3. November 2014

"Das ist kein echtes Neubauten-Album!"

Interview geführt von

Die Einstürzenden Neubauten bringen mit "Lament" eine Platte zur gleichnamigen Performance heraus, die sich mit dem Thema 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs befasst. So lud Blixa Bargeld zum entspannten Plausch in die Hauptstadt und sprach über alte Monarchien, neue Ideen mit Brüllwürfeln und seinen Auftritt im Marlene Dietrich-Mantel mit sechs Meter langer Schleppe.

Lass uns einen schönen Plausch über das kommende Neubauten-Album halten.

Blixa Bargeld: Man muss erst mal vorausschicken: Das ist ja kein echtes Neubauten-Album! Es ist die Auftragsarbeit, eine Performance zu erstellen.

Also keine eigene Neubauten-Idee, etwas zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs zu machen?

Oh nein, es ist eine Auftragsarbeit der Region Flandern. Diese hat im Sommer 2011 bei uns angefragt, ob wir uns vorstellen könnten, eine Performance zu entwickeln und zwar als Auftakt für deren Veranstaltungsreihe, die sich über vier Jahre hinziehen wird. Thematisch gehts dabei um den Beginns des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Das heißt: Diese CD, ihre Vinylversion davon und überhaupt die gesamte Aufnahme ist im Prinzip nur der Niederschlag dieser Arbeit an einer zugehörigen Performance.

Die ganze Sache teilt sich auf dem Album und im Auftritt in vier durchgeplante Sequenzen. Von denen bilden die ersten drei den Corpus des eigentlichen Konzerts, und die vierte ist der Zugabenteil. Bei der Vinylversion wird man das besonders merken. Die ersten drei Sequenzen gehen direkt durch und müssen so laufen. Danach kommen die Zugaben, bei denen es mehr Freiheiten gibt, so dass man die Dinge in anderen Reihenfolgen spielen kann.

Dennoch nimmt es der Hörer erst mal als geschlossenes Album wahr.

Ich hoffe, dass es als solches funktioniert.

Oh ja, wenn man es hört, hat man zunächst mal - unabhängig vom Thema - den Eindruck, es gehe sehr Oldschool-mäßig zur Sache.

Der Unterschied ist folgender: Wenn wir an etwas arbeiten, was ein Neubauten-Album wäre, würden wir erst ziemlich viel Zeit darauf verwenden, Materialien, Klänge und Dinge auszuforschen. Es geht dabei darum, eine Linie zu finden, die vielleicht vorher noch gar nicht klar ist. Es soll sich dadurch etwas herauskristallisieren, mit dem man dann auch arbeiten will. Das hat sich als Ansatz in diesem Fall jedoch komplett erübrigt. Wir wussten von vorn herein, worum es geht und haben uns auf unseren Erfahrungsschatz verlassen.

Dabei stellt sich doch folgende Frage: Man möchte als Künstler Menschen erreichen. Auf der einen Seite ist "LAMENT" doch sehr, sehr unkommerziell und nichts für die breite Masse. Bekommt man auf der anderen Seite dadurch nicht auch die Angst, am Ende eventuell nur vor den Bekehrten zu predigen?

Das ist mir ehrlich gesagt vollkommen gleichgültig!

(Gelächter)

Ich mache alle Sachen letztendlich immer nur für mich selbst. Wenn sich die Neubauten diese Frage jemals ernsthaft gestellt hätten, hätten wir uns von Anfang doch gleich einen komplett anderen Stil zulegen müssen. Es ist als Performance konzipiert. Wenn wir die Proben dafür vollendet haben und der Auftritt statt gefunden hat, dann kann ich erst beurteilen, ob das jenseits der Performance als Komposition auch funktioniert. Dort sehe ich dann ja die Reaktion der Leute und bekomme selbige mit, wenn die dann auch informiert sind. Informiert darüber, dass dies eben nicht ein normales Neubauten-Konzert ist, und wir weder "Haus Der Lüge" spielen noch "Die Befindlichkeit Des Landes". Davor allerdings habe ich am meisten Angst. Nämlich, dass da Tickets verkauft werden an Leute, die keine Ahnung haben, was wir da an besagtem Abend überhaupt machen.

Blixa, das wird auch so passieren. Ging Bowie mit "Tin Machine" doch auch schon so, dass beim Gig alle "Heroes" gefordert haben.

Ja, eben! Und deswegen sage ich es auch, wo ich es kann, damit es wenigstens einigermaßen verbreitet und klar ist. Bevor jemand vor der Vorverkaufsstelle steht, ein Ticket kauft und einfach nur enttäuscht ist, dass es anderthalb Stunden nur Material gibt, das er vorher nie gehört hat. Davor habe ich viel mehr Angst als irgendwie zu gefallen oder zu missfallen und möglichst viele damit zu erreichen.

Dann hast du bei deiner Botschaft im Grunde gar kein missionarisches Bewusstsein?

Nee, nee, nicht missionarisch und keine Botschaft, keine Message, kein Lehrer, kein Schulbuch!

Sehr gut!

Ja, denn das sind doch alles solche Seitenwegen und Fettnäpfchen, die man vermeiden sollte. Es wäre doch viel zu einfach, in so einem Fall daneben zu treten und bei einem didaktischen Level zu landen. Da gäbe es noch viel mehr Fehltritte, die man sich da leisten könnte. Stattdessen war es mein Ausgangspunkt - und den musste ich der Band auch erst mal vermitteln - nicht die Gleichung Einstürzende Neubauten = Krach = Krieg zu befriedigen.

Das wäre ja auch totales Scheitern durch die Bedienung eines Klischees.

Genau! Gleichwohl machen wir relativ ungezügelt Krach. Aber dieses dauernde, sehr belliziöse Getöse wollte ich vermeiden.

Genau das jagt dem Hörer auch einen Schauer nach dem anderen über den Rücken.

Dass das nicht da ist?

Ja, bzw. dass es nur im Wechsel da ist. In jenen Momenten, wo man sich ohne die Störgeräusche auf die Worte und deinen Gesang konzentrieren kann, wirken doch die scheinbar ruhigen Passagen psychologisch wesentlich erschütternder. Zumindest mir ging es so. Hat man erst mal den Anfangskrach des Openers hinter sich gebracht, kommt mit den Hymnen euer sehr interessanter Zusammenschnitt von Originaltexten all derer, die von Deutschland bis Großbritannien die "God Save The Queen"-Melodie nutzten.

Weißt du, welches die Originalversion ist?

"God Save The Queen"?

Nee, es war die dänische Nationalhymne "Heil Christian Dir". Der Hintergrund dabei ist natürlich nicht nur, einfach die verschiedenen Hymnentexte aneinander zu montieren, sondern folgender: Nachdem wir aus dem ersten Stück dieser Kriegsvorbereitung namens "Kriegsmaschine" kommen, die in einem tausendfachen Hurra endet - also diesem Begeisterungssturm, dass alle nun den Krieg wollen - ist Europa zu diesem Zeitpunkt immer noch überwiegend, mit der Ausnahme Frankreichs, ein Gebilde aus Monarchien.

Wobei zumindest England unter diesen eine bereits ernstzunehmende konstitutionelle Monarchie war.

England ist schon damals in der Tat eine konstitutionelle Monarchie, bei der man auch unterstreichen kann, dass sie konstitutionell war. Das hat letztendlich die Monarchie in England auch nach dem Ersten Weltkrieg gerettet. Während die Monarchien sonst in Europa ja reihenweise weggebrochen sind. Ein Punkt war ja auch, wie unglaublich die meisten Königshäuser miteinander verwandt waren.

Du meinst das inzestuöse Element?

Ja, George, Nicky und Willy haben alle dieselbe Großmutter.

Queen Victoria?

Klar, Victoria, die ja wiederum Deutsche war. Deshalb haben wir im Booklet auch ein kleines Diagramm, das verdeutlicht, wie verwandt die alle miteinander waren. Nicky heiratet eine Dänin. Die anderen sind dann Engländer, die mit dem dänischen Haus verheiratet sind. Es gab ja auch diese große Animosität zwischen den Deutschen und den Dänen, weil Bismarck einfach mal so einen Krieg mit den Dänen anfing, weil sie den Nordostseekanal bauen wollten. Das alles ist der Hintergrund dabei, diese Hymnen so miteinander zu montieren.

So dass euer Lied also die immer gleiche Melodie plus austauschbare Texte in austauschbaren Sprachen derart auf den Punkt bringt, dass der Hörer automatisch denkt: Im Grunde ist es doch komplett egal, welches Land und welche Variante - am Ende geht es überall nur um das eine: Blut und Tod fürs Vaterland?

Das wäre eine denkbare Aussage. Aber ich zitiere nur die Hymnen.

Danach beschäftigt ihr euch mit dem eigentümlichen, fast zärtlichen Briefaustausch Kaiser Wilhelms mit Zar Nikolaus. Kuschelbriefe innerhalb Julikrise und fettestem Brinkmanship als totaler menschlicher Realitätsverlust? Hat euch das daran gereizt?

Zur selben Zeit als Russland die Krim annektierte und man sich auch sehr denken könnte: Das könnten auch langsam die Angie-Wladi-Emails heißen.

Du vergleichst damals mit heute. Ihr als Neubauten habt in euren Anfängen im düsteren New Wave-Berlin doch auch den ganzen damaligen Grusel à la Angst vor dem Atomkrieg etc. mitbekommen.

Als Westberliner gab es auf jeden Fall diese Präsenz des kalten Krieges als realer Gefahr. Das bekam man schon als Kind und auch später mit. Wenn dann mal irgendwo ein Flugzeug ganz besonders laut brummte, fing man schon an, dran zu denken.

Wenn man diese Kontinuität sieht - Weltkrieg/Kalter Krieg/Angie-Wladi - könnte man doch den starken Eindruck bekommen, die Menschheit hat bis heute nichts dazu gelernt?

Ob die Menscheit etwas gelernt hat ...

.. Ist dir auch Latte?

Nee, das wage ich nicht zu beurteilen. Aber ich habe zumindest so viel in dieser Arbeit begriffen, dass der Zweite Weltkrieg sowieso nur die Fortsetzung des Ersten Weltkriegs war. Das ist aber keine neue These.

"Man arbeitet da mit Stimmen von Toten"

Rein musikalisch betrachtet, stachen mir vor allem die Percussion in "Der 1. Weltkrieg" und das tolle erste "Lament" ins Auge. Letzteres erinnert mich etwas an "Fiat Lux".

Ja, das stimmt auch. Es ist etwas von "Fiat Lux" drin. Wir haben sowas erstmals angefangen mit diesem gemeinsamen Chorgesang bei "Grundstück", falls dir das was sagt.

Das damalige Album als Release für die Fans?

Ja genau! Da haben wir erstmals so angefangen. Wie gesagt: Wir haben uns für diese Arbeit nicht selbst kopiert, aber auf sehr viele Erfahrungen zurückgegriffen, die schon da waren. In der Tat haben wir diese Choridee wieder aufgegriffen. Seitdem ist ja auch die schimmernde Slidegitarre da und wird immer mal wieder verwendet. Hieraus entwickelt sich das Ganze dann immer weiter in dieses dreiteilige "Lament"-Konzept. Ursprünglich wollte ich daraus ein dreiteiliges Chorstück machen, um auch dieser Idee des Klagegesangs gerecht zu werden. Aber es wuchs nicht weiter als bis zu dem einen Satz.

Das war also kein Kalkül?

Nein, war es nicht. Es wuchs einfach nicht weiter. Das muss bei mir ja immer in so einer Art Wechselspiel zwischen dem Schreiben und dem Musizieren passieren. In diesem Fall war einfach zuerst die schimmernde Gitarre da, damit alle einen Grundton haben. Dann fängt der Chor an. Den mussten wir mehrmals aufnehmen, bis wir eine technische Lösung gefunden haben, wie man das am besten machen kann. Auch um es hinterher live machen zu können. Daraufhin wusste ich immer: Wenn die Schichten voll sind, kann ich anfangen, Texte draufzusetzen. Das sollte dann umschlagen in einen neuen Satz, einen neuen Chorausflug.

Aber der eine Satz blieb der eine Satz und deshalb wurde es als zweites "Lament" etwas ganz anderes. Da kommt nämlich dann die sogenannte "Abwärtsspirale". Das ist eigentlich Rudolfs Werk. Rudolf Moser hatte die Idee dieser Abwärtsspirale, die eingezwängt ist in 1-9-1-4 und 1-9-1-8. Dem folgt die achtstimmige Motette eines flämischen Rennaissance-Komponisten - "Pater Peccavi". Das war deswegen wichtig, weil: Es gibt ja keine Tondokumante aus dem Ersten Weltkrieg, da im Prinzip keinerlei Tonaufzeichnungsverfahren vorhanden sind. Das einzige, was es gibt, ist der Edison-Phonograph. Wachswalzen! Und von denen sind die einzigen, die direkt mit diesem Krieg zu tun haben, in Berlin. Und zwar in der Humboldt-Universität im Lautarchiv. Da haben die Linguisten die Kriegsgefangenen ausgeforscht. Und im ehemaligen Musikethnologischen Institut der FU in Westberlin. Da haben die Musikologen dasselbe getan. Die haben die Gefangenen also gezwungen, Beispieltexte zu sprechen oder Lieder aus ihrer Heimat zu singen und so weiter.

Das Interessante dabei war, dass einer dieser Beispieltexte, die sie auf diese Kriegsgefangenen angewendet haben, das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus dem neuen Testament ist. Wahrscheinlich, weil eben die Bibel in all diesen Sprachen verfügbar war. Da sind ja auch Sprachen bei, die heute vielleicht ausgestorben sind. Okzitanisch, korsisch, sardisch, es gab ein unglaubliches Völkergemisch in diesen preußischen Kriegsgefangenenlagern. Ich konnte nicht widerstehen, durch diese offene Tür zu gehen und diese beiden Dinge miteinander zu verbinden.

Das kann ich mir vorstellen

Das Problem dabei war, dass diese Quellen zwar allesamt vorbildlich digitalisiert sind, wenn auch von horribler Tonqualität. Aber dass es einfach nicht angebracht ist, in diesem Zusammenhang Geschmack walten zu lassen. Man darf in diesem Zusammenhang doch nicht sagen: Mir gefällt diese Stimme besser als eine andere. Ich finde das Knistern hier zu laut oder Ähnliches.

Weil die Historie und die Würde der Gefangenen im Vordergrund steht?

Weil: Man arbeitet da mit Stimmen von Toten, die diese Aufzeichnungen unter Druck als Gefangene von sich gegeben haben. Da kann ich nicht sagen: Ach, die Stimme von dem gefällt mir nicht.

Das erwartet doch auch niemand.

Naja, du musst ja dennoch eine Lösung finden, wie das dann zu verwenden ist. Sonst endest du an dem Punkt, wo das Ganze nur noch ein Klangeffekt hat. Das wäre einfach respektlos und unangebracht. Wir spielen die Stimmen mit sogenannten Brüllwürfeln, ganz kleine fünf mal fünf Zentimeter-Lautsprecher, die man in der Hand halten kann. Wir spielen die auf der Bühne, als würden wir rohe Eier oder kleine verletzliche Tiere in der Hand halten. Und dann lassen wir die frei. Gestern sprach ich mit jemandem, der sagte, er habe nichts verstanden. Das Problem lässt sich vielleicht auch gar nicht lösen. Deren Sprachen spricht ja keiner von uns.

Und bei der Tonqualität sind die tollen Brüllwürfel dann ja leider auch keine Hilfe.

Nee, aber ich will ja auch gar keine Hilfe von der Tonqualität. Es wird diesem Material sogar durchaus gerecht. Die Walzenrecordings haben ein Frequenzspektrum, das ist so eng. Das kannst du auch mit dem kleinsten Lautsprecher heute wiedergeben. Da verliert man nichts. Es geht mehr um die Handhabbarkeit solchen Materials. Wir haben mit diesen Brüllwürfeln tatsächlich an Seilen experimentiert. Ursprünglich wollte ich die überall im Saal aufhängen. Das endete dann tatsächlich mit einer Performance. Der wichtige Schritt dabei war eigentlich mehr, zu sagen, man greift nicht in dieses Material ein. Es wird weder bewertet noch ausgewählt. Sonst öffnete man wirklich die Tür zum Vorwuf: Ihr macht da jetzt Klangeffekte aus Kriegsgefangenen.

Das wäre auch sofort gekommen. Die ganzen Leute, die einen schon immer gehasst haben, warten doch nur auf sowas.

Kommt sowieso, kommt sowieso.

"Das ist quasi Protojazz"

Was ihr hingegen sehr bewusst ausgewählt habt, ist erstmals Blackmusic. Der gute James Reese Europe als Ragtime-Gott mit seiner Hellfighter-Kapelle taucht auf einem Neubauten-Album auf.

Genau, das ist quasi Protojazz und liegt noch vor dem Jazz als etabliertem Begriff. Mir hat allerdings eben jemand gesagt, James Reese Europe wäre schon ein Jahr später erstochen worden. Ich wusste zwar, dass er erstochen wurde, aber nicht, dass es schon 1919 war.

Ja, das stimmt auch. Vom eigenen Drummer.

Genau, vom Drummer. Aber es ist doch in Deutschland und in Europa eine relativ unbekannte Geschichte. In Amerika mag das wohl Teil der Musikhistorie sein. Aber ich kannte die Harlem Hellfighters vorher nicht. Deshalb habe ich ja extra mit zwei Wissenschaftlern zusammen gearbeitet, die mich mit Material versorgen sollten, was möglichst unbeleuchtete Ecken dieser ganzen Weltkriegsnummer ans Tageslicht zerren kann.

Vor allen Dingen sind die Hellfighters nicht ganz unverantwortlich für den Jazzboom, der in Frankreich stattfand. Man hat ja diese ganze Infanteriedivision nur unter großem Protest ins Leben gerufen, weil das gegen die Rassentrennung verstieß. Es waren weiße Offiziere mit schwarzen Soldaten. Die Amerikaner haben sich aus dieser Situation heraus laviert, indem sie die nach Frankreich verschifft und den Franzosen unterstellt haben. Sie dienten also offiziell in der französischen Armee mit gemischten amerikanisch-französischen Uniformen. Die französischen Offiziere hatten überhaupt kein Problem damit, welche Hautfarbe die Soldaten hatten.

Deshalb also konnte Reese Europe überhaupt nur Offizier werden. sonst wäre er gar kein Leutnant geworden?

Genau! Die Deutschen hatten ja eine unglaubliche Angst vor denen. Deshalb heißt es im Text ja auch "These men are devils. You can never catch them alive!". Nie wurde auch nur ein einziger der Harlem Hellfighters gefangen genommen. Ich bin also sicher, dass dieser Dienst in der französischen Armee sehr viel mit der wachsenden Popularität des Jazz in Frankreich zu tun hat. Und genau diese Aufnahmen, die sie gleich nach ihrer Rückkehr gemacht haben, sind ja auch von keiner amerikanischen Plattenfirma, sondern von einer französischen namens Pathé.

Musikhistorisch wäre es dann ja auch mal interessant, nachzuforschen, ob sogar Leute wie Django Reinhardt davon beeinflusst waren.

Das wäre durchaus denkbar.

Das einzige Lied, das mir auf der Platte nicht gefällt, ist eure Version von "Sag Mir Wo die Blumen sind".

Macht nix! Das kann ich mir schon vorstellen.

Kannst du dir auch denken, warum?

Hmm .. nee, erzähl mal.

Ich sah den Titel in der Tracklist und freute mich schon. Da hatte ich natürlich im Kopf, wie du andere Klassiker à la "Sand" oder "Johnny Guitar" gebracht hast. Ich dachte: Jetzt legt Blixa gleich richtig sinnlich los. Das klingt aber schon recht steril im Vergleich.

Wir haben das alles probiert. Neubauten sind mit dem Lied schon 14 Jahre schwanger. Wir haben das vor 14 Jahren angefangen und dann wieder beiseite gelegt. Es kam einfach in dieser Arbeit noch mal auf, zu sagen: Wollen wir das nicht noch mal versuchen? Denn es ist natürlich eines der archetypischsten Antikriegslieder überhaupt. Das geht durch verschiedene Generationen von Bearbeitungen. Schon seit Pete Seeger. Bei ihm hat es schon die zyklische Struktur. Der ist übrigens einen Tag nachdem wir anfingen, daran zu arbeiten, gestorben.

Und dann gibt es die Übersetzung von einem deutschen Emigranten in Hollywood, nämlich Max Colpet. Der war Drehbuchautor von Billy Wilder. Der hat sogar zwei Strophen mehr hinzu gedichtet. Daraufhin sagte Seeger, er finde die deutsche Version besser als das Original. Und nach dem Krieg, als Marlene Dietrich - die ja nun definitiv eine Antifaschistin war - anfing, ihre Gesangskarriere auszubreiten, hatte sie als ersten Arrangeur Burt Bacharach. Der hat ihr diese Version geschrieben, bei der die zyklische Struktur zwar erhalten bieb. Aber es wandert in den Tonarten erst immer weiter hoch und dann wieder herunter. Das hat mich immer fasziniert. Wir haben das in den unterschiedlichsten Arten versucht. Auch richtig als Bandversion mit E-Gitarre. Aber das hat nie recht gestimmt. Das war immer falsch. Wenn ich an solchen Sachen arbeite, bin ich ziemlich viel wach, und im Halbschlaf denkt mein Kopf ohne mein Zutun weiter über die Dinge nach.

Dann kommen diese Erkenntnisse. Irgendwann wurde mir klar: Es muss A-capella sein. So habe ich es dann gemacht. Wir nennen das gestütztes A-capella mit den minimalen Effekten dazu. Durch diese Reduktion entsteht ein gewisser Zynismus und auch dadurch, dass ich an entscheidenden Stellen das Wort weglasse. Wir mussten sehr lang daran arbeiten, damit es überhaupt Neubautenesquewurde. Das geschah erst durch diese Reduktion. Es ist tatsächlich eines dieser Stücke, bei denen wir alle nebeneinander im Raum stehen und es zusammen spielen. Wir machten das so lange, bis wir den goldenen Take hatten.

Simultan und zack!

Ja, wäre schön gewesen. Aber meistens dauert sowas wesentlich länger. Mir ist vollkommen klar, dass das Lied innerhalb dieser ganzen Sequenzierung ein Fremdkörper ist. Also sieh es einfach als eine mögliche Zugabe, die im Konzert dann passieren kann. Ich habe mir dafür übrigens Marlene Dietrichs weltberühmten Federmantel rekreieren lassen. Von einer Kostümbildnerin. Das Original befindet sich hier im Filmmuseum in Berlin und hat eine sechs Meter lange Schleppe und besteht aus Schwanendaunen. Meiner ist aus Papier! Sieht aber fantastisch aus.

Du trägst das Ding dann auch auf der Bühne?

Ja natürlich! Deshalb ist das Lied ja auch eine Zugabe. Ich muss doch rausgehen und erst den Mantel anziehen. Alles endet mit dem Stück "How Did I Die" und den Toten, die wieder zurückkehren. Dann ist Abgang, und danach komme ich wieder raus mit dem Mantel.

Bei "How did I Die" dachte ich sofort: Im Gegensatz zu früher könnte der Untertitel hier lauten 'Der Tod Ist K e i n Dandy'.

Wenn du dich noch an "Der Tod Ist Ein Dandy" erinnerst: Das war ja unsere Erfindung des Schabens. Da haben wir angefangen, mit Stahlträgern und großen Metalldeckeln über das Metall zu schaben, was eine Unmenge quietschenderr Obertöne produziert. Das haben wir auf dieser Platte bis zum Geht-nicht-mehr verwendet. Das Schaben haben wir aus der uralten 1981-Kiste herausgeholt.

Nun haben die Neubauten im eigenen Land ja oft zu Unrecht das Image, eine verkopfte und humorlose Band zu sein. Ich finde das etwas schade, weil es sehr viele humoristische Momente in Texten und Darbietung gibt.

Ja, aber es hat ab und zu zum Glück schon mal jemand bemerkt.

Du fühlst dich da insgesamt nicht missverstanden?

Ach, natürlich fühle ich mich missverstanden. Aber wenn ich mich auf das Gefühl einlassen würde, missverstanden zu werden, hätte ich ja nur noch miserable Tage. Das muss ich eben wegstecken.

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