laut.de-Kritik

Verzweiflung, Krankheit, Sex, Hass und Gewalt.

Review von

Jamie Stewart, Xiu Xiu-Mastermind, hat ein heißes Bad eingelassen, Kerzen angezündet und Musik aufgelegt. Einige Sekunden schaut er an sich hinunter, der Blick bleibt am dünnen Handgelenk hängen. Minutenlang starrt Jamie auf das blaugrüne Adergeflecht, gleichmäßig geht sein Puls. Weitere Sekunden vergehen. Dann legt er die Rasierklinge langsam wieder beiseite, greift zum Papier und notiert: "It's impossible to just keep on living / please please please / don't don't don't / walk like my single hope".

So pathetisch dieses Bild, so pathetisch die Musik. Und doch: Jamie Stewart ist ein Genie. Die Klänge, die in seinem Kopf entstehen, entbehren im Grunde jeder Klassifizierung. Es sind Experimente, Selbstportraits aus nächster Nähe. Eine manisch-depressive, exzentrische Persönlichkeit auf Albumlänge. Postrock, Noise, Synthiepop und Folk, gleichzeitig zerbrechlich und brachial, dramatisch und drängend, ängstlich und kathartisch. Wer glaubt, alles schon einmal gehört zu haben, folgt Xiu Xiu auf ihrem vierten und dunkelsten Output durch verschlungene Pfade ins Dickicht des Waldes: La Forêt.

Hier herrscht eine entblätternde Finsternis, der Blick wird frei auf seelische Abgründe, die Außenstehende befremden, verwirren, ja sogar verstören können. Tief im Innern wuchern Verzweiflung, Krankheit, enttäuschte Zuneigung, Sex, Hass und Gewalt. Der nur gehauchte Beinahe-Suizid "Clover" geht über in das typische Xiu Xiu-Stück "Muppet Face" - wenn es so etwas denn überhaupt gibt. Stewarts feminime Stimme (Conor Oberst trifft Robert Smith) jagt in hoher Lage Schauer der Beklemmung über den Rücken, nur um in der Strophe wieder in schüchternes Flüstern zu verfallen. Ohrenbetäubende Housebeats und ein Harmonium erzeugen den Klangkosmos einer faszinierenden, aber feindlichen Welt.

Wie ein angeschossenes Tier verfällt der Protagonist in "Rose Of Sharon" in tiefstes Selbstmitleid: "It's light outside when you finally see the quiet failure sleeping next to you", intoniert er und versinkt bleiern in einem hoffnungslosen Meer aus Geigen, Cello und Kontrabass. Die düstere Kindheitserinnerung "Pox" wartet mit infernalen Space Commander-Synthies, fiebrigem Piano und bedrohlicher E-Gitarre auf.

Auf dem Vorgänger "Fabulous Muscles" brandmarkten Xiu Xiu in blutigen Kriegsfotografien blinden Soldatengehorsam, jetzt rollen in Rückgriff auf die griechische Mythologie die Köpfe ganz oben. Als Gott Saturn, der der Legende nach seinen eigenen Sohn fraß, kündigt Stewart in einem Anfall rasenden Hasses dem US-Präsidenten zwischen Wellen aus dissonantem Industrial die wortwörtliche Auslöschung an: "George, when it comes to bedtime my sweetness will not go to waste / I will shoot this arrow right up anus and you'll taste what we taste".

Ein eher hysterisches denn bösartiges Ausrufezeichen setzt "Bog People", das drei Minuten lang mit Autoharp und markerschütternden Schreien die Zwangsjacke überstülpt. Anschließend erzählt ein fragiler Jamie Stewart an der Akustikgitarre ein Hexenmärchen über Verlust, Verfall und Todessehnsucht. Das Finale "Yellow Raspberry" inszenieren Xiu Xiu als perkussiven Marsch in die Verdammnis. Ein letztes Mal brechen Welten zusammen: "You became a faggot dressed like a bunny / beating off nonstop to the escort pages / what has changed as you tell the mirror hello".

Nebenbei gehört, vermag dieses Trojanische Pferd am Ohr als bloßer Lärm vorbeizuziehen. Es bedarf des unbedingten Willens, die Musik geschehen zu lassen, von Szenenbeschreibungen voller Schmerz berührt zu werden. Dann nimmt "La Forêt" gefangen und entfaltet eine unheimliche Anziehungskraft. Wie ein Kollege zur Veröffentlichung der letzten Platte richtig schrieb: Xiu Xiu machen Alben jenseits des Genusses. Unwirkliche Wirklichkeit, die der Entdeckung harrt.

Trackliste

  1. 1. Clover
  2. 2. Muppet Face
  3. 3. Mouse Toy
  4. 4. Pox
  5. 5. Baby Captain
  6. 6. Saturn
  7. 7. Rose Of Sharon
  8. 8. Ale
  9. 9. Bog People
  10. 10. Dangerous You Shouldn't Be Here
  11. 11. Yellow Raspberry

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