laut.de-Kritik

Wardruna perfektionieren ihren Sound.

Review von

"Die Vergangenheit zu kopieren oder seinen liebsten Runenstein abzulesen ist nicht sehr schwierig – aber Altes zu nehmen und daraus etwas Neues zu schaffen, das ist eine Herausforderung“, erklärt Einar Selvik im Interview. Dieser Devise folgt er seit nun beinahe 20 Jahren im Projekt Wardruna. Gerade in der zweiten Hälfte der 2010er erfuhr er – auch, oder vielleicht sogar vor allem dank eines prominenten Serien-Features – damit ungeahnten Popularitätsschub. Die einstige Nische wuchs in große Hallen, wurde international und fand Nachahmer. Letztere bleiben hier bewusst namentlich ungenannt, denn ernsthafte Vergleiche verbitten sich angesichts des weiterhin immensen Qualitätsunterschieds im Grunde völlig. Wardruna spielen in ihrer eigenen Liga, das zeigt "Kvitravn" noch deutlicher als die Vorgängeralben.

Manchen wird der Albumtitel an Selviks Karrierebeginn im Black Metal erinnern, als er unter anderem bei Gorgoroth trommelte. Immerhin firmierte er damals offensiver als heute unter seinem Künstlernamen 'Kvitravn', womit er eine totemische Beziehung zum "weißen Raben" ausdrückt. Mit der damaligen Musik hat das neue Album freilich rein gar nichts zu tun, mit Selviks persönlicher Ebene ebenfalls weniger als man durch die Querverbindung annehmen könnte. "Ich wählte nicht den weißen Raben als Albumtitel wegen meines Künstlernamens", betont er, "sondern aufgrund der Ideen, die mich ursprünglich dazu inspirierten, diesen Namen anzunehmen."

Diese Ideen wurzeln im Animismus, grob gesagt dem Glauben an "beseelte" Natur, und dessen in nordischer Mythologie überlieferter Tradition. Wir begegnen etwa dem Phänomen "Viseveiding", dem "Liederjagen", wo es darum geht, die Natur in Klängen zu entschlüsseln. Sämtliche Texte liefern Wardruna im Booklet auf Englisch mit, um dem des Altnordischen nicht mächtigen Großteil der Hörerschaft die Inhalte ebenfalls zu vermitteln. Sonst fehle doch die Hälfte, meint Selvik. Teils basieren die Texte auf alten Schriften oder Gedichten, er spinnt daraus seine eigenen Weisen, bleibt aber immer bewusst interpretationsoffen.

Zwingend nötig, um die Musik Wardruna wertschätzen zu können, ist eine Beschäftigung mit den Texten allerdings nicht. Im Gegenteil: Die Mystik des Unverständisses hilft manchem vielleicht sogar dabei, in ihr zu versinken. Denn sind wir ehrlich: Egal, was gerade erzählt wird, es klingt einfach wunderschön, wenn Selvik und seine Duettpartnerin Lindy-Fay Hella ihre Worte in kunstvolle Mehrstimmigkeit gießen. Im erhabenen letzten Stück "Andvevarljod" stoßen außerdem die für ihre Verdienste in norwegischer Volksmusik mit dem Sankt-Olav-Orden geehrte Sängerin Kirsten Bråten Berg sowie deren Tochter Sigrid zum Vokalensemble. Die Melodien entfalten sich hier unter düsterem Gewitterhimmel.

Wie üblich arbeitete Selvik ausgiebig mit Field Recordings, bettet sie diesmal aber subtiler ein als in Teilen der "Runaljod"-Trilogie, wo sie manchmal etwas zu dominant wurden und kompositorische Elemente verdrängten. "Kvitravn" baut er dichter, fokussierter. Die Produktion gewinnt an Kraft. Das Songwriting gerät dabei im Kern denkbar einfach: Oft fußen die Stücke, zum Beispiel der hypnotische Titeltrack, auf nur einer zentralen Melodie. Das macht sie trotz vieler Verästelungen im Instrumentalbett leicht zugänglich, und bereitet den Boden für den wahren Zauber Wardrunas: die Arrangements, das dynamische An- und Abschwellen des Klangkörpers, der Ausdruck in den Stimmen von Selvik und Duettpartnerin Lindy-Fay Hella. Dank herausragendem Sound kommt all das zur Geltung. Man hört, dass jeder Ton, jeder Percussion-Schlag, jede Nuance im Mix abgewägt wurde.

Im Aufbau ähneln die Lieder modernem Post- und Artrock. Melodien garen minutenlang, bei sich dank variierender Instrumentierung laufend wandelnder Klangfarben. Einen verwandten Ansatz hört man auf Sigur Rós' "Odin's Raven Magic"; Wardruna agieren im Vergleich energischer, rhythmusbasierter. Insbesondere Pauken nehmen viel Raum ein. In "Skugge" liegen sie zunächst wie Drones unter einem tiefstimmigen Chor, erzeugen fast statische Ruhe. In der zweiten Songhälfte fallen die Schläge plötzlich schneller, dramatische Atemgeräusche kommen als zusätzliches Rhythmus-Element hinzu, die Atmosphäre wird zunehmend klaustrophobisch. Selvik wechselt die Tonlage, singt höher, verzweifelter, im Hintergrund knurrt jemand – dann ebbt der Song in geisterhaftem Rauschen langsam ab.

Auf "Kvitravn" haben Wardruna ihren Sound vorläufig perfektioniert. Das Album ist episch, aber nicht prätentiös, frei von Kitsch und hängt vor allem nicht in der Vergangenheit fest. Ohne moderne (Ton-)Technik könnten Wardruna nicht existieren – und sie wissen diesen Vorteil zu nutzen, ohne dabei ihren folkloristischen Kern aufzugeben. Das zeichnet das Projekt aus. Wikinger hätten zwar wohl all die Werkzeuge bauen – aus Ästen geformte Percussion, Neverlur, Talharpa, Trossinger Leier, Kraviklyra und wie sie alle heißen –, doch daraus niemals ein ebenso poetisches wie Blockbuster-taugliches Studioopus wie "Kvitravn" formen können. Einar Selvik schafft hier ein einerseits fundamental handgemachtes und in Traditionen verwurzeltes, andererseits in seiner Ausgestaltung aber eben auch betont gegenwärtiges Stück Musik.

Trackliste

  1. 1. Synkverv
  2. 2. Kvitravn
  3. 3. Skugge
  4. 4. Grá
  5. 5. Fylgjutal
  6. 6. Munin
  7. 7. Kvit Hjort
  8. 8. Viseveiding
  9. 9. Ni
  10. 10. Vindavlarljod
  11. 11. Andvevarljod

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