27. Mai 2016

"Benjamin von Stuckrad-Barre hat alles total abgefeiert"

Interview geführt von

Element Of Crime kommen an den Bodensee. Was für ein Timing! Schicksal! Gerade fielen uns beim Umzug in unser neues Büro aus einer staubigen Kiste zwei Fotos aus einer fernen Zeit entgegen, die Sänger Sven Regener am Bodensee zeigen.

Genauer: Die ihn als visionären Internet-Checker ausweisen. 1997, als die wenigsten Bands und schon gar keine Plattenfirmen dieser neuen Sache namens Internet ihr Vertrauen schenkten, besuchte uns dieser unerschrockene Bremer im Vorfeld des Element Of Crime-Konzerts in unserer noch nicht existenten Konstanzer Redaktion für eine damals scheinbar noch Publicity verheißende Promo-Maßnahme namens "Online-Chat".

Und so sah das dann aus: Ein glücklicher Chatter mit Kippe und ein glücklicher Chatter mit Bier. Wir waren scheinbar gute Gastgeber. Historiker der aktuellen Redaktionsbesetzung können dieses Ereignis übrigens bezeugen, und Regener, dieses wandelnde Elefantenhirn, wird es ihnen bei unserem angefragten Interview zur "Lieblingsfarben und Tiere"-Show in Lindau sicher gleichtun. Was sind schon 19 Jahre? Über massiv erfolglose Online-Chats im Konstanz der 90er Jahre, darüber muss dringend mal gesprochen werden. Wir also rein ins Auto, Fotos eingepackt und ab nach Lindau, Regener und Gitarrist Jakob Ilja erwarten uns. Wie schön. Doch es sollte anders kommen.

"Sven ist verhindert, ich bringe euch zu Jakob und Richard", empfängt uns die Tourbegleiterin der Band am Lindauer Club Vaudeville. Aus ihrer Betonung ist unschwer herauszulesen, dass sie keine weiteren Nachfragen zum Thema wünscht. Eine nachteilige Situation für uns, denn auf den Fotos ist ja Sven drauf und nicht Jakob. Und die Fragen sind naturgemäß meist auf das Sprachrohr der Band hin formuliert. Wir bringen gerade noch in Erfahrung, dass eine persönliche Sache die Planänderung notwendig machte, da stehen wir auch schon im Backstage vor Richard und Jakob. Warme Atmosphäre. Sofort werden Handys gezückt, um die Fotos später dem absenten Porträtierten zu zeigen.

Jakob: Und die wolltet ihr ihm schenken? Nee, oder? Die müsst ihr behalten. Die haben ja Sammlerwert.

Gut also, diese Fotos wurden 1997 für den laut.de-Vorgänger Music & Sound aufgenommen und das hätte uns natürlich jetzt interessiert, ob Sven sich an diese Chat-Sause erinnert. Besser gesagt, wir wissen natürlich schon, dass er sich erinnert, da er schon bei früheren Treffen mit unfassbarem Detailwissen geglänzt hat. Er konnte sich zum Beispiel vor zehn Jahren mal an euren Auftritt in einem Studentenwohnheim in Konstanz 1989 erinnern und hatte gleich noch drei bis vier weitere Stories zu der Show parat. Nicht zu fassen.

Jakob: Ja, er hat ein Wahnsinnsgedächtnis. Ich glaube, Sven wird nie einen Teleprompter benötigen. Bei mir verschwimmen die Sachen ja eher zu so einer großen Röhre der Jahrzehnte.

Richard: Rock'n'Roll-Gehirn.

In Benjamin von Stuckrad-Barres neuem Buch "Panikherz" kommt Sven bzw. ihr auch vor. Es ist eine Autobiografie mit Udo Lindenberg als Leitfigur ....

Jakob und Richard: Ja, wir haben davon gehört, aber nix gelesen.

Darin beschreibt er sein erstes Treffen mit Sven bei einer Feier in Hamburg zu Udos 25-jährigem Bühnenjubiläum, zu dem es einen Sampler gab, für den ihr die Coverversion "Leider Nur Ein Vakuum" aufgenommen habt. Und es kommt natürlich seine Zeit bei Motor Music vor, als er für eine Weile lang u.a. auch euer Produktmanager war. Wie erinnert ihr diese Zeit, als Stuckrad-Barre für euer damaliges Album "Die Schönen Rosen" (1996) verantwortlich war?

Jakob: War schon speziell. Der Höhepunkt dieser Zeit war das extrem teure Video mit Hubschraubern und Kränen und so, alles perfekt durchgeplant, und plötzlich kam raus: Sven hat Höhenangst. Der kann da gar nicht so weit oben stehen. Aber insgesamt hat sich Benjamin bemüht und war vor allem ein sehr begeisterungsfähiger Produktmanager. Ich erinnere mich an Konzerte, wo er das alles total mit abgefeiert hat. Ich fand es sympathisch, dass er sich das emotional alles so zu Eigen macht.

"Die Spotify-Compilation ist wie ein Teaser"

Richard: Ja, er war ein sehr lebhafter, energiegeladener Typ. Aber nicht wegen dem, was man jetzt so liest, das kam erst später.

Er schreibt, dass ihr zunächst wenig begeistert gewesen wart, dass so ein junger Spund plötzlich für eure Musikpromo verantwortlich sein soll. Und er gibt zu, dass er eure Platte und die von anderen Bands leider einfach in den Sand gesetzt hätte.

Jakob: Das Problem war halt auch: Wir hatten schon sehr konkrete Vorstellungen von dem, was wir da machen. Es war zu dem Zeitpunkt ja immerhin schon unsere siebte oder achte Platte. Wir sind eben alle ein bisschen älter gewesen, als er ja sowieso, aber auch älter als zum Beispiel Tim Renner [damals Chef von Motor Music, Anm. d. Red.].

Das macht schon einen Unterschied in der Wahrnehmung. Und es geht ja auch um was: Da ist eine neue Platte, die gut promoted werden muss, damit sie sich gut verkauft. Da trägt man schon mal Sorgen und Bedenken mit sich rum, oder man reagiert etwas reservierter, wenn da so ein junger Kerl kommt.

Stuckrad-Barre gibt unumwunden zu, dass er für den Flop eurer "Rosen"-Platte und auch für die damalige LP von Phillip Boa verantwortlich war. Das von dir angesprochene Video etwa, hätte 100.000 Mark gekostet und sei nie gesendet worden. Nicht ein einziges Mal. Aber da ihr und Boa schon damals ein sehr treues Stammpublikum gehabt hättet, sei sein Misserfolg nicht so aufgefallen.

Jakob: Es gab halt eher so ne Delle, ne? Ja, vielleicht hat er das unterschätzt. Andererseits waren wir halt auch nie eine erfolgreiche Video-Band. Das war nie unsere Welt.

Richard: Da kamen am Anfang immer Leute mit hochtrabenden Skripts an und das Label fand das im Gegensatz zu uns spitze und so gipfelte das dann eben in Sachen wie diesem Hubschraubereinsatz und dem teuren Video.

Jakob: Seit dem Album "Psycho" (1999) konzentrieren wir uns auf Alltagstätigkeiten. Damals haben wir einen Garten gefilmt, in dem wir Löcher graben und diese dann wieder füllen. Eine sinnlose Tätigkeit im Grunde genommen, aber seither sind so unsere Videos: Voll von sinnlosen Tätigkeiten. Damit meine ich: Sie haben mit der Musik nichts zu tun. Peter Gabriels berühmtes Animations-Video hat ja auch nix mit einem "Sledgehammer" zu tun. Vielleicht war dieser Clip damals mit Benjamin für uns nötig, um zu erkennen: Hey, das wars jetzt.

Wenn man so lange dabei ist wie ihr, schaut man da ab und an wehmütig zurück, auf die Anfänge oder eben die Ära der 90er, wo ihr euer großes Publikum gefunden habt?

Jakob: Don't look back. Es ist ja auch wie Ballast, immer zurück zu schauen. Ist heute alles scheiße, wenn man ständig verklärt zurück schaut? Was wäre das für ein Blick auf sich selbst? Würde ich mir nicht zumuten. Oder diese Revival-Konzerte zum 30. oder 40. Band-Jubiläum, das ist an sich ja völlig in Ordnung, wenn man damit noch mal Geld verdienen kann, weil es Menschen gibt, die das interessiert und die sich eine Karte kaufen. Aber so was würden wir jetzt nie machen. Ist nichts für uns. Wir haben ja sowieso nie erwartet, dass wir das 30 Jahre lang machen würden. Wie hoch ist denn die Halbwertszeit von Bands heute, drei Jahre? Da musst du ja in Promille rechnen, wer durch kommt. Nee, da denkt man nicht drüber nach. Wenn es vorbei ist, ist es halt vorbei.

Beim Thema Streaming habt ihr euch klar positioniert: Eure Platten sind nicht bei sämtlichen Diensten verfügbar, weil ihr euch als Künstler nicht angemessen entlohnt seht.

Jakob: Ja, aber wir hatten dann eine Idee, die wir eigentlich ganz clever fanden. Wie du sagst haben wir uns das alles eine Weile von außen angeschaut, denn wir mussten da ja auch nicht zwingend mitmachen. Streaming finde ich persönlich ne super Sache, um Musik unter die Leute zu bringen, wenn wir die Entlohnung mal ausklammern. Für Spotify haben wir jetzt eine Compilation gemacht. Die funktioniert wie ein Teaser ...

Ah okay, dann ist das von euch abgesegnet. Ich habe mich schon gewundert.

Richard: Klar. Von jeder Platte ist ein Titel drauf.

Jakob: Genau. Das Publikum, das streamt, kann uns ab sofort also kennenlernen. Unter den Leuten, die heutzutage nur noch streamen, könnte es ja auch welche geben, die unsere Musik mögen. Denen geben wir die Gelegenheit, uns mit diesem Querschnitt an Songs kennen zu lernen. Und sollte es ihnen gefallen, müssen sie sich den Rest halt woanders besorgen. Im Grunde ist das für uns einfach ein weiteres Marketing-Tool.

Richard: So wie letztes Jahr im Sommer unsere Auftritte auf einigen kleinen Indie-Festivals für minimale Gage, wo wir vor Leuten gespielt haben, die vielleicht maximal 25 Jahre alt waren. Das sind für uns völlig neue Welten. Und wir lernen neue Bands kennen. Denn es ist ja schon unser Anliegen, auch junge Leute anzusprechen und mitzunehmen. Wir versuchen dann einfach, nicht so alt zu wirken wie wir wirklich sind (Gelächter).

Jakob: Diese Festivals wie etwa das Immergut waren wirklich klasse. Tolle Atmosphäre, gute Bands, äh … wie hieß noch gleich diese belgische Band? Balthazar. Genau. Zuerst dachte ich noch, der Name, naja, und dann stand ich vor der Bühne – Hammer! Ich war echt schwer beeindruckt. Irre wie die arrangieren und mit den ganzen Instrumenten auf der Bühne ... Oder unsere aktuelle Vorband Von Wegen Lisbeth: Die haben wir einmal gesehen und gleich gesagt, die nehmen wir mit. Die machen das mit viel Witz, find ich super. Isolation Berlin sind auch gut, die spielen auch noch mit uns. Und dann hier, Die Höchste Eisenbahn, auch ne super Band.

"Man kann den Hörer nicht zwingen"

Sehr im Fokus stehen ja gerade Annenmaykantereit, auch auf eurem Label und mit Folk-Pop stilistisch auch nicht mal so weit von euch weg. Habt ihr zu denen auch eine Meinung?

Jakob: An denen kommt ja keiner vorbei gerade. Ja also meine Kiddies hören die, find ich super, aber grundsätzlich ist es immer ganz schlecht über Kollegen zu reden. Bei Balthazar eben habe ich mich ausnahmsweise hinreißen lassen, aber ...

Kritik von Kollegen kann aber medial auch förderlich sein: Annenmaykantereit und Wanda hatten da kürzlich ein mediales Scharmützel. Zur Schau gestellter Alkoholismus wurde den Österreichern da vorgeworfen ...

Jakob: Ist das nicht das Promo-Tool seit den Beatles und den Stones? Und wer hat damals die erste Top Ten-Single für die Stones geschrieben, die bis dahin ja nur Coverversionen gespielt haben? Lennon und McCartney.

Und wer war euer Counterpart in den 80er Jahren?

(Gelächter)

Richard: Wir waren so weit draußen, da wollte wirklich niemand ...

Jakob: Wir hatten Songs in G-Dur und C-Dur, damit wollte echt niemand was zu tun haben.

Vielleicht habt ihr deshalb ja so lange durchgehalten, ob nun mit Videos und Streaming-Diskografie oder ohne. Weil ihr euch aus solchem Hype-Kram immer schön rausgehalten habt. Heute stehen Element Of Crime für einen unverkennbaren Sound.

Jakob: Wobei wir schon zu Beginn eine große Fangemeinde hatten. Zum ersten Konzert in Berlin kamen gleich 300 Leute. Wir haben an dem Abend zwei Mal gespielt. Bei der zweiten Platte war John Cale Produzent und wir haben 10.000 Platten verkauft, also das lief schon gut. Aber du weißt halt nie, wie lange es andauert. Es ist schon ein großes Glück, dass man die Musik, die man liebt, vor Menschen spielen kann. Aber wir schreiben eben auch neue Songs und gehen mit denen auf Tournee. Für uns bleibt es spannend: Welche Songs kann man heute schreiben? Was geht jetzt noch? Wie könnte die nächste Platte aussehen? Das ist noch lange nicht zu Ende. Für eine Band ist das eine gute Voraussetzung, denn so lange man in Bewegung ist, kommt man gar nicht dazu, es sich einzurichten.

Ich finde es auch sympathisch, dass ihr manchmal lieber sechs Mal im Lido spielt oder drei Mal im Tempodrom, als ein Mal in der O2 World, oder wie sie jetzt gerade heißt.

Jakob: Sie heißt einfach die Mehrzweckhalle am Ostbahnhof.

Richard: Wir waren mal in der Max-Schmeling-Halle bei The National, auch um uns das mal anzugucken. Dann standen wir da, schauten auf all die Bierstände und beleuchteten Bulettenbratereien und dachten: Können wir hier auftreten? Da könnte man dann ja nicht von der Bühne runter sagen: Bitte mal für den nächsten Song das Licht da hinten ausmachen, oder so. Also sind wir ins Tempodrom und das ist auch einfach eine wahnsinnig schöne Halle.

Jakob: Das mit dem Lido war so, dass wir uns überlegt haben, welche 800er Clubs wir spielen könnten. Das machen wir immer mal wieder, denn es ist für uns schön und auch fürs Publikum. Man merkt einfach: Da kommen wir her. Wir können die großen Bühnen zwar spielen, aber man hat eben auch eine Präferenz. Die Leute lieben es, nah dran zu sein.

Solche Aktionen helfen euch aber sicher nicht, euren Bekanntheitsgrad zu steigern. Geht es darum überhaupt noch nach 30 Jahren?

Jakob: Nein, das ist sicher nicht das primäre Ziel. Wir wollen Platten machen und unsere Musik spielen. Oder um Sven mal zu zitieren ...

Richard: Wir sind die bekannteste unbekannte Band.

Jakob: Ach so nein, er sagt auch: Es ist immer eine freie Entscheidung, die Elements zu hören. Man kann etwas dafür tun, dass man mehr Leute erreicht, aber man kann niemanden zwingen. Und diese Lido-Shows, von denen wir eben gesprochen haben, die sind nicht zu unterschätzen: Sieben Tage in einer Stadt zu spielen, das ist ein Ereignis. Da erzählen sich die Leute davon.

Früher habt ihr im Tourbus viel Karten gespielt, meintest du mal, heute fände die einzige Kommunikation eigentlich nach den Konzerten statt, wenn zufällig noch eine Party stattfindet.

Jakob: (lacht) Der Zustand zwischen Aufstehen und dem Konzert, ja klar, das ist wie ein Tunnelblick. Ein graues Etwas. Man versucht die Zeit irgendwie rumzukriegen.

Richard: Warten auf den Bus, warten bis das Frühstück kommt, warten, warten, warten. Und irgendwann kommt dann der Moment, um den es eigentlich geht, aber der ist am Ende des Tages, und da ist man oft schon wieder kaputt.

Jakob: Ich habe jahrelang versucht, dicke Bücher zu lesen, komplizierte Sachen, weil ich dachte, ich hätte ja die Zeit und die Muße. Hat nie funktioniert. Dann habe ich Keyboards mitgenommen, weil ich tagsüber ja was komponieren könnte, aber ich habe mein Setup nicht ein Mal ausgepackt. Irgendwann habe ich aufgegeben. Ich habe akzeptiert, dass es so ist. Ich bin auf Tour einfach die ganze Zeit müde und lethargisch. Dadurch komme ich viel besser durch den Tag, weil ich nichts mehr von ihm erwarte. Ich weiß, dass ich am Ende des Tages da sein muss, aber der Rest ist mir mehr oder weniger egal, und damit geht es mir besser.

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1 Kommentar

  • Vor 7 Jahren

    Element of Crime !!!
    Der Bandname ist Kult und Programm zugleich.
    Es sind Gestandene Musiker die sich nicht mehr
    verbiegen lassen wollen.
    Ich hab sie in Remscheid gesehen und war überrascht
    vom guten Sound der Band und ihrer abgeklärten,
    hintergründigen Songsprache.