15. November 2021

"Die Welt rutscht in den Wahnsinn ab"

Interview geführt von

Exodus-Matermind Gary Holt spricht über das neue Album "Persona Non Grata" und die mannigfachen Folgen der Corona-Pandemie - und er erklärt, über welche Fragen es sich zu streiten lohnt.

Endlich wieder zünftig auf die Nuss: Mit «Persona Non Grata» haben die Thrash-Pioniere von Exodus das erste neue Album seit dem 2014er-Werk "Blood In Blood Out" am Start. Die lange Pause hat ihre Gründe: Leadgitarrist und Hauptsongwriter Gary Holt war bis Ende 2019 mit der Abschiedstournee von Slayer absorbiert, auf der er den Posten des 2013 verstorbenen Jeff Hanneman einnahm. Und dann ist da ja noch diese Corona-Pandemie.

Wir erreichen einen entspannten Holt via Videocall daheim in Kalifornien. Die Baseball-Cap hat er tief in die Stirn gezogen, ab und gönnt er sich einen Schluck aus einem Thermosbecher. Dass dessen Inhalt nicht-alkoholisch sein muss, erklärt sich durch den kürzlich vollzogenen Schritt des Saitenhexers: Holt hat dem Alkohol abgeschworen.

Hi Gary, zunächst einmal Gratulation zur neu gewonnenen Abstinenz. Wie lange bist du mittlerweile trocken?

Gary: Es sind jetzt fast fünf Monate.

Und wie geht es dir?

Gary: Großartig, ich habe mich nie besser gefühlt. Aufzuhören ist das Beste, was ich je gemacht habe. Weißt du, ich bin nicht anders als alle anderen. In der Pandemie saß ich zuhause herum, hatte nichts zu tun und begann darum, zu viel zu trinken. Als ich das realisierte, beschloss ich, etwas zu ändern. Und seither halte ich mich daran und bin super happy damit.

Als du diesen Schritt verkündet hast, meintest du, du freuest dich darauf, die Dinge klarer zu sehen. Ist das eingetroffen?

Gary: Ja, ich fühle mich zumindest gesünder. Wenn ich auf Tour war, habe ich nicht exzessiv getrunken, aber trotzdem täglich. Daheim habe ich eigentlich überhaupt nicht viel getrunken, ein paar Bier hier und da. Aber mit der Pandemie wurden es auf einmal zwölf, vierzehn Bier am Tag. Ich war richtig betrunken, und zudem noch deprimiert. Das war das Schlimmste: Statt glücklich war ich richtig niedergeschlagen, und ich geriet gedanklich an wirklich dunkle Orte. Darum war es an der Zeit, das aus meinem Leben zu tilgen.

Schön zu hören, dass es dir besser geht. Trotzdem die Frage: Hattest du Bedenken, dass ohne Alkohol auch deine Kreativität leiden könnte?

Gary: Nein, ich schreibe ohnehin nie Musik, während ich trinke. Das Einzige, was mich beschäftigte, war die Frage: Wenn ich auf die Bühne gehe, werde ich mich genauso in Rage spielen können, ohne davor ein paar Bier zum Auflockern zu trinken? Aber es zeigte sich, dass da kein Problem besteht. Überhaupt nicht. (lacht)

Live-Gigs sind aber kein großes Thema derzeit, oder? Das nervt bestimmt, ein neues Album draußen zu haben, ohne es live spielen zu können.

Gary: Ja! Wir wären ja gerade auf Tour, aber weil die Pandemie immer noch alles über den Haufen wirft, mussten wir die auf nächsten Frühling verschieben. Es ist halt so: Ein Bandmitglied wird positiv auf Covid getestet, dann werden Auftritte abgesagt, dann verliert man Geld, am Ende macht man sogar Schulden ... daher entschieden wir uns, abzuwarten und wir hoffen, dass sich die Situation wieder verbessert.

Mit der Pandemie wurden es auf einmal zwölf, vierzehn Bier am Tag.

Lass uns über das neue Album "Persona Non Grata" sprechen. Wie gehst du beim Songwriting-Prozess vor, wenn du ein Album schreibst?

Gary: Wann immer ich eine Idee habe, nehme ich sie mit meinem Phone auf, einfach damit ich sie nicht vergesse. Ich habe aber keinen fixen Zeitplan, sondern schreibe, wenn mir danach ist. Wenn es an der Zeit für ein Album ist, dann setze ich mich auch hin und versuche bewusst, zu komponieren. Aber wenn ich mich an einem Tag nicht inspiriert fühle, dann lasse ich es sein. Ich kann das nicht forcieren.

Einiges auf dem Album hat mich angenehm überrascht, zum Beispiel dieses melodiöse Tapping, das du auf dem Song "The Years Of Death And Dying" einbringst. Woher kam das bloß?

Gary: Das hat sich ganz natürlich ergeben. Tom [Hunting, Exodus-Drummer, Anm. d. Red.] und ich haben am Refrain gearbeitet, und plötzlich kam mir diese Idee. Als Lee Altus [Rhythmus-Gitarrist] das zum ersten Mal gehört hat, fragte er: "Was im Namen von In Flames geht denn da vor?" Und so haben wir es dann gelassen (lacht). Es steckt also ein bisschen Schweden in dem Song, ich liebe diese Bands ja ohnehin.

Besonders gefallen hat mir auch das ungewöhnlich langsame, atmosphärische "Prescribing Horror". Hat Slayer-Gitarrist Kerry King dir schon Feedback zu dem Song gegeben?

Gary: Er hat ihn noch gar nicht gehört. Wieso?

Der Song hört sich für mich an wie ein fieseres Geschwister von "When The Stillness Comes" von Slayers letztem Album "Repentless".

Gary: Wobei, "Stillness" ist ein ganzes Stück langsamer. Als wir aber den Mittelteil des Songs eingespielt haben, mit gesprochenen Vocals, dachte ich, es klinge eher ein wenig wie der Beginn von "Dead Skin Mask". Ich liebe den Song, er ist doomig, langsam, echt furchteinflößend. Der harmonische Mittelteil hat wirklich diesen schaurigen Vibe, das verfolgt dich. Mein liebster Track des Albums.

Haben all die Jahre auf Tour mit Slayer auch den Songwriting-Prozess für dieses Album beeinflusst?

Gary: Du meinst neben der Verzögerung? (lacht) Sieben Jahre zwischen zwei Alben! Aber ich schreibe so, wie ich halt schreibe. Ich sammle dauernd Riffs, und als ich nach unserer Europa-Tournee nach Hause kam und die Pandemie losbrach, hatte ich nichts als freie Zeit. Wir wollten ohnehin im Sommer ins Studio gehen, daher hatten wir zunächst auch gar keine Probleme mit der Pandemie. Wir taten, was wir ohnehin tun wollten. Ich schrieb also eine Million Riffs, und dann begannen Tom und ich damit, diese durchzugehen.

Wo du gerade Tom erwähnst: Ich bin beeindruckt von seinem Spiel auf "Persona Non Grata".

Gary: Er zertrümmert alles!

Wie geht es ihm gesundheitlich? [Hunting musste sich nach einer Krebs-Diagnose den gesamten Magen entfernen lassen, Anm. d. Red.]

Gary: Ihm geht es fantastisch. Wir haben erst kürzlich unsere erste Show mit ihm seit der Operation gespielt und es war ... es war erstaunlich. Es hatte schon fast etwas Spirituelles, wie er vom Publikum willkommen zurück geheißen wurde. Wir können es nicht abwarten, ihn zurückzuhaben. Dass wir die Tour verschieben mussten, hat von daher auch noch etwas Gutes, das gibt ihm Zeit, wieder zu Kräften zu kommen. Aber es geht im sehr gut.

Auf "Clickbait" rechnest du mit den Medien ab. Hat dich eine spezifische Schlagzeile über dich zu den Lyrics inspiriert?

Gary: Nein, nicht wirklich. Die Online-Medien müssen dich halt mit einer Schlagzeile dazu bringen, dass du ihren Artikel anklickst, damit sie Geld verdienen. Sie platzieren also eine Schlagzeile wie ein Stück Käse, und warten darauf, dass die Ratten in die Falle tappen. Dann liest du das Stück und hast das Gefühl, dass dir etwas anderes versprochen wurde, der Titel ist aus dem Kontext gerissen. Das ist eine schreckliche Sache, die mittlerweile zum Standard in allen möglichen Mediengattungen geworden ist.

"Ich mache weiter, solange ich noch Headbangen kann"

Ein Song auf dem Album heißt "Slipping Into Madness". Wie weit sind die USA mittlerweile schon in den Wahnsinn abgedriftet?

Gary: Sie sind auf jede erdenkliche Weise abgedriftet! Der Song dreht sich aber eigentlich um die Opioid-Krise, weißt du? Aber ja, die ganze Welt rutscht in den Wahnsinn ab.

Von europäischer Warte aus gesehen sind die USA besonders tief gespalten. Wie siehst du das?

Gary: Komplett gespalten. Die Menschen wollen nichts mehr mit jemandem zu tun haben, der andere Überzeugungen hat als sie selber. Ich bin alt genug, um mich daran zu erinnern, dass unterschiedliche politische Meinungen früher nicht das Ende einer Freundschaft bedeuten mussten. Aber das ist nun mal die Welt, in der wir leben. Ich hoffe, das ändert sich. Das ist keine Welt, die ich meinen Enkelkindern hinterlassen möchte.

Auch innerhalb des Exodus-Camps habt ihr ja unterschiedlichen politische Meinungen. Ergeben sich daraus Spannungen?

Gary: Du weißt ja, was man sagt: Diskutiere mit Andersdenkenden nicht über Politik oder Religion, weil daraus entsteht nichts anderes als Streit. Wir reden also nicht über Politik, sondern lieber über Iron Maiden – über Dinge, die wir gleich sehen.

Also umgeht ihr die heiklen Themen einfach?

Gary: Wenn wir streiten, dann über Dinge wie: Welches Maiden-Album ist besser, das Debüt oder "Killers"? (lacht) Das ist ein guter Streit! Oder: Wer ist besser, Michael Schenker oder Ritchie Blackmore? Das sind gesunde Debatten.

Nochmals zur Spaltung der US-Gesellschaft: Glaubst du, es gibt noch einen Weg zurück zur Normalität?

Gary: Ich für meinen Teil versuche, so normal wie möglich zu leben – und die Dinge zu ignorieren, die die Welt abnormal machen. Auch wenn man natürlich nicht alles ignorieren kann. Ich hoffe, dass wir zurück zur Normalität finden! Es ist eine fucking Shitshow gerade, seit einigen Jahren schon.

Du hast bereits eure letzte Europa-Tournee erwähnt. Euer Auftritt in Zürich mit Testament und Death Angel im Februar 2020 war für mich der letzte Konzertbesuch, bevor die Pandemie so richtig einschlug. Wie hast du diese Europa-Auftritte in Erinnerung?

Gary: Die waren großartig! Ich war so glücklich, diese Club-Shows spielen zu können. Wir hatten die beste Zeit überhaupt. Wir wurden aber von Covid quer durch Europa gejagt, wobei wir nur eine oder zwei Shows absagen mussten. Hätten wir mit der Tour zwei Wochen später losgelegt, hätte das ganz anders ausgesehen, wir hätten viel Geld verloren. Aber wir kamen gerade noch raus aus Europa und einige Mitglieder der Bands erkrankten dann an Covid. Nicht alle, aber doch einige – auch ich.

Zu jener Zeit konnte man richtig mitverfolgen, wie sich die Covid-Situation von Tag zu Tag verschlimmerte. Da wurde es auf einmal real.

Gary: Absolut! In einer Location, in der wir aufgetreten waren, wurde bereits am nächsten Tag die maximal zulässige Zuschauerzahl halbiert, von 2.000 auf 1.000 Personen. Wir waren also dauernd mit den Covid-Maßnahmen konfrontiert, aber wir entkamen immer noch rechtzeitig.

Was sind deine Hoffnungen für das Touren in nächster Zeit?

Gary: Ich hoffe inständig, dass ich zurück auf Tour kann. Ich werde langsam verrückt. Es ist natürlich eine wunderbare Erfahrung, so viel Zeit mit meiner Familie zu verbringen, aber langsam muss ich raus und ein paar Shows spielen. Ich habe ja ein neues Album am Start.

Was wären die Alternativen, wenn sich die Situation nicht verbessert? Streaming-Konzerte, eine Residency in Vegas?

Gary: Bei der Residency wäre ich sofort am Start, denn von Vegas aus könnte ich jeden Abend heimfliegen! (lacht) Keine Ahnung, vielleicht würden Streaming-Konzerte zum Thema. Vielleicht beginne ich aber auch endlich damit, an meinem Soloalbum zu arbeiten, das ich schon lange plane.

Das klingt interessant, kannst du mehr davon erzählen?

Gary: Ach, das ist ein Projekt, das ich schon immer mal realisieren wollte: ganz verschiedene Arten von Metal, mit einem anderen Sängern auf jedem Track. Vielleicht hätte ich ja mal Zeit dafür. Aber andererseits hab ich nie Zeit für irgendwas, also wird daraus vielleicht auch nie was. Wer weiß.

Du könntest auch einen Podcast starten. Jeder scheint das zu machen.

Gary: Oder ich gebe einfach Gitarrenstunden. Aber ich hoffe, dass ich davor doch noch auf Tour kann.

Slayer sind bereits in den Ruhestand gegangen, die anderen Thrash-Pioniere so wie ihr sind auch keine Jungspunde mehr. Wie viele Jahre haben Exodus noch in sich?

Gary: Ich mache weiter, solange ich noch Headbangen kann. Und solange ich das Zeug noch spielen kann. Ich habe noch viele Jahre in mir, das steht fest. Aber ob ich die Songs mit 70 noch spielen kann? Kann ich dann noch auf dem Level spielen, auf dem ich es erwarte? Das wird die Zeit zeigen.

Wie sieht denn der Masterplan aus, um die anderen Bands zu überdauern?

Gary: Jung und hart bleiben, schnell und heavy bleiben.

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