischen Instrumenten vor sich hergetrieben hat, begibt sich mit drei weiteren Musikern aus seiner Komfortzone zurück ins Studio und auf die Bühne und nutzt mit seinem Know-How die alten, teils primitiv wirkenden Instrumente, um das Stück live darzubieten. Ich meine, rein vom musikalischen Mehrwert ist das neue Album eher für die Tonne, aber die Voraussetzungen und der Entstehungsprozess '06 könnten sich nicht deutlicher unterscheiden von denen anno '76 und hatten daher eigentlich nichts Nostalgisches.
      Gruß
      Skywise

    • Vor einem Jahr

      @skywise Das mit Oxygen kann man sicherlich so sehen, vielleicht war es auch eher eine für mich nostalgisch angehauchte Aktion. Leider habe ich damals keins der Konzerte besuchen können. Die alten Gerätschaften mit auf Tour zu nehmen, das fand ich schon sehr beeindruckend.