"Was immer man über Crunk sagen mag, man muss mit Lil Jon anfangen." Weise Worte, die Ying Yang Twins-Produzent Mr. Collipark aka DJ Smurf da spricht. Er muss es wissen, schließlich trägt er seine Nase nicht erst seit gestern in Atlantas Club-Szene spazieren.

Auch, wenn einige Quellen den Beginn der Bewegung in Memphis verorten, gilt die Hauptstadt Georgias doch als Crunk-Bastion Nr. 1. Während im texanischen Houston Chopped & Screwed dem Sound einer ganzen Stadt einen Stempel aufdrückt, regiert in Atlanta die markerschütternde Antithese zum verlangsamten Kaugummi-Sound. From the window to the wall - everybody get crunk!

Kritiker bemängeln an Crunk, dessen Wurzeln tief in die im Süden der USA populäre Bass Music reichen, die billigen Strickmuster und den erbärmlich mageren lyrischen Gehalt, falls man einen solchen überhaupt vorfindet. Tiefe, harte, stampfende Bässe, die nicht selten einer Roland TR-808-Drummachine entspringen, geben den Ton an. Vier Takte, die endlos über die ganze Länge des Tracks geloopt werden, reichen als Grundlage für eine Crunk-Nummer vollkommen aus.

Verziert wird dieses Gerüst mit unkomplizierten Keyboard- oder Synthie-Klängen sowie einigen markanten Effekten. Besonders schrille Sounds wie Trillerpfeifen, Klirren, splitterndes Glas oder Ähnliches erfreut sich großer Beliebtheit. Über diese Mischung rappen, singen, in erster Linie aber brüllen mehr oder weniger begnadete, stets aber hochgradig energiegeladene Schreihälse ihre ebenso simplen wie repetitiven wie eingängigen Hooks, die oft nur aus einem Wort bestehen. "Whut?" "Okay!" "Yeah!" Sehr weit entfernt von den Tatsachen bewegt sich Dave Chappelles großartige Lil Jon-Parodie auch bei eingehender Betrachtung nicht.

Aber wer achtet schon auf Texte, wenn im Club die Hölle losbricht? Richtig - keine Sau. Crunk als die Hip Hop-Entsprechung zu Punk-Rock oder Punk-Metal anzusehen, trifft zumindest dann den Nagel auf den Kopf, wenn man die Verwandlung vom Dancefloor zum Moshpit beobachtet. Derbe, aggressiv und unfassbar clubtauglich entwickelt sich Crunk zum erfolgreichsten Exportartikel des Dirty South.

Doch was soll das überhaupt bedeuten, "crunk"? Mit der Herkunft des Begriffes geht der Streit schon los: Darüber gehen die Meinungen nämlich kräftig auseinander. Schlichte Betrachtung des Phänomens Crunk stützt die Theorie, die Bezeichnung sei aus der Verbindung der Worte "crazy" und "drunk" entstanden. Auch eine Ableitung aus "chronic" oder "crack" in Verbindung mit "drunk" wird diskutiert: Multi-Intoxikation mit verschiedenen Genussgiften (in erster Linie Alkohol, Marihuana und/oder Kokain) begegnet man jedenfalls durchaus das eine oder andere Mal - von der verheerenden Wirkung des codein-haltigen Gesöffs, das auch als Crunk-Juice gehandelt wird, einmal ganz abgesehen.

Die ebenfalls in Erwägung gezogene Abstammung aus der Kombination von "crazy" mit "funk" scheint dagegen ähnlich unwahrscheinlich wie ein Ursprung beim im Jiddischen gebräuchlichen "crank" (für "krank"). Letterman-Nachfolger Conan O'Brien nutzt das Kunstwort "krunk" in seiner Late Night-Show als Multifunktions-Kraftausdruck, durch den er die "seven dirty words", die im Fernsehen tunlichst zu vermeiden sind, ersetzt. O'Brien verhilft dem Wort, den er aus einem Zitat von Ice-T (und dieser höchstwahrscheinlich bei irgendeinem Südstaaten-Rapper) abkupferte, Mitte der 90er zu immenser Verbreitung. Für Lil Jon bezeichnet "crunk" einen Zustand gesteigerter Erregung.

Die Ursprünge des Crunk reichen bis in die frühen 90er Jahre zurück. Der Terminus fällt bereits in den Lyrics zu Outkasts "Players Ball" und "Hootie Hoo" aus den Jahren 1993 und '94. Als erste Crunk-Single findet 1997 "Tear Da Club Up '97" von der Three 6 Mafia Beachtung: Der Track landet immerhin unter den ersten 30 der US-amerikanischen Rap-Charts.

Zu Beginn des neuen Jahrtausends bricht das Crunk-Fieber aus. Lil Jon und die East Side Boyz beginnen 1997 mit "Get Crunk Who U Wit", befinden 2000, "We Still Crunk" und krönen sich 2002 zu "Kings Of Crunk", ein Titel, den ihnen wahrhaft niemand absprechen will. Kein König ohne Königin: Atlantas Rasheeda gilt als Queen des Genres. In den Rollen "Prince", "Princess" und "Godfather" machen Lil Scrappy, Ciara und Petey Pablo würdige Figuren. Daneben etablieren sich neben zahllosen anderen David Banner, Fatman Scoop, Bone Crusher und die Ying Yang Twins in der Szene.

2003 sprengt Crunk vollends Atlantas Stadtgrenzen. Hits wie "Never Scared" (Bone Crusher feat. T.I.), "Salt Shaker" (Ying Yang Twins feat. Lil Jon), "Damn" (Youngbloodz feat. Lil Jon) oder "Get Low" (Lil Jon feat. The Ying Yang Twins") erschüttern die Clubs landauf, landab und schlagen Wellen bis über den großen Teich. Lil Jons Allgegenwärtigkeit fällt auch diversen Juroren auf: Er wird mit dem American Music Award für den besten Hip Hop-Act ausgezeichnet und kassiert den Source-Award in den Kategorien "Best Artist" und "Best Video".

Im Jahr darauf produziert Lil Jon mit "Yeah" für Usher und "Goodies" für Ciara zwei weitere Charts-Stürmer, die Crunk endgültig den Weg in den Mainstream öffnen. Sein eigenes Album erscheint unter dem Titel "Crunk Juice". Mit "Crunk!!!" vertreibt Lil Jon inzwischen zudem einen Energy-Drink. Mit dem Crunk-Magazine bekommt Crunk sein Journal, mit dem Crunkfest sein jährlich stattfindendes Festival. In Europa erfreut sich Atlantas Clubsound ebenfalls wachsender Beliebtheit. Kanye West etikettiert die Produktionen der schottischen Franz Ferdinand gar als "White Crunk".

Das Schlusswort einer Geschichte, die ihren Höhepunkt 2007 vermutlich noch nicht erreicht hat, geht an Purple Ribbon All Stars-Mitglied Killer Mike: "Das Beste an Crunk ist, dass es den Leuten immer noch Angst einjagt", bemerkte dieser gegenüber USA Today. "Das ist, was gute amerikanische Musik seit jeher getan hat. So war es bei Little Richard. So war es bei Parliament-Funkadelic. So war es bei Rap in seinen Anfängen. Ich hoffe, es dauert noch eine Weile, bis wir Werbespots für Pepsi oder Coca-Cola machen."