28. Mai 2015

"Katy Perry ist das kleinere Übel"

Interview geführt von

Alle Mann in Deckung! Auch auf ihrem zehnten Studioalbum "American Spring" weisen die Jungs von Anti-Flag wieder mit Nachdruck auf globale Missstände hin.

Die Zeiten, in denen sich Punkrock primär durch eine Anti-Haltung weltweit Gehör verschafft hat, gehören der Vergangenheit an. Mittlerweile wurde das einst so biestige Underground-Genre mit Haut und Haaren vom Mainstream gefressen. Nur noch wenige Bands der Branche halten dagegen, spucken weiter Gift und Galle, und lassen sich nicht unterkriegen.

Anti-Flag ist eine dieser Bands; ein Kollektiv, das nun schon seit 20 Jahren mit gehobenen Stinkefingern durch die Lande marschiert. Und das ist auch gut so. Die Welt steht schließlich am Abgrund. Zumindest bekommt man diesen Eindruck, wenn man morgens die Zeitungen aufschlägt. Berichte über Bürgerkriege, Terror, Flüchtlingsdramen und die nicht enden wollende Gier nach Macht und Geld bestimmen die Nachrichten.

War das nicht schon immer so? Mag sein. Für Menschen wie Justin Sane, Patrick Bollinger, Chris Head und Chris Barker aber noch lange kein Grund, die Füße stillzuhalten. Ganz im Gegenteil. Mit ihrem zehnten Album "American Spring" halten Anti-Flag der Gesellschaft mehr denn je den Spiegel vor Augen. Wir trafen uns in Berlin mit Chris Barker und hörten ganz genau hin.

Hi Chris. Von zehn Bands, die ich interviewe, geht es neun Bands primär um den Spaß am Musizieren. Sie wollen eine gute Zeit haben, und freuen sich, wenn ihre Fans nach den Konzerten mit einem Lächeln nach Hause gehen. Ihr hingegen wollt die Massen wachrütteln, sie mit den Schattenseiten des Lebens konfrontieren und ihnen eine Botschaft mit auf den Weg geben. Warum?

Chris Barker: Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, du bist echt der erste, der mir nach zwanzig Jahren Anti-Flag diese Frage stellt. Unglaublich, oder?

Absolut. Und? Hast du eine Antwort parat?

Nun, zunächst einmal möchte klarstellen, dass ich es durchaus nachvollziehen kann, wenn man als Band zusammenfindet, um eine gute Zeit zu haben. Es ist auch völlig ok, über die große Liebe, das Wetter, über schnelle Autos oder ausschweifende Partys zu singen. Das macht alles Sinn, keine Frage. Diese Dinge existieren ja.

Als wir anfingen mit der Band, haben wir uns auch erst über die Musik identifiziert. Das mit den Texten war ein Prozess, der allerdings ziemlich schnell ins Rollen kam. Irgendwann steckten wir einfach richtig tief drin. Und wir wollten da auch nicht mehr raus. Dafür gab es einfach zu viel Düsteres auf der Welt, auf das wir hinweisen wollten. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Leider.

Was wäre denn, wenn plötzlich überall auf der Welt die Sonne scheinen würde? Wäre das der Tag, an dem ihr die Band auflösen würdet?

Gute Frage. Ich glaube schon. Andererseits wäre es vielleicht aber auch mal interessant herauszufinden, wie wir wohl klingen, wenn wir eine Party-Platte aufnehmen würden. (lacht)

Wäre doch eine Herausforderung, oder?

Auf jeden Fall. Ich meine, was klar sein sollte: Wir singen nicht über all diese schrecklichen Dinge, weil wir es toll finden, dass die Welt im Arsch ist. Ich bete dafür, dass irgendwann einmal der Tag kommt, an dem die ganze Welt nur noch zu Katy Perry-Songs mitträllert. Das würde nämlich bedeuten, dass es keine Probleme mehr auf der Welt gibt.

"Wir wurden nach jedem zweiten Konzert von stumpfen Patrioten durch die Straßen gejagt"

"Roar" und Co den ganzen Tag lang? Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, ob ich in so einer Welt würde leben wollen.

(lacht) Es wäre aber definitiv das kleinere Übel, meinst du nicht?

Da hast du natürlich Recht. Nervt es dich eigentlich, dass ihr mittlerweile fast die Einzigen in der Branche seid, die die Dinge klar ansprechen?

Die Entwicklung ist schon etwas besorgniserregend; da muss ich dir leider zustimmen. Für mich ist beispielsweise das letzte Run The Jewels-Album das beste Stück Punkrock seit über zehn Jahren. Das sagt eigentlich schon alles. Ich verstehe die Entwicklung auch nicht so richtig. Im Jahr 2004 waren irgendwie alle involviert und engagiert. Fast jede zweite Platte hatte einen politischen Background.

Zehn Jahr später ist davon nicht mehr viel übrig. Manchmal fühlen wir uns wie eine Band, die auf einer Insel lebt. Das ist schon ziemlich frustrierend. Aber es wird auch wieder aufwärts gehen. Es gibt durchaus vielversprechende DIY-Bands, die ihr Ding durchziehen und kein Blatt vor den Mund nehmen. Da kommt was nach. Das lässt mich hoffen.

Alle Last auf den Schultern der Jugend?

Wir haben doch alle klein angefangen. Wichtig ist einfach nur, dass die Kids am Ball bleiben und sich nicht aussortieren lassen. Ich kann mich noch gut an unsere Anfangstage erinnern. Da wurden wir fast nach jedem zweiten Konzert von stumpfen Patrioten durch die Straßen gejagt. Man warf uns Anti-Amerikanismus vor und wollte uns am liebsten auf der Stelle in Grund und Boden stampfen. Aber wir haben uns nicht unterkriegen lassen. Wir sind weiter marschiert. Deswegen kann ich auch heute noch auf der ganzen Welt über unsere Musik sprechen. Durchhaltevermögen ist wichtig.

Und den Mut zu haben, Risiken einzugehen.

Exakt. Genau daran hapert es nämlich momentan. Gerade die großen Acts kriegen den Mund nicht mehr auf. Dabei könnten sie so viele Menschen erreichen. Stattdessen wird gefeiert, gesoffen und auf dicke Hose gemacht. Das ist schon traurig. Aber es hapert ja nicht nur an großen Bands mit Eiern.

Was fehlt noch?

Es fehlt nichts. Das ist ja das Schlimme. Wir haben die Dinge sogar im Überfluss, die das Bewusstsein der Menschen verändern könnten. Sie werden nur nicht genutzt.

Von welchen Dingen redest du?

Social-Media! Facebook, Twitter und wie sie alle heißen. Es ist heutzutage leichter denn je, auf Missstände hinzuweisen. Aber dahingehend passiert noch viel zu wenig.

"Die Leute müssen einfach begreifen, dass die Scheiße direkt vor ihrer Haustür parkt"

Viele Leute beschweren sich darüber, dass die Plattformen mittlerweile völlig überladen sind.

Ja, das sind sie auch. Aber mit was? Du findest ein Video über den Fall Mike Brown, eingequetscht zwischen Sneakers-Werbung und Bildern von irgendwelchen Tieren, die lustige Sachen machen. Der Fokus stimmt einfach nicht. Die Leute müssen einfach begreifen, dass die Scheiße direkt vor ihrer Haustür parkt. Es passiert doch überall Furchtbares. Polizistengewalt, Terror, Flüchtlingsboote, die im Mittelmeer versinken, während alle wegschauen: Das ist die Realität.

Und sie ist präsent. Überall. In Amerika, in Syrien, in Italien. Man muss nur die Augen aufmachen. Und genau das ist es, was wir mit unserer Musik erreichen wollen. Insbesondere mit unserem neuen Album. Wir wollen, dass die Leute wieder sehen, hören und fühlen, was um sie herum passiert. So lange der Mensch das Gefühl hat, dass alles Schlimme weit weg ist, wird sich an der derzeitigen Situation nichts ändern.

Ihr setzt euch auf dem neuen Album auch verstärkt mit euren eigenen Gefühlen auseinander. Ein schwieriger Prozess?

Ja, das war nicht einfach. Vor allem für mich war es eine Herausforderung. Nach dem Tod meiner Schwester (Chris Barkers Schwester wurde im Jahr 2007 Opfer eines tödlichen Gewaltverbrechens) fiel ich in ein tiefes Loch. Alles um mich herum spielte keine Rolle mehr. Ich konnte nicht mehr. Die Band und meine Familie fingen mich zwar auf. Aber tief in mir entstand eine Leere. Ich brauchte viel Zeit, um wieder halbwegs klar denken zu können.

Kurz vor den Aufnahmen für unser neues Album scheiterte auch noch meine Beziehung. Wir waren 17 Jahre zusammen glücklich. All das hat aus mir einen sehr emotionalen Menschen gemacht; einen Menschen, der ein Ventil braucht, um all die angestaute Trauer irgendwie rauszulassen. Da bietet sich die Musik natürlich an. So entstand beispielsweise der Song "Brandenburg Gate".

Das Brandenburger Tor war ja jahrzehntelang isoliert. Hast du dich auch so gefühlt?

Ja, genau so. Ich war zwar da, aber gehörte irgendwie nirgends hin. Es war so, als hätte jemand einen Zaun um mich herum errichtet.

Heute spaziert die ganze Welt durchs Brandenburger Tor. Es ist wieder frei. Wie sieht's bei dir aus?

(Lacht) Ich arbeite an diesem Zustand. Und der Song hilft mir dabei; denn es steckt auch viel Hoffnung in dem Text.

Wie sieht es in punkto Hoffnung mit dem Rest der Welt aus?

Wenn dich jemand um Hilfe bittet, wie lautet deine Antwort?

Immer doch.

Das habe ich mir gedacht. So würden wahrscheinlich die meisten Menschen reagieren. Und genau das macht mir Hoffnung. Das Gute steckt nämlich in uns. Selbst die schlimmsten Kerle da draußen tragen es in sich. Es muss halt nur aktiviert werden.

Gibt's dafür denn einen Schalter?

Der Schalter ist das Leben. Das Bewusstsein dafür, dass das Leben immer an erster Stelle steht, muss wieder in die Köpfe der Menschen rein.

Klingt simpel.

Ist es auch. Aber im Leben ist der gerade Weg nicht immer der, den sich die Menschen aussuchen. Da wo es sich schlängelt, stehen Verlockungen Spalier: Geld, Macht, der ständige Wettbewerb - das bringt die Menschen auf Abwege.

Also immer schön der Nase nach?

Ja (lacht). Wenns nur so einfach wäre. Aber ich glaube an die Menschheit.

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