20. Januar 2001

"In die Irrenanstalt durfte ich nicht"

Interview geführt von

Wie lief die Tour bis jetzt?

Kristian Draude: Also, wir haben ja bereits im Frühjahr eine Tour gespielt und im Sommer einige Festivals. Jetzt sind wir seit Anfang September allein unterwegs und haben mit ein, zwei Ausnahmen nur in gefüllten Clubs gespielt. Ein paar Ausnahmen gibt es halt immer, wenn z.B. Pur in der Stadthalle spielt oder so. (lacht) Nein, aber man merkt, dass in Städten, in denen wir schon mal waren wie München, Hamburg oder auch Hannover, die Clubs schon brechend voll sind, was ziemlich geil ist.

Ist die Resonanz denn in großen Städten wie Hamburg größer als in kleinen Städten?

Pascal Finkenauer: Von der Resonanz der Leute ist es eigentlich überall gleich gut, ob zehn, hundert oder fünfhundert Leute da sind. Aber natürlich sind wir heute auch gespannt, weil wir in Konstanz noch nie gespielt haben.

Aus dem Gästebuch eurer Homepage konnte man heraus lesen, dass ihr alle dem neuem Placebo-Album entgegen fiebert. Stimmt das?

Pascal Finkenauer: Ob wir Placebo gut finden?

Ja, ich wollte nach euren Vorlieben fragen. Einer wünscht euch in eurem Gästebuch ja auch als Vorgruppe von Depeche Mode.

Sebastian Steffens: Uns hat neulich einer auf einem Konzert auch gesagt, dass es das geilste wäre, wenn wir als Vorgruppe von Depeche Mode spielen würden. Aber natürlich wäre es um einiges geiler, wenn die vor uns spielen würden.

Kristian Draude: Die Plattenfirma meinte, es kommt nur darauf an, wie sich das in nächster Zeit entwickelt. (lacht) Nein, das ist ja utopisch, aber es gibt eine Menge Bands, vor denen wir gerne spielen würden.

Sebastian Steffens: Placebo ist auch etwas, was wir uns wünschen. Das haben wir schon immer gesagt. Es gibt einfach Gruppen, bei den es mit der Attitüde passt.

Könnt ihr irgendwelche musikalischen Einflüsse nennen? Eure Musik spielt auf einer sehr melancholischen Ebene.

Pascal Finkenauer: Die Einflüsse kommen bei uns ja nicht nur aus der Musik. Wir mögen alle Filme, Malerei und Fotographie sehr gerne. Ich glaube, dass diese Einflüsse auch immer in die Musik mit einfließen und wir versuchen, das auch so intensiv wie möglich beizubehalten. Musikalisch kommen wir alle drei aus verschiedenen Ecken und ich denke, deswegen ist unsere Musik auch so unterschiedlich.

Sebastian, du nennst dich JF Sebastian, was mich auf den Film "Blade Runner" gebracht hat, in dem dies der Name eines Replikanten ist. Was gefällt dir an dem Film?

Sebastian Steffens: Zunächst mal die grundsätzliche Attitüde. Die Attitüde ist, gerade im Directors Cut, auf der einen Seite sehr deprimierend, auf der anderen Seite aber auch faszinierend. Dieses "Ohne Ausweg" finde ich bei "Blade Runner" sehr gelungen. Auch die kleinen Tricks und Symbole, mit denen dargestellt wird was eigentlich hinter dem "Blade Runner" steckt, haben mich schon sehr beeindruckt.

Wie oft hast du den Film gesehen?

Sebastian Steffens: Keine Ahnung. Zuerst habe ich den Kinofilm gesehen, danach habe ich mir den Directors Cut geholt und später noch den Kinoschnitt in Englisch. Jetzt habe ich ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, weil ich ihn irgendwie verloren oder verliehen und ihn nicht zurückbekommen habe. Ich würde ihn mir aber jetzt gerne auf DVD holen, dann hätte ich alles auf einmal.

Die Farbe blau hat anscheinend eine große Bedeutung für euch. Warum?

Sebastian Steffens: Mehr in Verbindung mit dem Wasser, was ja auch mit dem Namen zusammenhängt. Das ganze Album spielt mit der Metapher, der Oberfläche und der Unterfläche des Ozeans. Im Sinne von Bewusstsein und Unterbewusstsein. Wenn wir Menschen kennen lernen, ist es wie wenn man am Strand steht und auf die Oberfläche des Meeres schaut. Würde man eintauchen, gäbe es wahnsinnig viele Sachen zu entdecken, von der die Oberfläche vielleicht selber noch nichts weiß. Das ist der Versuch des Eintauchens, wenn wir kreativ sind.

Ihr arbeitet sehr viel mit Bildern, gibt es dafür einen bestimmten Grund?

Pascal Finkenauer: Das ist meine Art. Mich haben schon öfters Leute gefragt, wie ich Texte schreibe, und das ist immer eine Frage, die unheimlich schwer zu erklären ist. Ich bin irgendwann zu dem Entschluss gekommen, dass es ähnlich wie das Träumen ist, wie Träume im Wachzustand. Ich versuche ein Problem, das ich habe, oder eine Sache, die mich beschäftigt, auf den ursprünglichsten Kern zu reduzieren und zu verallgemeinern.

Ich glaube, dass sich alle Persönlichkeiten auf einer allgemeinen Basis aufbauen, und wenn man anfängt, bewusst zu erleben, baut sich Schicht für Schicht die Persönlichkeit auf dieser Basis auf. Das macht den Menschen einzigartig und sollte jeden auch stolz machen. Aber ich habe keine Lust, den Menschen nur mein eigenes Ego aufzudrücken, ich versuche deshalb, die Information die habe, auf den allgemeinen Kern zu reduzieren.

Ist denn alles autobiographisch was Du schreibst?

Pascal Finkenauer: Es ist alles autobiographisch, außer "Speech Of The Defence". Doch wenn ich über etwas anderes schreibe, muss trotzdem eine Identifikation da sein, die ich emotional nachempfinden kann.

Ihr meintet vorhin, ihr wärt eher auf einem melancholischen Level. Seid ihr auch in der Lage, Partysongs zu machen?

Pascal Finkenauer: Im Grunde sind alles Partysongs. Dieses Melancholische, das in unseren Liedern raus zu hören ist, hat nichts mit Weltschmerz zu tun. Es ist schon so gedacht, dass unsere Konzerte ein Fest sein sollen, auch wenn alles sehr dramatisch und mit Pathos belastet ist.

Ladet ihr euren Songs nicht auch eine Schwere auf, die euch ein wenig eingrenzt?

Sebastian Steffens: Insofern nicht, da die Songs ja fertig sind, bevor es die Texte gibt. Ich denke der Text und die Musik sind einfach zwei Teile, die zusammengefügt werden, sich aber dabei nicht begrenzen.

Pascal Finkenauer: Erst mal geht es um die Musik. Bei uns ist es grundsätzlich so, dass erst mal der Song steht. Es gib zwar auch schon mal fertige Texte oder Gedichte, aber wenn ein Song fertig ist, singe ich dazu, ohne Worte zu benutzen. Da es primär um die Musik geht, und ich diese nicht durch die Worte einengen möchte, die noch nicht da sind. Danach versuche ich, die Fragmente, die ich habe, neu zusammen- und auf die Melodie draufzusetzen, weil es wie gesagt primär um die Musik geht. Mir ist Texte schreiben schon sehr wichtig, aber ich denke, für den Hörer geht es zuerst um die Musik, sonst könnte ich auch Bücher schreiben.

Aber viele Hörer nähern sich euch sicherlich auch über die Texte an und können sich darüber mit euch identifizieren.

Pascal Finkenauer : Was auch um so schöner und selten ist heutzutage. Wir haben festgestellt, dass es viele Leute gibt, die auf Texte achten und sich Mühe geben, diese zu verstehen. Das hat uns sehr gefreut, da wir dachten, dass es weniger wären.

Ihr habt relativ viele Interludes auf eurem Album, wolltet ihr damit eine Spannungssteigerung schaffen?

Kristian Draude: Es soll eigentlich gar nicht spannungssteigernd sein. Die Interludes sind eigentlich dazu gedacht, Spannung abzubauen, um mal Luft zu holen. Nach Up-Tempo-Songs oder vor "Window" sind sie dafür gedacht, wieder runterzukommen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Pascal Finkenauer :Wir haben sehr lange an der Platte gearbeitet, es waren knapp sieben Monate insgesamt. Dabei sind so viele Sachen entstanden und danach haben wir das Puzzle eben zusammengesetzt.

Kommt man nach sieben Monaten nicht an einen Punkt, an dem man denkt, 'so das war es jetzt, es ist genug'. Oder seid ihr Perfektionisten, die immer noch etwas verbessern wollen?

Pascal Finkenauer: Also, mit der fertigen Platte sind wir eigentlich alle zufrieden. Wenn ich mir die Platte anhöre, erkenne ich wenige Stellen, bei denen ich denken würde, dass wir da noch mal ran müssten. Und da, wo wir etwas anders gemacht hätten, haben wir es live umgesetzt.

Kristian Draude: Wobei ich mich daran erinnern kann, dass wir, als wir mit den Aufnahmen fertig waren, noch eine ganze Menge geändert haben. Aber man muss auch irgendwann sagen, dass Schluss ist.

Hat die Plattenfirma irgendwann mal gesagt, dass Schluss ist?

Sebastian Steffens: Die Plattenfirma meinte nur, dass es zu schlecht ist und dass es noch besser werden muss. (lacht) Nein Quatsch, wir hatten wirklich große Freiheiten. Als wir sagten, so und so wollen wir das haben, war es dann gut. Wir haben eigentlich jeden Song, den wir geschrieben hatten, auch auf die Platte gebracht. Wir machen nicht 30 Songs und suchen später zwölf aus, sondern haben nur zwei Stücke nicht auf die LP gebracht. Aber ich denke, dass die auf das nächste Album kommen oder woanders auftauchen.

Aber einige Songs sind auch schon älter als zwei Jahre, oder?

Sebastian Steffens: Das ganze Album ist ja schon zwei Jahre alt, die Songs sind in drei Jahren entstanden. Das ist zwar eine ganz schön lange Zeit, aber ich kann die Sachen immer noch hören. Ich glaube, das liegt daran, dass wir nur wenige Songs geschrieben haben und diese aber auch wirklich warm, intim und persönlich sind.

Bei dem Tiefgang und Anspruch an eure Musik, mutet es mir ein wenig komisch an, dass ihr auf einem Label wie Edel gemeinsam mit Blümchen seid.

Pascal Finkenauer: Das ist auch komisch. Wir waren zuerst bei Mega Records und die wurden von Edel aufgekauft. Dazu muss ich sagen, der Vorteil auf einem Label wie Edel zu sein, das ja nicht viele Bands wie uns hat, erleichtert die Kommunikation mit der Plattenfirma ungemein. Da sie nicht viele Bands aus unserer Richtung haben, haben wir ein sehr gutes Verhältnis zu den Edel-Leuten und auch sehr viele Freiheiten. Zum anderen glaube ich auch, dass solche Leute wie Blümchen oder Scooter auch eine Daseinsberechtigung haben, ich muss es mir ja nicht anhören. Die können auch verdammt cool sein, aber das ist halt Geschmackssache. Aber es stimmt schon, dass wir musikalisch eher die Außenseiter auf Edel sind.

Sebastian Steffens: Was im Grunde ein ziemliches Lob von der Plattenfirma an uns ist. Der Anspruch, den wir an uns selbst haben, sehen vielleicht auch andere in uns.

Pascal Finkenauer: Vielleicht muss man es auch gerade Edel hoch anrechnen, die ja eigentlich nur auf einem sehr kommerziellen Sektor arbeiten, eine Band wie uns zu signen, obwohl sie wussten, dass wir nicht auf Anhieb in die Top 100 gehen.

Wie kam der Kontakt mit Produzent Peter Hoffman zustande?

Pascal Finkenauer: Ich habe mal ein zweiwöchiges Praktikum bei ihm gemacht. Das war meine erste Anlaufstelle nach der Schule.

Ist er nicht auch der Produzent der Ärzte?

Pascal Finkenauer: Nee, aber Falco, Roh, Marianne Rosenberg und Oli P. (allgemeines Gelächter)
Das ist schon sehr übergreifend.

Pascal, war dein Praktikum in Hamburg?

Pascal Finkenauer: Nein, das war in Lüneburg und ich habe da einfach ein bisschen geholfen. Eigentlich wollte ich damals ja in die Irrenanstalt, doch da haben sie mich nicht reingelassen. Das war den Lehrern zu hart, die wollten das nicht und dann habe ich mich für die Musik entschieden. Im Grunde ist es aber auf das Gleiche rausgekommen.

Wir danken für das Interview.

Das Interview führten Alexander Cordas und Michael Schuh

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