25. April 2013

"Kendrick Lamar hör ich rauf und runter"

Interview geführt von

1999 importierte Tilmann Otto die jamaikanischen Grooves nach Deutschland und heimste seither zahlreiche Gold- und Platinschallplatten ein. Schon bald sorgte der zunächst sehr roots-lastige Reggaesound des Kölners auch international für Begeisterung. An seinem 39. Geburtstag veröffentlicht Gentleman nun sein sechstes Studioalbum "New Day Dawn".Für den ersten von drei Promotagen weilt Gentleman irgendwo in Kreuzberg, die Distanz Berlin-Bodensee überbrücken wir mal wieder per Mobilfunk. Im Interview spricht der Chartstürmer über notwendige Selbstzweifel, seine neue Rolle als Produzent und Komponist, die Arbeit mit Bob Marley-Mischer Errol Brown und den 'Arabischen Winter'.

In einem älteren laut.de-Interview hast du darüber gesprochen, wie dir vor "Another Intensity" zunächst die Inspiration fehlte und dass du immer wieder derartige Phasen durchlebst. Wie ging es dir in der Hinsicht vor der neuen Platte?

Ich habe wieder so eine Phase durchlebt. Was halt ganz wichtig ist, was auch schützt und weiterhilft, sind Zweifel. Zweifel sind ein ganz notwendiger Bestandteil. Und in der richtigen Dosierung sind sie auch antreibend. Dann gibt es aber auch immer wieder Momente, die dich motivieren, die dich wieder an dich glauben lassen.

Keine Inspiration zu haben, dieses Wort Schreibblockade, ist eigentlich nicht möglich. Denn du hast durch die Musik immer die Möglichkeit, dich auszudrücken. Selbst wenn du dich gerade mal leer fühlst. Dann kannst du ja auch einen Song darüber schreiben, dass du keine Inspiration hast. Es ist auch immer die Frage, wie hart du mit dir selber bist. Das kommt auch immer auf die Erfahrung an.

Ich entwickle mich weiter. Und bei "New Day Dawn" hatte ich schon das Gefühl, mich ausdrücken zu können. Ich hatte auch genug Stoff, den ich irgendwie musikalisch manifestieren wollte. Zum einen auf persönlicher Ebene, da ist einfach viel passiert. Musikalisch gesehen auch, ich habe mein Home-Recording-Studio in ein professionelles umgewandelt. So hatte ich die Möglichkeit, die Musik komplett bei mir zuhause auszuproduzieren.

Irgendwie habe ich insgesamt ganz anders gearbeitet. Ich habe bei keinem Album zuvor musikalisch mitgewirkt. "New Day Dawn" habe ich jetzt gemeinsam mit Ben Bazzazian, der bereits "It No Pretty" gemacht hat, und Giuseppe Coppola, dem Drummer meiner Band, produziert. Früher habe ich ganz viel auf fertig produzierte Musik geschrieben. Das ist der entscheidende Fortschritt.

Gleich auf den ersten Blick fällt auf, dass du diesmal komplett ohne Features auskommst. Gab es im Laufe der Produktion einen bestimmten Punkt, an dem du dich dafür entschieden hast?

Nicht wirklich, ich hatte bis zum Schluss den ein oder anderen Song, bei dem ich dachte, da könnte vielleicht noch jemand drauf. Dann hat aber irgendwann jemand gemeint, ich solle mal eins ohne Features machen. Ich weiß gar nicht mehr, wer das war. Den Gedanken fand ich schon immer cool. Wenn ich das Gefühl gehabt hätte, manche Songs bräuchten das noch, hätte ich es schon gemacht. Aber es war nicht so. Ich hatte irgendwann 13 Songs aufgenommen, die waren in sich geschlossen und ich konnte sie auch durchhören. Dieses Mal brauchte es das einfach nicht.

In den letzten Jahren hast du immer mal wieder Künstler genannt, mit denen du mal noch gerne zusammengearbeitet hättest. In den meisten Fällen kam es anschließend dazu - gibt es jetzt überhaupt noch offene Wunschfeatures?

Ach, es gibt viele. Es gibt immer wieder welche. Aber es ist auch nicht mehr so, wie es früher mal war, dieser Wunschfeature-Gedanke. Der Wunsch muss viel mehr sein, dass man mit jemandem einen gemeinsamen Moment erlebt oder eine Erfahrung hat, die sich dann in der Musik widerspiegelt. Dass man sich im Studio trifft und gemeinsam an einem Song arbeitet. Das muss einfach passieren.

So was darf man auch nicht planen, sonst geht der Soul ein bisschen verloren. Das ist das Wichtigste. Aber es gibt so viele tolle Künstler. Im Moment höre ich Kendrick Lamar rauf und runter. Und auch im Reggae gibt es noch viele Leute, mit denen ich gerne mal was aufnehmen würde. Aber der Moment muss sich einfach ergeben.

Du nimmst deine Platten bekanntermaßen zu einem erheblichen Teil in Jamaika auf, was auch für "New Day Dawn" wieder gilt. Was bedeutet der Aufenthalt in der Karibik für den Sound der Platte? Würde sie ohne ihn anders klingen?

Das kann ich schwer beantworten. Größtenteils ist die Musik ja in Deutschland entstanden. Dann haben wir aber verschiedene Overdubs in Jamaika gemacht. Hier eine Gitarre und da ein Saxophon. Einen Großteil der Backings habe ich auch in Kingston gemacht. Ein Album an verschiedenen Orten aufzunehmen, ist heute einfach eine gängige Produktionsweise, die ich sehr zu schätzen weiß. Ich finde es aber auch ganz wichtig, dass es eine Basis gibt. Und die bestand zum einen aus meinem Studio und zum anderen in Berlin, wo Giuseppe das Schlagzeug aufgenommen hat.

Was für mich in Kingston aber nach wie vor ganz weit vorne steht, ist dieses direkte Feedback, das ich habe, wenn ich einen Song einsinge. Da sind ganz viele Menschen, die mir ein direktes Feedback geben. Das fehlt mir hier so ein bisschen. Hier ist die Mucke, die ich mache, einfach nicht so weit verbreitet, wie es in Kingston der Fall ist. Danny Brownie war bei dem Album eine Art Teacher, der gerade bei den Gesangsaufnahmen das Beste aus mir rausgekitzelt.

"Ich bin froh, im Jahr 2013 zu leben."

Selbst am Mix waren sowohl jamaikanische, als auch hiesige Produzenten beteiligt. Kommt es da nie zu unüberwindbaren Unterschieden zwischen den Arbeitsansätzen?

Das ist eine gute Frage. Denn das war tatsächlich ein großes Thema. Und das war auch ein bisschen meine Sorge: Hoffentlich klingt es nicht zu unterschiedlich. Das Album ist ja tatsächlich ein bisschen unterteilt. In traditionellen Roots-Reggae und modernen Dancehall, würde ich mal sagen. Das sind die beiden Dinger, die das Album ausmachen. Zum einen hat Moritz Enders in Deutschland gemischt, zum anderen Errol Brown in Jamaika. Letzerer hat damals schon Bob Marley-Sachen gemischt, das ist für mich eine absolute Ehre.

Der Roots-Sound ist aber eben ein anderer als der Dancehall-Sound. Daher hätte es auch unterschiedlich geklungen, wenn beides ein Mensch gemischt hätte. Aber dadurch, dass das Album keine Features enthält, sehe ich mich ein bisschen als roten Faden. Und es gibt ja auch Songs, die die beiden Welten miteinander verbinden können.

Die Platte beginnt ja mit dem recht typischen Roots-Reggae-Song "The Journey", driftet dann in ganz andere Gefilde, um im letzten Drittel wieder zum eher herkömmlichen Gentleman-Stil zurückzukehren. Das war also schon bewusst so gesetzt?

Ja. Die Setlist zu setzen, ist zwar sehr schwierig, aber eben auch extrem wichtig, was die Dynamik angeht. Ich wollte mit Roots-Reggae anfangen, um gleich ein klares Zeichen zu setzen. Und dann kommen eben direkt die moderneren Stücke. Aber ich finde, man kann das Album trotzdem gut durchhören.

Die erste Single heißt "You Remember", handelt es sich beim Anfang der Hook eigentlich um ein Zitat aus "Fields Of Gold"?

Genau. Gut rausgehört.

Im Text erinnerst du unter anderem an die Jahre ohne Facebook, YouTube und dergleichen - ein Thema, mit dem du dich schon vor Jahren kritisch auseinandergesetzt hast. Wie groß ist denn heutzutage deine Sehnsucht nach der alten Zeit? Ist die in den letzten Jahren noch gewachsen?

Sehnsucht nach alten Zeiten würde ich nicht sagen. Ich bin froh, im Jahr 2013 zu leben. Ich nutze auch die neuen Medien. Neue Medien kann man sie ja gar nicht mehr nennen, sie sind ja gar nicht mehr neu. Was sagt man denn jetzt? Jedenfalls gehe ich auch hin und wieder auf Facebook. Ich habe zwar kein persönliches Profil, also Tilmann Otto hat keins. Aber Gentleman hat eins und diesen Austausch von Informationen finde ich auch wichtig.

Und auch YouTube hat schon Regime gestürzt. Es gibt also auch positive Seiten. Was aber im Jahr 2013 unsere Herausforderung sein muss, ist die richtige Filterung von Informationen und die Beibehaltung der wahren Kommunikation. Aber wenn das Internet zur Flucht wird und die existenziellen Fragen des Lebens zur Seite schiebt, wird's irgendwann unangenehm. Und das wollte ich als Zeitzeuge in der Musik ausdrücken.

In "You Remember" schwingt natürlich ein bisschen Nostalgie mit. Ich vermisse in der globalisierten, immer schneller werdenden Welt dieses Persönliche, Individuelle. Es gibt also Sachen in der Vergangenheit, die ich vermisse, und Sachen in der Gegenwart, die ich schätze. Ich verurteile weder das eine, noch das andere.

"You Remember" ist ein Appell, die Sachen richtig zu filtern und sich auf die existenziellen Fragen des Lebens zu besinnen. Und ich glaube, da spreche ich vielen aus der Seele. Aber jede Entwicklung führt ja auch zu einer Gegenentwicklung. In dem Fall zu dem Wunsch, sich mal wieder persönlich zu treffen, sich in die Augen zu schauen und miteinander zu sprechen. Nicht mehr nur flüchtig zu sein, sondern auch noch zu träumen und zu staunen.

"Another Drama" fängt dagegen Eindrücke aus Kairo ein, wo du kurz nach der Revolution und vor den Wahlen ein Konzert gegeben hast. Mit welchen Gefühlen blickst du heute nach Ägypten? Welchen Wert hat die Revolution aus deiner Sicht heute noch?

Eine schwierige Frage. Als wir das Konzert in Kairo hatten, herrschte gerade noch der Arabische Frühling. Der ist aber ja dann immer mehr zum Herbst, beziehungsweise zum Winter geworden. Die aktuellen Geschehnisse spiegeln wider, dass der Verlauf der Geschichte oft der selbe ist. Irgendwann haben die Leute die Nase voll, es herrscht der Wunsch nach etwas Neuem. Das Alte wird abgeschlossen, man befindet sich im Niemandsland.

Aber es ist auch eine ganz eigene Herausforderung, mit dieser Freiheit umgehen zu können. Es zeigt sich, dass Demokratie einfach Zeit braucht. Und dass die Menschen Geduld brauchen. Das ist ein negativer Aspekt der Demokratie. Das beobachte ich gerade in ganz vielen Ländern immer wieder. Und diese Ungeduld ist nur menschlich.

"Es sind Dinge passiert, die dem Reggae geschadet haben."

Im letzten laut.de-Interview hast du erzählt, dass dir die Reggae-Polizei regelmäßig an die Gurgel geht, wenn du mal etwas über den Tellerrand in Richtung Pop schielst.

Das meinte ich doch gar nicht so. (lacht) Es gab da eben ein paar einzelne Songs. Und das habe ich auf auf gewisse Foren bezogen, wo immer die selben Characters immer den selben Bullshit von sich geben. Das sollte man nicht so verallgemeinern.

Wie sehr hast du das nach "Diversity" verspürt, auf dem man ja recht wenig klassischen Roots-Reggae antrifft?

Ich fand das Album, was die Musik angeht, eigentlich gar nicht so experimentierfreudig. Es gab so zwei, drei Songs, die ein bisschen aus dem Rahmen fallen, aber komischerweise jamaikanische Produktionen sind. "To The Top" war zum Beispiel eine Produktion aus Kingston, den selben Riddim haben auch aktuelle Dancehall-Künstler besungen. Und dann gibt es noch "It No Pretty", was vielleicht ein bisschen Hip Hop-lastig ist.

Ich lasse mich eben ungern in eine Schublade stecken, es geht immer noch um Musik. Es ist ganz wichtig, sich Freiheiten zu nehmen und auch hier und da mal anzuecken. Ich kann ja nicht immer die selbe Mucke machen. Das wäre ja irgendwie fatal, da würde ich mich ja dauernd wiederholen. Am wichtigsten ist, dass man immer mit sich im Einklang bleibt. Die Leute sind nicht blöd und merken, ob der Künstler etwas so meint oder nicht.

Könntest du dir denn vorstellen, irgendwann noch mal ein reines Reggae-Album aufzunehmen?

Auf "New Day Dawn" ist mir, glaube ich, der Spagat gelungen, dass die Rootssongs extrem roots-lastig sind und die Dancehallsongs extrem dancehall-lastig. Aber ein ganzes Album nur Roots oder nur Dancehall? Ich weiß nicht, ob es das noch mal geben wird. Es wird immer wieder Rootssongs von mir geben, ganz klar. Die Leute, die nur das mögen, sollen sich dann halt nur die Songs anhören. Ich persönlich brauche aber beides. Dancehall und moderne Musik war von Anfang immer ein großer Bestandteil.

Zerbrichst du dir als international bekannter, in den Charts präsenter Künstler eigentlich den Kopf über sinkende Plattenverkäufe?

Nee, ich mache mir über andere Dinge Gedanken. Ich bin Zeitzeuge und sehe natürlich, dass sich viel verändert. Ob das die Urheberrechtsdiskussion ist oder die Art und Weise, wie Menschen mittlerweile Musik konsumieren. Gerade die jüngere Generation, ohne das jetzt verurteilen zu wollen, konsumiert ja fast ausschließlich über YouTube.

Aber da findet auch wieder direkt eine Gegenbewegung statt und Vinylplatten mit Downloadcode sind wieder im Kommen. Das finde ich super. Es gibt bei jeder Entwicklung positive und negative Begleiterscheinungen. Und ich bin auf gar keinen Fall verbittert. Ich glaube, wir sind alle auf einem guten Weg.

Die Begeisterung für jamaikanische Musik hat hierzulande mittlerweile leider ziemlich nachgelassen. Du hast für Reggae aus Deutschland Ende der Neunziger eine Art Startschuss markiert und jungen Künstlern den Weg geebnet. Wie fühlt es sich an, jetzt wieder ziemlich alleine dazustehen?

Dass ich alleine dastehe, würde ich so nicht unterschreiben. Denn es gibt einfach eine Menge Künstler, die eine Menge guter Musik raushauen. Die wird nur leider nicht so wahrgenommen. Das betrifft die Medien und auch die Radiostationen, die den Newcomern viel mehr Aufmerksamkeit schenken sollten.

Könnte das sinkende Interesse auch mit der Homophobie-Debatte zusammenhängen, die in den letzten Jahren immer wieder aufkam?

Klar, es sind einfach Dinge passiert, die der Musik sehr geschadet haben. Das gehört sicher dazu. Allerdings hatten die auch wieder positive Veränderungen zur Folge. Wenn man sich nämlich die Mühe macht und die ganzen Releases aus Jamaika mal inhaltlich anschaut, kann man feststellen, dass es eigentlich kaum noch homophobe Texte gibt. Und das war vor ein paar Jahren noch ganz anders. Das ist das Positive an der ganzen Debatte und der hitzigen Diskussion. Es hat zu etwas geführt. Auch wenn beide Seiten ein bisschen müde geworden sind und Jamaika nach wie vor ein sehr homophobes Land ist. Musikalisch gesehen haben sich die Inhalte aber auf jeden Fall verändert. Das muss man auch mal bemerken.

2010 hast du mit deiner Band ein berauschendes Konzert beim Summerjam-Jubiläum gespielt, dieses Jahr bist du wieder als Headliner dabei. Was treibt dich dazu immer wieder an? Wie wollt ihr das noch toppen?

Ich muss nicht weit fahren, es ist direkt um die Ecke. (lacht) Nee, es ist eben das größte Reggae-Festival Europas. Es gibt kein Festival, wo so viele Menschen zusammenkommen, um die Mucke zu hören. Und das Line-Up ist einfach immer gut. Es ist mein Wohnzimmer, ich bin zum neunten Mal da. Nach drei Jahren Abstinenz - es kommt mir vor wie letztes Jahr - ist es für mich mit neuem Album wieder ein absolutes Highlight des Jahres.

Und im Winter steht dann das 20-jährige Bandjubiläum an.

Genau, da spielen wir zwei Abende hintereinander im Palladium in Köln. Am ersten gibt's Songs aus den ersten zehn Jahren, am zweiten Songs aus den zweiten zehn Jahren. Es kommen viele Gäste und vom Event her wird es ein ganz anderes Ding, als eine Clubshow.

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LAUT.DE-PORTRÄT Gentleman

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